3. Kapitel
April
»Was …?«
Sie hatte diese Frage nun schon um die dreihundert Mal ausgestoßen. Immer total fassungslos und immer, ohne den begonnenen Satz jemals zu beenden. Helen hatte dichtgehalten, als sie ihre Freundin nur wenige Minuten, nachdem sie das Appartement verlassen hatte, in ihren uralten Chevy bugsierte. »Ich hoffe, du hast in den letzten Tagen ausreichend geschlafen, denn jetzt geht’s rund.«
Okay, rund ging es nicht, denn in ihrem Überschwang hatte Helen die falsche Zeit für den Aufbruch ins Rundgehen ausgesucht. Nach nur wenigen Metern standen sie hoffnungslos im Stau. Rushhour. Natürlich. April war viel zu bestürzt, um sich darüber aufzuregen. Nach wie vor begriff sie nicht, was überhaupt geschehen war und schon gar nicht, was Helen vorhatte.
Doch wann immer sie ihre Freundin mit wachsender Vorsicht nach deren Pläne befragte, kassierte sie nur lautes Fluchen. Nicht auf sie als Person gemünzt, nein, Helens verbale Ausfälle galten dem Stau, der ihre Fahrt aus der riesigen Metropole auf drei Stunden ausdehnte.
»Da will man mal spontan sein, und was passiert? Alle anderen sind auf die gleiche dämliche Idee gekommen! Scheiß Massensuggestion!«, wetterte Helen, und April zog es vor, gar nichts mehr zu sagen. Ihr Kopf dröhnte so grausam, dass sie ihn am liebsten in Watte gepackt hätte. Sie vermutete die Mischung aus vielen Tränen, zu wenig Schlaf und Sekt plus Martini war daran schuld.
Gegen sechs Uhr hatten sie es glücklich auf den Highway geschafft und ab jetzt ging die Fahrt zügig voran. Mit einer Ausnahme, als die beiden an der ersten Raststätte haltmachten, um die Toiletten aufzusuchen und sich jeweils einen riesigen Becher Coffee-to-go zu kaufen. April hatte die Fragerei aufgegeben, denn das Ziel stand bald fest, die Hinweisschilder waren eindeutig. Sie sparte sich auch jegliche Proteste, weil sie wusste, dass diese ohnehin nur auf taube Ohren gestoßen wären. Außerdem war sie sich gar nicht sicher, dass Helens Einfall eine Schnapsidee war. Egal wie, dort, wohin sie gerade entführt wurde, konnte man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen untreuen und verlogenen Ex-Lover vergessen. Mittlerweile war sie von der ewigen Trauer so erschöpft, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als dass es endlich aufhörte. Die Mittel waren ihr egal. Sie überdachte kurz die wahllos in den Koffer gehäuften Klamotten und resümierte, dass es für eine Kneipe, eine Bar oder eine nicht allzu gehobene Spielhalle schon genügen würde. Auf dem Konto hatte sie ein paar Hundert Dollar angespart, also warum nicht? Auf Helens Geheiß hatte sie wahllos eine CD aus dem schier unüberschaubaren Bestand ihrer Freundin gewählt. Eine gute Entscheidung: ›Nickelback‹ sorgte dafür, dass sie mitsingen und lachen konnten. Nach einer Weile sah sie ihre Freundin an, die begegnete ihrem Blick und beide prusteten los.
»Warum nicht?«, sagte April und lachte schon wieder.
Das Ganze ließ sich perfekt an, was sollte sie sagen?
* *
*
Gegen halb elf an diesem Abend checkten sie in einem soliden Dreisternehotel ein. Das Doppelzimmer war erschwinglich und April hatte immer mehr den Eindruck, genau das Richtige getan zu haben. Wenig später waren sie in ihrem Zimmer. Es war klein, aber sauber, doch tatsächlich nur zum Schlafen vorgesehen. Denn zu zweit konnte man sich in dem 15 Quadratmeter großen Raum kaum drehen. Während Helen auf dem Bett lag und durch die Kanäle des kleinen Fernsehers zappte, stand April vor dem Spiegel und betrachtete erschüttert ihre dunklen Augenringe. Diese waren ihr vorher gar nicht aufgefallen. Verdammte Neonbeleuchtung in diesen Absteigen!
»Was machen wir jetzt? Zum Schlafen ist es definitiv zu früh«, rief Helen von ihrem Bett aus.
»Stimmt!«, gab April zu, die immer noch fassungslos ihr Äußeres begutachtete. Nein, das war wirklich kein Mann wert. Nicht mal Scott Healhy … oder gerade der nicht. Dieser verdammte Wichs… Bevor sie verbal entgleisen konnte – wenn auch nur in ihrem Kopf –, fuhr sie hastig fort. »Dann lass uns ausgehen. Wir müssen ja nicht unbedingt spielen, sondern können noch in eine Bar gehen, ich glaub, die haben hier keine Sperrstunde. Also nicht so früh wie woanders, auf jeden Fall. Oder was meinst du? Machen die überhaupt zu? Ich bin mir nicht …«
»Nein, sie machen nicht zu, Baby.« Helen war im Türrahmen erschienen und musterte sie mit diesem Blick, der April immer ganz kribbelig machte. Kündigte er doch prinzipiell einen Überfall an.
»Und ja, wir werden ausgehen, aber erst, nachdem wir eine gründliche Restauration an dir vorgenommen haben.«
Nein, April widersprach auch diesmal nicht. Aus Erfahrung wusste sie, dass dies ohnehin nichts gebracht hätte. Und außerdem war sie ganz froh darüber, dass ihre Freundin dem Dasein des Jammerlappens, den sie soeben im Spiegel gefunden hatte, ein Ende bereiten wollte.
Ja, es war eine verdammt gute Idee gewesen, nach Atlantic City zu fahren.