14. Kapitel
April
Selten zuvor hatte April derartige Schwierigkeiten, sich nach dem Weckerklingeln aus dem Bett zu quälen. Ihre Glieder schmerzten, als hätte sie einen Marathon hinter sich, und sobald ihr eingefallen war, dass dies ja durchaus zutraf, nur hatte der in der Horizontalen stattgefunden, stöhnte sie laut auf und schloss die Augen wieder, die sie soeben nach einem unruhigen Schlaf geöffnet hatte.
Eine volle Minute lang verharrte sie so, bis sie die Lider abermals öffnete und darunter sehr entschiedene, dunkle Augen offenbarte.
Das hörte jetzt auf!
Ein für alle Mal!
Sie benahm sich absolut kindisch!
Genau genommen hatte sie nämlich von Anfang an gewusst, dass er nur eine Episode sein würde. Kein Mann, der so aussah wie dieser Greg – oh, verdammt, nur wenn sie an den Namen dachte krampfte sich ihr Unterleib zusammen – würde sich für eine wie April interessieren. Nicht wirklich. Das
hatte sie sich bereits in Atlantic City vorgebetet und es hatte nichts von seiner Brisanz verloren. So war das nun mal. Sie war sehenden
Auges dort hineingeschlittert – okay, in den Sex, in die Hochzeit nicht. Aber all das war nun vorbei. Er hatte gesagt, er würde sich darum kümmern, sie nahm an, dies bedeutete, er wolle diesen Unfall annullieren lassen. Außerdem hatten sie keine Telefonnummern ausgetauscht, verdammt, sie kannte nicht mal seinen Nachnamen! Wie hätte sie sich denn bei ihm erkundigen sollen, selbst wenn sie gewollt hätte?
»Es ist vorbei«, verkündete sie streng ihrem Spiegelbild, als sie sich die Zähne putzte. »Hör endlich auf mit dem Scheiß!«
Das war der Grund, aus dem sie so dringend arbeiten gehen wollte. Sie hatte bei Scott nämlich einen großen Fehler begangen, den Helen ja auch erkannt hatte: Niemand vergaß etwas, wenn er alles so herrichtete, dass er permanent daran denken konnte. Sie brauchte Ablenkung, und wenn irgendwas die ultimative Ablenkung brachte, dann der Dienst als Krankenschwester einer Uniklinik auf der kardiologischen Station.
Sie sprang unter die Dusche, gab sich große Mühe, dabei besonders beschwingt zu agieren, und seifte sich ein, sobald sie vollständig nass war. Bloß unter der Dusche keinen Gedanken an Greg zulassen, die dann dazu führen würden, dass sie sich … NEIN!
»Es ist vorbei!«, betete sie sich vor, während sie das Duschbad abspülte, und noch einmal, als sie sich das Shampoo aus dem Haar wusch. In einem Tempo, das an eine Kurzstreckenläuferin erinnerte, stürmte sie kurz darauf in ihr Schlafzimmer, zerrte irgendwelche Klamotten hervor, die sie kein zweites Mal betrachtete, bevor sie diese überzog. Hierbei handelte es sich um irgendeine Jeans, irgendeinen BH – Sex war in absehbarer Zeit nicht geplant – und irgendein Sweatshirt. Es war egal, sie würde ohnehin ihre Schwesternkleidung tragen. Dann föhnte sie in einer Art manischem Anfall ihr
Haar innerhalb von zehn Minuten trocken, band es zu einem losen Knoten im Nacken – sie würde die Frisur in der Umkleide der Klinik ohnehin noch mal neu ordnen – und schlitterte als Nächstes in die Küche, wo sie sich einen Apfel nahm, bevor sie an der Tür in ihre Boots schlüpfte. Ja, sie musste sie schnüren, was ein wenig Aufwand erforderlich machte, doch das Heraussuchen anderer Schuhe war ihr zu riskant. Es hätte nämlich noch weitaus länger gedauert und sie musste endlich aus dieser verdammten Wohnung raus!
