52. Kapitel
Greg
Greg war, als hätte man ihm einen harten Schlag in den Magen verpasst. »Und wo ist sie dann?«, knurrte er Helen an, die wie vom Donner gerührt im Wohnzimmer lag.
»Ich …« Sie ließ den Blick durch den schäbigen Raum gleiten und war mit drei Schritten an dem Schreibtisch, auf dem ein vorsintflutlicher Laptop stand.
Greg, der ihrem Blick gefolgt war, sah jetzt auch den kleinen Zettel, der auf der Tastatur stand.
Seine Finger zuckten, doch Helen hatte ihn schon in der Hand.
Helen,
ich weiß, dass du es nicht verstehst, aber ich habe keine Wahl.
Bin in ein paar Tagen zurück.
Hab dich lieb.
April.
Sie las es langsam, mehr für sich selbst und senkte den Arm, sobald sie fertig war. Ihr Gesicht war plötzlich grau.
»Und das bedeutet was?«, drängte Greg, dem gerade der zweite imaginäre Magenschlag verpasst worden war.
»Sie hat vor, es durchzuziehen«, sagte Helen tonlos und zuckte mit den Schultern. »Ich sagte dir, dass sie keine Zukunft für das Baby sieht.«
Greg schüttelte den Kopf. »WAS HEISST DAS?«, verlangte er knurrend zu wissen.
»Dass sie losgefahren ist, um es abtreiben zu lassen«, brüllte Helen. »Das heißt es, stell dich nicht dämlicher an als du bist! Was hast du erwartet? Ich habe zwei Tage lang versucht, ihr irgendwie klarzumachen, dass sie nicht allein ist, aber sie wollte nicht hören. Sie hat nicht mit mir gesprochen, ich weiß nicht, was wirklich in ihr vorgeht, verdammt! Gut möglich, dass ich einfach nicht der richtige
Gesprächspartner war!«
Greg nickte, die Lippen waren wie üblich in angespannten Situationen aufeinander gepresst. Sein Blick war auf den zerrissenen Scheck gerichtet, den er gerade im Papierkorb erspäht hatte. »Wohin ist sie gegangen?«
»Was weiß ich?« Helen hob die Arme und ließ sie kraftlos wieder fallen. »Sie könnte in die Klinik gegangen sein, in der sie mal gearbeitet hat. Ich könnte …« Fahrig stürzte sie zum Laptop und öffnete ihn. Sie brauchte einen Moment, um die Telefonnummer herauszubekommen und noch einmal zehn Minuten, um irgendwen in der verdammten Klinik zu finden, der so gnädig war, ihr zu sagen, dass weder eine Mrs. McCarthy noch eine Miss Palmer bei ihnen einen Termin hatte.
Schließlich warf sie angewidert das Handy auf den Tisch. »Nein, dahin geht sie schon mal nicht«, sagte sie mit hörbarer Wut. »Sie wird es gemieden haben, eben weil
man sie dort kennt. Das heißt, jede verdammte Abtreibungsklinik in einem Umkreis von einigen Hundert Meilen könnte es sein. Perfekt! Wo wollen wir anfangen? Ach ja, viel Zeit haben wir nicht, denn soweit ich weiß, beginnt der Klinikbetrieb um neun. Ab dann ist dein Baby Geschichte und …« Die Tränen traten so unerwartet in ihre Augen, dass selbst Greg verwundert war.
»Sie wird sich das niemals verzeihen!«, schluchzte sie und starrte Greg mit tränenüberströmten Augen an. »Sie wird sich niemals verzeihen, ihr Baby getötet zu haben. Du …« Heftig wischte sie sich die Nässe von den Wangen. »Du hast keine Ahnung, was du ihr angetan hast!«
»Bullshit!«, knurrte er. »Ich habe sie nicht gezw…«
»Greg?« Terence, der bisher hinter Helen gestanden hatte, mit den Händen auf ihren Schultern, machte einen Schritt auf ihn zu. »Halt einfach die Fresse«, empfahl er freundlich.
