Kapitel 23

Rita H., die Drogentote und Freundin von René Burgstaller, war Elvis Hudlickas Schwester. Romana hat es ihm am Telefon gesagt. Aber was heißt das jetzt? Eigentlich gar nichts. Rita ist an einer Überdosis gestorben, René an Propofol, das auch als Droge missbraucht wird. Es sind einfach zu viele Tote, die irgendwie miteinander zu tun haben.

Max Rainer wäre immer noch Martins Lieblingstäter. Sein angebliches Alibi hat er ja nicht preisgegeben. Und Karin Kirchhofer? Die Anschuldigungen von Dr. Huber klingen zwar so, als wollte er in erster Linie seine Affäre ganz unelegant loswerden, aber das mit den Drogendeals könnte ja stimmen. Warum sollte sie dann nicht den René, der sie wegen ihrer Untreue erpresst hat …

Martin kommt zu dem Schluss, dass er unbedingt mit ihr sprechen muss. Gegen Mittag nach dem Fitnesstraining wird er noch einmal in der Apotheke vorbeischauen. Es ist zwar Samstag und er hat frei, aber ein Kriminalbeamter ist praktisch immer im Dienst. Besonders wenn die Apotheke, wo die Kirchhofer arbeitet, beim Fitnessstudio um die Ecke liegt. Seltsame Logik, doch Martin hat inzwischen gelernt, mit seinen Ungereimtheiten zu leben.

Auf der Mariahilfer Straße kämpft er sich von der ­U-Bahn-Station bis zur Neubaugasse durch die Menschenmassen. Der ganz normale Samstagvormittagswahnsinn! Er hat auch Franz, der heute endlich zu einer Schnupperstunde mit ins Fitnessstudio kommt, geraten, mit der U-Bahn zu fahren, da die Aussicht auf einen Parkplatz in dieser Gegend gleich null ist. Er selbst hätte zwar noch den Garagenplatz in Larissas Haus, will ihn aber nicht nutzen. Zu viel ­Larissa. Auch wenn sie ihm wegen ihrer Jobprobleme leidtut, so will er doch endlich den dicken Schlussstrich ziehen. Und sich bei Lily entschuldigen. Morgen oder übermorgen. Und vielleicht doch einen neuen Anfang wagen – mit ihr. Ohne Larissa. Aber andererseits auch ohne diesen Italiener. Bei dem Gedanken an den Kindsvater wirft er sich schnell einen Gummibären zur Beruhigung ein.

Er wird durch einen kuriosen Anblick aus seinen Gedanken gerissen. Ein massiver Mensch mit feuerrotem Helm rast auf einem Scooter durch die Menschenmenge. Passanten springen in Panik zur Seite. Man weiß ja heutzutage nie. Doch der Lenker des Zweirades entpuppt sich keineswegs als Terrorist, sondern als Franz Fassbender. Der bremst scharf ab, als er Martin sieht, springt vom Scooter und verliert beinahe das Gleichgewicht.

Martin fängt ihn im letzten Moment auf und gerät dabei selbst ins Wanken. »Ja, Franz, seit wann fahrst denn du mit einem Tretroller?«

Fassl strahlt voll Stolz und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Na ja, wegen deiner ständigen Predigten und weil ich endlich Chancen bei einer Frau haben möcht, hab ich beschlossen, ein neues Leben anzufangen. Mehr Bewegung im Alltag, und außerdem hab ich die Jause gestrichen.«

»Gratuliere, Franz! Ich versprech dir, ich helf dir dabei. So, und jetzt auf in die Folterkammer.«

Fassl schaut plötzlich ein bissel verunsichert drein. »Was meinst mit ›Folterkammer‹? Ist das wirklich so anstrengend? Genügt es nicht, wenn ich öfter mit dem Tretroller fahr? Sollen wir jetzt wirklich da rein?«

»Jetzt wirst mir nicht kneifen! Ist alles halb so schlimm, du fangst ja ganz langsam an. Und wenn du dann drin bist im Training, wirst richtig süchtig danach«, beruhigt ­Martin. »Apropos süchtig …« Auf dem Weg zum Fitnessstudio erzählt er Fassl von Rita Hudlicka und schlägt vor, dass sie nachher noch einmal bei der Apotheke nachfragen sollten, ob die was von Karin Kirchhofer gehört haben.