Wenig später stürzte sie die Treppen hinunter und auf der Straße, auf der um diese Uhrzeit nur sehr wenige Menschen unterwegs waren. Es war schon hell, doch auf diese gewisse, dämmrige Art, die im Frühling und Sommer nur dann existiert, wenn die Sonne sich beharrlich hinter dichten Wolken versteckt. April begrüßte das Wetter, denn es spiegelte genau ihre Stimmung wider. Wie ekelhaft unpassend wäre es gewesen, wenn jetzt die verdammte Sonne geschienen hätte.
An dem nächsten Kiosk machte sie Halt – so wie sie es immer tat, wenn sie Frühschicht hatte. Sie kaufte sich einen Latte Macchiato-to-go und erwiderte Paolos Grinsen nur halbherzig – das war der Kioskbesitzer, der sie schon seit drei gefühlten Ewigkeiten in sein Bett bekommen wollte. Jeder Frage nach ihrem Verbleib in den letzten Wochen begegnete sie mit einem vagen Lächeln und machte, sobald sie ihren Becher in der Hand hielt, dass sie wegkam.
Fuck, was hasste sie doch Verhöre!
Die Subway war gut gefüllt, doch sie konnte noch einen Sitzplatz ergattern. Abgesehen von den wie üblich müden Gesichtern, machte April auch jede Menge empörte Mienen aus. Schließlich war heute Samstag und jeder, der an diesem Tag arbeiten musste, fühlte sich noch einmal zusätzlich von der Gesellschaft gedisst, als er es üblicherweise schon tat. April nicht, sie konnte es überhaupt nicht erwarten, endlich in der Klinik anzukommen und loszulegen, denn ihre Gedanken fuhren schon wieder Achterbahn und das in die völlig unzulässige Richtung.
Verdammt, konnte das nicht schneller gehen?
Um sich abzulenken, las sie die Werbungen, die an den Wänden der Bahn angebracht worden waren. Jede zweite gehörte zu einem verdammten Brautausstatter. Was sollte das?
Angewidert verzog sie das Gesicht und verbrannte sich in einem Akt der Verzweiflung absichtlich die Zunge an ihrem Kaffee. Wenn nichts mehr half, wirkte Schmerz sogar verdammt ablenkend! Es tat so verteufelt weh, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Für den Rest der Fahrt war April damit beschäftigt, irgendwie ihre schmerzende Zunge zu befühlen und sich wegen ihrer Blödheit zu verwünschen. Also hatte das Ablenkungsmanöver perfekt geklappt.
Nach dem Aussteigen waren nur wenige Meter zu bewältigen, bevor sie vor dem riesigen Bau der Uniklinik anlangte. Wie auf der Flucht stürzte sie durch die Eingangshalle zu den Aufzügen. Auch diese wurden um diese Uhrzeit nur vereinzelt benutzt. Der Ansturm der Besucher würde erst nach dem Frühstück einsetzen. Ungestört erreichte sie die sechste Etage, auf der die beiden im Hause befindlichen kardiologischen Abteilungen untergebracht waren, und hier schaffte sie es tatsächlich ungesehen bis in die Umkleide, denn der Tresen war derzeit nicht besetzt.
Aufatmend schloss sie die Tür und dann ihre Augen.
So weit hat sie es geschafft. Jetzt hieß es tief durchzuatmen, noch mal Kraft sammeln und dann loszulegen.
Genau so!
* *
*
Das allgemeine ›Hallo!‹ ihrer Kollegen fiel erwartungsgemäß sehr flüchtig aus – bei diesem Job war tagsüber selten Zeit für Small Talk –, und dann warf April sich in die Arbeit, riss jede noch so geringe Aufgabe an sich, hetzte über Stunden die Flure auf und ab, und tat alles, um nicht zum Nachdenken zu kommen.
Es funktionierte!
Als sie fünf Stunden später das erste Mal zum Luftholen kam – da saß sie im Schwesternzimmer mit einer Tasse Kaffee in der Hand und führte Patientenblätter –, ging ihr auf, dass sie nicht nur nicht
an diesen Greg gedacht hatte, sondern sich tatsächlich auch noch wohl dabei fühlte. So wohl, wie seit Wochen nicht mehr.
