36. Kapitel
April
Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ergriff die Panik, die April so lange hatte zurückhalten müssen, von ihr Besitz. Sie sprang auf, ignorierte das Schwanken, denn sie war noch immer ziemlich betrunken, und stürzte zu dem Waschbecken über dem ein Spiegel hing.
»Fuck!«, wisperte sie, registrierte benommen, dass sie heiser war und versuchte irgendwie, ihr Äußeres herzurichten. Es gelang ihr nicht einmal leidlich, und so gab sie es schnell wieder auf. Stattdessen riss sie nun die Tür des Spiegelschrankes auf, fand glücklicherweise eine in der Originalverpackung eingeschweißte Zahnbürste sowie die erforderliche Paste und putzte sich im Eiltempo die Zähne.
Das Beben hatte sich verringert, weil sie dafür einfach keine Zeit hatte, aber es war ganz bestimmt nicht verschwunden. Was gleichfalls auf ihre Angst zutraf, die noch immer jede Faser ihres Körpers beherrschte.
Kaum konnte sie sicher sein, dass der widerliche saure Geschmack aus ihrem Mund verschwunden war, stürzte sie zur Tür und hinaus. Ebenso verfuhr sie mit der nächsten und stand zwei Herzschläge später in jenem Flur, durch den William sie vor gefühlten Ewigkeiten hierher geführt hatte.
Damals vor vielleicht einer halben Stunde, als sie noch bedeutend naiver gewesen war. Sie lauschte, Schweiß brach ihr auf der Stirn aus, ihre Beine wollten sich bewegen, doch sie zwang sich, stehenzubleiben. Allmählich machte sie in der Stille Geräusche aus. Schritte, die sich auf Steinfußboden bewegten, leise Rufe – von den Kellnern, vermutete sie. Das eine oder andere affektierte Lachen drang ebenfalls an ihr Ohr, genau wie die Klänge der Band – irgendein Senatra-Song wurde gerade gespielt. Und endlich hatte sie die Richtung auserkoren, in der all das seinen Ursprung hatte.
Nun setzten sich ihre Beine fast wie von selbst in Bewegung, wurden schneller, bis sie nicht mehr lief, sondern den Flur entlangrannte
, dann einen weiteren, der zu einer Seite offen war und hinab in das Foyer des riesigen Hauses zeigte. Oben war ein gläsernes Kuppeldach. Ja, hier protzte man und hatte keine Kosten gescheut, um zu demonstrieren, wie viele fucking Dollar man besaß. April rannte, so schnell es ihr Rock und die verdammten Schuhe zuließen, und als sie erkannte, dass Letztere sie extrem behinderten, zog sie die Pumps kurzerhand von ihren Füßen, nahm sie in die Hände und rannte weiter.
Ein Flur, noch einer, dann endlich kam eine Treppe in Sicht, welche sie in Windeseile hinabstürzte, wobei sie sich beinahe den Hals gebrochen hätte. Sie kam lebend unten an, blieb wie angewurzelt stehen, hielt die Luft an, um nicht mit ihrem lauten Keuchen die wirklich wichtigen Geräusche zu übertönen und stürzte kurz darauf weiter.
Wenig später durchquerte sie eine riesige Halle, in der ein meterlanges Büfett aufgebaut war, an dem sich etliche Leute gerade bedienten. April ignorierte sie, auch die erstaunten Blicke, als man den Wirbelwind aus einer jungen Frau an sich vorbeiziehen sah, deren
dunkles Haar sich teilweise aus dem Knoten auf dem Hinterkopf gelöst hatte. Sie trug ein exklusives Kleid, dessen Rock sie aber mit Händen, in denen sich jeweils ein Schuh befand, nach oben raffte, um mehr Beinfreiheit zu erlangen. Außerdem war sie barfuß. Die perlfarbenen Strümpfe an ihren Füßen waren längst zerrissen, etliche Laufmaschen arbeiteten sich bereits an ihren Beinen hoch. Ihr rasselnder Atem erfüllte die Luft, die Lippen waren geteilt, aber über allem standen die gehetzten dunklen Augen, die nichts zu sehen schienen, abgesehen von ihrem Fluchtweg.
An dem breiten Durchgang, der direkt auf die Festwiese führte, blieb sie stehen, ein Schuh fiel ihr aus der Hand und sie ließ ihn einfach liegen. Ihre Brust hob und senkte sich schnell in dem sichtbaren Versuch, mehr Luft in ihre Lungen zu bekommen, als diese derzeit aufnehmen konnten. Dann hatte sie entdeckt, wonach sie gesucht hatte. Auch den zweiten Schuh ließ sie polternd fallen und rannte dann weiter, nun hinaus auf die Wiese, während die Leute in ihrer Unterhaltung innehielten, sie musterten und die Köpfe tuschelnd zusammensteckten.