»Haben die dann nicht schon zu? Gehen wir doch gleich.«

Martin schätzt Fassls ungewohnten Arbeitseifer ganz richtig ein: als letzten möglichen Ausweg aus der Fitness-nummer. Doch darauf fällt er nicht rein. »Na, jetzt wird erst einmal brav trainiert! Die Apotheke hat bis zwölf geöffnet.«

Die weiten Hosenbeine der schwarz glänzenden Trainingshose, die Fassls massigen Körper bis zu den halben Oberschenkeln extrem locker umspielen, und der figurfeindliche Gummizug um die Taille erinnern Martin an die Turnhosen vergangener Tage. Er kennt Jugendfotos seines Vaters, auf denen dieser in solchen Outfits zu sehen ist. Dabei war sein Vater aber schlank und sportlich.

Die Größe von Fassls Turnhose lässt sich schwer schätzen: XXLarge? Martin versucht, nicht zu offensichtlich auf den cremeschnittengestählten Körper seines Kollegen zu starren. Mit aufmunternden Bemerkungen lenkt er ihn von den neugierigen Blicken der anderen im Umkleideraum ab.

Hat Martin erwartet, dass Franz wie ein tapsiger Bär in den Geräten hängen wird, so belehrt dieser ihn eines Besseren. Interessanterweise stellt er sich bei den Kraftgeräten nämlich recht geschickt an, und es scheint ihm auch Freude zu machen. Das ändert sich, als er nach einer halben Stunde zu den Ergo-Geräten wechselt. Mit Laufband, Fahrrad und Stepper kann Fassl wenig anfangen und ist schon nach fünf Minuten Aufwärmphase außer Atem.

Martin lässt Gnade walten. Für den Anfang war’s genug, und schließlich will er nicht, dass sein Freund und Kollege gleich vom nächsten Besuch im Studio abgeschreckt wird.

Nach anschließendem Saunabesuch und Vitamindrink gehen sie wie geplant zur Apotheke. Fassl schiebt seinen Scooter. Er wirkt beinah glücklich. Ein Anfang ist gemacht. Und der ist bekanntlich immer das Schwerste.

»So passen S’ doch auf, Se blader Lackl Se. Wann S’ kann Plotz hobn, dann lossen S’ mi halt vorher aussi.« Die Frau, mit der Fassl in der Tür zur Apotheke zusammengestoßen ist, kommt Martin vage bekannt vor. Er weiß aber im Moment nicht, wo er sie einordnen soll. Sie hat sich ausschließlich auf Franz konzentriert und ihn nicht einmal angesehen.

Eine Kollegin von Karin Kirchhofer gibt ihnen dann die abermals enttäuschende Auskunft: Frau Magister Kirchhofer habe sich weder gemeldet, noch sei sie zum Dienst erschienen. Man mache sich mittlerweile schon Sorgen. Und außerdem müsse sie jetzt deren Dienste übernehmen. Ob denn der Herr Abgeordnete eine Abgängigkeitsanzeige erstattet habe, will sie von den beiden Polizisten wissen. Martin antwortet nicht, weil er gebannt auf den Briefumschlag starrt, den die Apothekerin in der Hand hält. Darauf steht in ungelenker Handschrift: »Für die teufelsrote Frau Magister, mit den vilen Klunkern, die in der Etrichstraße war.«

Die Apothekerin sieht Martins Blick und erklärt: Die Frau, die gerade in der Tür mit Fassl zusammengestoßen sei, habe das abgegeben. »Da Frau Magister Kirchhofer hier die einzige Rothaarige ist und diese Frau unlängst bei ihr ein Rezept eingelöst hat, ist der Umschlag, denke ich, für sie.«

Mit gemurmelten Worten, aus denen vage »abgängig« und »ermitteln« herausklingt, nimmt Martin den Umschlag an sich. Fassl gibt ihr seine Karte mit der Telefonnummer, und die Apothekerin sieht ein wenig enttäuscht aus. Lieber hätte sie die von dem Dunkelhaarigen bekommen. Sie ist frisch geschieden und wieder auf der Pirsch. Und der eine tät ihr schon gefallen, der andere müsst noch was abnehmen, bis er in ihr Beuteschema fällt.