»Arbeit, Baby«, murmelte sie vor sich hin, während sie ihre Kreuze bei den verabreichten Medikamenten machte und nebenher an ihrem Kaffee nippte. »Das ist die verdammte Antwort. Arbeit. Von wegen Urlaub, Atlantic City, das ist alles totale Scheiße. ARBEIT!«
»Führst du neuerdings Selbstgespräche?« Unbemerkt war Natascha eingetreten, und April sah wie vom Donner gerührt auf.
»Äh, manchmal … sorry. Müssen die Nachwirkungen vom Urlaub sein. Wenn du zu lange nichts zu tun hast, fängst du an, dich mit dir selbst zu unterhalten. Das ist ungefähr noch zwei Tage vom Kauf der ersten Katze entfernt. Ich habe noch rechtzeitig genug die Reißleine gezogen.«
Natascha, eine blonde, sehr hübsche Frau in den Dreißigern, der die Schwesternbekleidung nur allzu gut stand, weshalb sie auch so beliebt bei den männlichen Patienten war, lächelte. »Kein Problem, ich mache das auch manchmal. Da kann man gleich viel besser bestimmte Dinge reflektieren.«
»Reflektieren?«
»Ja!« Sie goss sich einen Kaffee ein. »Sie noch einmal überdenken, sich sehr genau zu Gemüte führen, versuchen, die Dinge objektiv zu betrachten, anstatt seine subjektiv gefasste Meinung weiter zu verfolgen.«
April verzog das Gesicht. »Ich weiß, was reflektieren ist, danke!«
Natascha war nicht beleidigt. »Umso besser.« Sie verstummte, wandte den Blick aus dem Fenster und genehmigte sich ihren Kaffee in kleinen Schlucken, während April sich beeilte, weiter ihre verdammten Akten zu führen. Sie verwünschte sich für ihre Unaufmerksamkeit, denn wenn sie eines absolut nicht gebrauchen konnte, dann Belehrungen. Außerdem war diese Natascha verheiratet, und das nicht
aus Versehen. Also wieso wollte ausgerechnet sie ihr Tipps geben?
Nur wenige Minuten später ging Natascha und April atmete auf, denn ihre Kollegin hatte das Gespräch nicht noch einmal gesucht. Entnervt dachte sie an den Nachmittag, an dem sie sich mit Helen treffen würde. Was bedeutete, das Verhör würde in die nächste Runde gehen. Sie verspürte nicht die geringste Lust darauf, sich von ihrer Freundin wieder mit diesem besonderen Blick betrachten zu lassen. Diese Mischung aus Gereiztheit und Verständnis mit einer Prise: ›Ich habs ja immer gewusst!‹
Als das Telefon klingelte, stand sie nur widerwillig auf. Es waren immer Angehörige, die entweder Fragen stellten, die man unmöglich beantworten konnte (»Was meinen Sie, wie
lange wird mein Mann noch bei Ihnen bleiben? Sollte ich die Hotelreservierung für den Urlaub lieber stornieren?«), oder einen als billige Bedienung missbrauchten. (»Huch, ich habe vergessen die Telefonkarte meiner Frau aufzuladen. Wären Sie so freundlich? Das Geld bekommen Sie natürlich zurück, sobald ich wieder da bin.«) Niemals bekam man das Geld zurück. NIEMALS!
»Kardiologische Station, Schwester April am Apparat.«
Am anderen Ende herrschte zunächst Stille, bevor ein Räuspern ertönte, das sofort in jede Faser ihres Körpers schoss. Das Blut verließ ihr Gesicht, ihr wurde schwindlig und sie presste die Finger fester um das Telefon.
April kannte dieses Räuspern nicht, sie hatte keine Ahnung, wer am anderen Ende war, wusste nur instinktiv, dass Ärger im Anmarsch war.
Großer Ärger!