Greg gelang es abermals, seinen Zorn zu verdrängen. Momentan war er wirklich nicht wichtig. Er schob Terence beiseite, und setzte sich vor den Laptop. Einen Knopfdruck später erwachte der Bildschirm wieder zum Leben.
Es war so einfach: Im Browser suchte er die Chronik der aufgerufenen Seiten heraus. Gleich der erste Link – in Aprils Surfreihenfolge der letzte – war ein Volltreffer.
»Sie ist in Jersey«, sagte er und stand auf. »Wie spät ist …« Bevor er die Frage zu Ende stellen konnte, sah er auf die Computeruhr. Es war nach zwei Uhr in der Nacht. Er setzte sich und bemühte erneut die Chronik. »Sie hat sich nach den Abfahrtszeiten des Greyhounds und des Intercitys erkundigt«, sagte er langsam. »Der Intercity fährt früher, demnach ist sie wohl mit dem Zug gefahren.« Er sah auf. »Wir haben sie um drei Stunden verpasst. Aber sie hat sich auch ein Hotel angesehen und …« Abermals klickte er ein wenig umher. »… offenbar auch ein Zimmer gebucht. Ich vermute, sie wird erst später den Termin haben.«
»Du meinst den …«
Greg verzog den Mund. »Natürlich meine ich den Abtreibungstermin!« Er stand auf. »Ich werde nach Jersey fahren und sie abfangen. Entweder im Hotel oder eben in der Klinik. Wenn ihr irgendwas von ihr hört, lasst es mich …«
»Moment!«
Greg, der bereits die Tür geöffnet hatte, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Dann drehte er sich langsam um, sein Blick galt nur Terence. »Es ist allein meine Angelegenheit«, sagte er mit so viel Beherrschung, wie er derzeit aufbringen konnte. Denn die Uhr tickte und er hatte für derartige Diskussionen weder Zeit noch die erforderlichen Nerven.
»Das können wir abkürzen«, mischte sich diese vorlaute Helen ein. »Entweder, wir fahren alle, oder …«
Greg betrachtete sie mit spöttisch erhobenen Augenbrauen. »Oder was?«
Wäre die Situation eine andere gewesen, dann hätte Greg sich mittlerweile prächtig amüsiert, denn sie suchte tatsächlich nach einem Argument, das es ihr gestattet hätte, Greg’s weiteres Vorgehen von ihr abhängig zu machen. Selbstverständlich existierte dies nicht, weshalb sie nach einer Weile unwirsch die Hand schwang.
»Wir fahren einfach mit und Ende.«
Greg nickte. »In Ordnung.« Damit wandte er sich ab und ging die Treppe hinab. Er hatte keine Zeit, weiterhin ihrem Sinnlosgeschwafel zu lauschen. Außerdem war
ihm aufgegangen, dass es von Vorteil sein konnte, Helen mit dabeizuhaben. Nämlich dann, wenn April jedes Gespräch mit ihm zunächst ablehnte. Je länger sich das Gefühl, einen gigantischen Tritt in seinen Magen bekommen zu haben, in der Bauchgegend hielt, desto mehr wurden ihm zwei Dinge bewusst. Erstens, wenn er nicht schnell genug sein würde, dann würde sein Kind getötet werden. Und zweitens: Er wollte
nicht, dass sein Kind getötet wurde.
Eile war demnach geboten, aber keine Hast. Die Buchung des Hotelzimmers und die Tatsache, dass die Klinik mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Öffnungszeiten hatte, stimmten ihn halbwegs ruhig. Ruhig genug, um besonnen handeln zu können.
Gefühlte Ewigkeiten musste er an Terence’ Porsche warten, bis Helen und Terence endlich aus dem Haus traten. Helen und er maßen sich abschätzend, dann deutete Greg an sich hinab. »Du kannst mich gern töten, aber ich passe nicht hinten rein.« Ob sie wollte oder nicht, sie musste stöhnend nachgeben und so konnten sie nur dreißig Minuten, nachdem der Plan ins Auge gefasst worden war, endlich losfahren.
Inzwischen machte sich der erste helle Schimmer am Himmel bemerkbar, der auf das baldige Eintreffen des Morgens schließen ließ.
»Zu mir«, sagte Greg, sobald Terence den Motor gestartet hatte.