Im Gasthof zwei Gassen weiter, in dem sie ein leichtes Mittagessen einnehmen – Fassl schielt zwar auf das Wiener Schnitzel am Nebentisch, bestellt dann aber doch Fisch und Salat –, öffnen sie den Umschlag.

»Ich weis jetzt, wer sie sind, sie roter Teufel. Habe sie beim René gesehen vor seinem Tot. Schiken Sie 5000 Euro mit der Post an Postfach 2344 in 1110 Wien. Dann sag ich es nicht der Polizei.«

»Jetzt weiß ich, wer die war!«, ruft Martin laut aus. Sein Kollege sieht ihn nur fragend an, während sich einige Gäste nach ihm umdrehen.

Weiter im Flüsterton zu Fassl: »Na, die mit dir zusammengestoßen ist. Es ist die Frau aus dem Burgstaller-Haus, die mir von der toten Rita erzählt hat. So eine Art Hausmeisterin, jedenfalls die neugierigste Person im Gemeindebau. Und die will jetzt offenbar die Kirchhofer erpressen.«

»Ung’schickter geht’s ja wohl nimmer.« Franz zieht gerade eine Gräte aus dem Mund und bereut schon, dass er nicht das Schnitzel bestellt hat. »Aber das heißt, dass nicht nur der Adelsfuzzi, sondern auch die Kirchhofer beim René war, bevor die Rettung gerufen wurde. Die wird aber langsam echt verdächtig.«

»Bingo!« Martin schiebt den noch halb vollen Teller weg und will zahlen. Er muss so schnell wie möglich in die Etrichstraße.

»Moment, Moment, Martin. Wir haben’s doch nicht eilig«, beschwichtigt Fassl, während er sehnsüchtig einem Millirahmstrudel nachschaut, den die Kellnerin vorbeiträgt. »Du weißt ja gar nicht, ob die überhaupt nach Hause gefahren ist. Vermutlich stehen wir dann vor verschlossener Tür, während die Hausmeisterin in Erwartung des Geldsegens gemütlich auf der Mariahilfer Straße shoppt. Außerdem haben wir beide kein Auto dabei.« Mit einem Grinsen fügt er hinzu: »Könntest natürlich hinten auf meinen Tretroller aufsteigen.«

Martin sieht ein, dass Fassl recht hat. Es ist wohl besser, die Dame morgen aufzusuchen.

»Packen Sie mir bitte zwei Stück Millirahmstrudel ein zum Mitnehmen«, bittet Franz die Kellnerin.

»Für die Jause«, fügt er als Erklärung für Martin hinzu.

Der ist bass erstaunt. »Aber Franz, du hast doch grad vorhin gesagt, dass du die Jause ab sofort streichst!«

»Die Vormittagsjause, Martin, die streich ich. Aber am Nachmittag brauch ich schon was Süßes.«

»Ein Strudel«, sagt Martin. »Und den teilen wir uns. Und du rufst den Mann von der Kirchhofer an, diesen Abgeordneten. Fragst ihn, wo seine Frau geblieben ist und ob er sie nicht als vermisst melden will. Ich hab so ein blödes Gefühl …«

Ein halber Millirahmstrudel! Das sind drei Bissen, denkt Franz. Und sein Magen fühlt sich nach dem Fisch und dem Salat ganz leer an. Drei winzig kleine Petersilienkartoffeln haben das Kraut auch nicht fett gemacht. Ach warum muss man nur so viel leiden in der Welt? Franz bedauert sich selbst. Aber nur, bis sie vor der Tür sind, wo eine alte Frau auf dem Gehsteig sitzt und ihm bittend die Hände entgegenstreckt. Er kann es nicht – an Bettlern vorbeigehen. Franz bleibt stehen und drückt der Frau zwei Euro in die Hand. »Küss die Hand, gnädiger Herr«, sagt sie und schenkt ihm ein mütterliches Lächeln. Damit ist er wieder glücklich, der Franz.