»Mein Name ist Butch Hunter, ich will eine April Palmer sprechen. Ist sie in der Nähe?«
Es dauerte einen Moment, in dem April an dem dicken Kloß vorbei schlucken musste. »Am Apparat«, sagte sie dann tonlos. Das Herz pochte derart heftig in ihrer Brust, dass es fast wehtat.
»Oh, dann hatte ich mich nicht verhört. Äh, ich spreche also mit der Frau, die vor Kurzem in Atlantic City war?«
»Ja«, hauchte sie.
»Wie bitte?«
Nun war es an April, sich zu räuspern. In ihrem Magen tobte derweil ein wütendes Inferno, während ihr Herz um einen Eintrag im Guinnessbuch der Rekorde
für die meisten Schläge pro Sekunde!
kämpfte.
»Ja«, sagte sie dann. »Genau die bin ich.«
»Gut, dann wäre das schon einmal geklärt. Ich rufe im Auftrag meines Mandanten, Mr. Greg McCarthy an. Sie wissen, von wem ich spreche?«
»Ja«, stieß April hervor, die inzwischen die Augen geschlossen hatte.
»Hervorragend!«,
freute sich der Anwalt. »Dann kommen wir doch gleich zum Grund meines Anrufes. Mr. McCarthy wünscht ein persönliches Gespräch mit Ihnen. Anwesend werde ich als sein Rechtsvertreter sein, Sie sollten überlegen, ob Sie Ihren Anwalt auch mitbringen, aber ich versichere Ihnen, die Unterhaltung wird ganz zwanglos verlaufen. Das Ganze sollte so schnell wie möglich stattfinden. Wann hätten Sie Zeit?«
Er sprach so schnell, April hatte kaum Gelegenheit, ihm geistig zu folgen. »Was?«
»Wann hätten Sie Zeit für das Treffen?«,
wiederholte er, und eine Spur Ungeduld schwang in der Stimme mit. »Mr. McCarthy will so schnell wie möglich mit Ihnen sprechen.«
»Aber warum?«, wisperte April tonlos, die noch immer nicht einmal annähernd wusste, was dieser Fremde von ihr wollte.
»Das dürfte doch wohl klar sein, Miss.«
Ja, das dürfte es wohl. April hatte es nur irgendwie verdrängt. Möglicherweise musste auch sie etwas zu dieser Annullierung beitragen. Hätte sie besser nachgedacht, dann wäre ihr das bestimmt auch allein aufgegangen.
»Wie haben Sie mich gefunden?«
»Nun, Sie sind mit Mr. McCarthy verheiratet, richtig?«
Das beantwortete ihre Frage nicht, aber April interessierte sich auch nicht sonderlich für
die Wahrheit, denn im Grunde war es doch furchtbar egal, wie
es geschehen war. Gerade stürzte ihr Haus aus Ablenkungsmanövern und dem Mantra, dass nichts von alledem wirklich passiert war, in sich zusammen und sie wurde gezwungen, sich der Realität zu stellen.
»Also, Miss Palmer, wann haben Sie denn heute Feierabend?«
, erkundigte sich der Anwalt, als sie noch immer nichts sagte.
»Gegen drei«, erwiderte sie, bevor sie noch darüber nachdenken konnte.
»Dann schlage ich vor, ich schicke Ihnen einen Wagen, der sie um Punkt drei Uhr von der Klinik abholt.«
»Aber es ist Samstag!«
»Die Angelegenheit duldet keinen Aufschub.«
»Aber ich …« Wild raste ihr Blick im Raum umher. Das war nicht gut, das war es absolut nicht. »Ich bin mit meiner Freundin verabredet.«
»Oh, Miss St. James?«
»Was?«
Er beachtete ihren Ausruf nicht. »Das ließe sich doch bestimmt verschieben, nicht wahr? Der Wagen wird vor der Klinik auf Sie warten. Ich freue mich bereits darauf, Sie persönlich kennenzulernen. Auf Wiederhören.«
Es knackte in der Leitung, bevor sie auch nur noch einmal hatte Luft holen können. Fassungslos starrte April den Apparat an.
Was war das?