Entgeistert sah Terence ihn an. »War…«
»Au!«, jaulte Helen von hinten und Greg nickte, als wäre er bestätigt worden.
»Deshalb. Das Ding ist für nicht mehr als zwei Personen konzipiert, jedenfalls, wenn man realistisch ist. Also … Zu mir.«
Die Logik siegte, Terence lenkte den Porsche auf den Highway.
Eine Stunde später, inzwischen war der Morgen eingetroffen, saßen sie im SUV und konnten sich endlich auf den Weg nach New Jersey machen. Helen hatte davor noch zur Toilette gemusst und war dann auf die Idee gekommen, April ein paar Sachen mitzunehmen. Alle befanden sich noch in deren Schrank, wie Greg erst jetzt erfuhr. Sie hatte keines der neuen Stücke mitgenommen, sondern musste wohl in der abgerissenen Jeans und dem widerlichen Oberteil, nicht zu vergessen diesen heruntergekommenen Boots gegangen sein. Hätte er nur einmal den Mut aufgebracht, in den Raum zu gehen, nachdem sie fort war, dann hätte er ein weiteres Argument in einer langen Reihe entdeckt, an welchem sich festmachen ließ, dass sie nicht die berechnende Schlampe war, die er unbedingt in ihr hatte sehen wollen.
Schließlich hatte er Helen sein Okay gegeben, weil er sich eine April in diesen abgehalfterten Klamotten nicht einmal vorstellen
wollte. Und ganz bestimmt nicht wegen der Geschmacksverirrung, sondern weil dies ihrer
schlicht unwürdig war.
Vorteil des zeitraubenden Zwischenstopps in Green Velvet
war, dass er jetzt fahren konnte, was lange Diskussionen vermied. Allerdings benötigten sie von seinem Wohnviertel aus gut eine Dreiviertelstunde länger, um nach New Jersey zu gelangen. Und so trat er das Gaspedal durch, kaum dass sie endlich wieder den Highway befahren hatten.
Eine Stunde später konnte er nicht länger ignorieren, dass ihm vor Müdigkeit ständig die Augen zufielen. Terence’ Vorschlag, an statt seiner zu fahren, schlug er jedoch brüsk aus. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als an einer Raststätte haltzumachen und sich drei dreifache Espresso einzuhelfen. Inzwischen war es vollständig hell und die Sonne war am Horizont erschienen
.
Nach zwanzig Minuten stiegen sie wieder ein, da war es drei viertel sechs.
»Wir liegen gut in der Zeit«, sagte Greg, obwohl niemand etwas anderes behauptet hatte. »Diese Kliniken öffnen erst am späten Morgen. Ich schätze gegen neun.«
»Acht«, tönte Helen, die mit Terence hinten saß. »Die hier machen um acht auf. Hab’s gegoogelt.«
»Wie auch immer«, erwiderte Greg unwirsch. »Sie wird schon nicht gleich die Erste sein.«
Doch er trat das Gaspedal noch etwas weiter durch und betete, dass die State-Patrol nicht auf sie aufmerksam wurde. Das traf nicht ein, dafür mussten sie nach nicht einmal zwanzig Meilen stoppen, weil der Verkehr zum Erliegen gekommen war. Stau.
»Baustelle«, sagte Helen von hinten.
»Oder Unfall«, ergänzte Terence, während Greg die Hände um das Lenkrad klammerte.
Es war ein Unfall mit Totalsperrung des Highways. Diese Kunde erreichte sie nach einer Stunde, da war es um sieben und Greg wurde allmählich nervös. Sie hatten sich keine fünf Meter von der Stelle bewegt. Fragend sah er in den Rückspiegel.
Terence zuckte mit den Schultern. Ihm war auch keine Alternative eingefallen.
»Helen?«, erkundigte Greg sich.
Die sah von ihrem Handy auf. »Sie hat es ausgestellt.«
»Fuck!«, fluchte Greg und fühlte zum ersten Mal beginnende Panik. Bis zu diesem Moment hatte er alles unter mäßiger Kontrolle geglaubt und sich über Helen und Terence mehr geärgert, als dass er sich tatsächlich Sorgen darum gemacht hatte, vielleicht zu spät zu kommen. Bis nach New Jersey war es ein Katzensprung, sie konnten
rein theoretisch überhaupt nicht ins Hintertreffen geraten. Erst jetzt sah er sich mit der Möglichkeit konfrontiert, dass er seinen Fehler – inzwischen war er fast davon überzeugt, dass er
den Fehler begangen hatte – vielleicht nicht rechtzeitig revidieren könnte. Es war ein überraschend niederschmetternder Gedanke, der dazu führte, dass Greg, als er in den Rückspiegel sah, zu brüllen begann. »RETTUNGSGASSE IHR IDIOTEN! JETZT MACHT PLATZ, VERDAMMT NOCH MAL!«
Doch seine Wut half nicht viel, schon, weil niemand der anderen Fahrer ihn hören konnte. Es dauerte noch einmal gefühlte Ewigkeiten, bis der Abschleppwagen genügend Platz hatte, um an ihnen vorbei zur über eine Meile weit entfernten Unfallstelle zu fahren.
Greg sehnte sich nach einer Zigarette und Helen hatte es vollständig die Sprache verschlagen, was auf Terence bereits seit mehr als dreißig Minuten zutraf.
Eine weitere Stunde später, es war Punkt acht, sahen sie, wie die Leute, die zwischenzeitlich ihre Autos verlassen hatten, wieder einstiegen und Greg startete den Motor. Sie benötigten dennoch weitere vierzig Minuten, bis sie das Nadelöhr – nur eine Spur war geöffnet worden – passiert hatten.
Mittlerweile heulte Helen ununterbrochen und Terence versuchte nicht einmal mehr, sie zu trösten. Sie hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen, die Finger tief in die Wangen vergraben, und starrte unter Tränen wie hypnotisiert nach vorn.
Nun war es kurz vor neun Uhr.
Um zehn nach neun überfuhren sie die Stategrenze.
›Welcome to New Jerse
y
– The Garden State –
Es waren noch vierzig Meilen bis Trenton
, der Stadt, in der die Klinik ihre Höllentore geöffnet hatte. Sie wurden nicht noch einmal aufgehalten, doch als sie Stadtgrenze passierten, meldete sich Greg erneut.
»Klinik oder Hotel. Klinik oder Hotel, jetzt sagt schon!« Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet.
»Klinik!«
»Hotel!«
Beides war zeitgleich ausgesprochen worden. Ersteres stammte von Terence, der zweite Vorschlag von Helen. Greg entschied nach seinem Gefühl und lenkte den SUV in Richtung Klinik …
… nur um prompt in den nächsten Stau zu geraten, sie hatten die Rushhour erwischt.
»NEIN!«, brüllte Helen heulend, Terence und Greg sagten nichts mehr. Greg suchte auch nicht länger nach einem Ausweg, den es ohnehin nicht gab, er konzentrierte sich darauf, nichts zu denken und derweil die verdammte Ampel anzuflehen, einfach schneller zu schalten.
Inzwischen war es drei viertel zehn.
»Wir kommen zu spät«, schluchzte Helen von hinten.
»Kommen wir nicht«, stieß Greg durch seine zusammengepressten Zähne hervor und wiederholte den Schwur vorsichtshalber gleich noch einmal. »Das werden wir nicht.«
Um zehn Minuten nach zehn fuhren sie auf den Parkplatz der Klinik. Sobald es möglich war, ohne den Verkehr zu sehr zu behindern, hielt Greg und stieg aus. »Sucht eine Parklücke und kommt nach!«, donnerte er und stürmte davon. Als er die circa dreißig Menschen vor dem Klinikeingang sah, die allesamt mit Transparenten bewaffnet waren und laut skandierten »MÖRDER, MÖRDER!« ballte er die Fäuste. Wenn jemand so dämlich sein würde, ihn aufhalten zu wollen, würde er ihn töten. Davon war er überzeugt.
Glücklicherweise stellte sich ihm niemand in den Weg, und so blieb das Massaker aus. Ein untersetzter Mann mittleren Alters machte ihm sogar Platz. Vermutlich sah Greg so mörderisch aus, wie er sich fühlte.
Angenehme Kühle empfing ihn in der dezent eingerichteten Lobby. Greg rannte zum Tresen, hinter dem eine junge Schwester Dienst tat. »Ich suche meine Frau!«
Sie sah auf. »Das tun viele. Wir geben grundsätzlich keine Auskünfte über unsere Patientinnen.«
»Hören Sie!« Das war etwas zu laut, die wenigen Menschen, die sich in der Lobby aufhielten – es handelte sich ausnahmslos um gar nicht glücklich aussehende Frauen – sahen zu ihm. Ihre Gesichter drückten allesamt Feindseligkeit aus, und Greg begriff, dass er hier nicht weiterkommen würde, ohne die ganz schweren Geschütze aufzufahren. Er war ein Mann und damit – so wirkte es wenigstens auf ihn – der Feind.
Er beugte sich weit zu dem Mädchen vor, das ihn argwöhnisch betrachtete, eine Hand hatte sich unter den Tresen gestohlen, höchstwahrscheinlich war das der Knopf, der ihre
schweren Geschütze alarmierte.
»Entweder, Sie geben mir jetzt diese kleine Auskunft, oder ich werde dafür sorgen, dass ihr den heutigen Tag bis zur Schließung dieses Kastens als den schwärzesten seit Bestehen einstufen werdet. Ich werde so viele Demonstranten mobilisieren, dass die selbst eure OPs
stürmen, ich werde euch mit Klagen zuschütten, dass ihr nicht mehr zum Luftholen kommt und innerhalb von zwei Monaten allein an den Anwaltskosten krepiert sein werdet. Und glaub mir, Baby, ich habe sowohl das Geld als auch die Zeit, um genau das in die Tat umzusetzen. Ich will nur zu meiner Frau. Weder will ich irgendwen sonst belästigen noch meine Frau bedrohen oder sie zu irgendeiner Handlung zwingen. Ich will nur mit ihr sprechen und sie womöglich vor einem großen Fehler bewahren. Seid ihr so verblendet, dass ihr den Kindern nicht einmal mehr eine Chance einräumt, wenn wirklich eine besteht?«
Sie musterte ihn lange, die Hand verharrte unter dem Tresen, und Greg dachte schon, er wäre zu weit gegangen. Doch irgendetwas in seinem Gesicht musste sie überzeugt haben. Er war fast sicher, dass es nicht die Drohung gewesen war.
»Wie heißt denn Ihre … Frau?«
»April McCarthy.«
Sie sah in ihrem Computer nach und schüttelte den Kopf. Greg’s Hoffnung sank. »Aber ich habe eine April …«
»… Palmer?«, fragte er mit neuem Mut.
Sie sah auf und nickte. »Nur leider kommen Sie zu spät, sie wird gerade in den OP …«
»Welches Stockwerk?«
»Hören Sie, das geht …«
Greg packte ihre Hand. »WELCHES. ABGEFUCKTE. STOCKWERK?«
»Drei«, wisperte sie erschrocken.
»Danke!«, knurrte er und rannte los.
Die Aufzüge waren ihm zu unzuverlässig, er stürzte ins Treppenhaus und die Stufen hinauf, immer zwei auf einmal nehmend. Das Herz hämmerte in seiner Brust und der Puls jagte durch seinen Körper. Erstes Stockwerk – Greg blieb kurz stehen, um Luft zu holen, bevor er weiterrannte. Das zweite folgte und ihm ging langsam die Puste aus, denn nach jedem echten
Stockwerk folgte noch ein Zwischenteil, von dem nur eine Verwaltungstür abging. Endlich hatte er die dritte Etage erreicht und riss die Tür auf. Kurz darauf stand er in einem dunklen Flur, dessen Linoleum im fahlen Licht einer Neonröhre glänzte. Er sah sich um und rannte weiter. Wo zum Teufel sollte er hier den OP finden?
Die ihm entgegenkommende Schwester war wie ein Bote des Himmels. An ihrem Arm hielt er sie auf. »OP drei?«
Sie war so verblüfft, dass sie sogar antworte. »Den Gang entlang und dann rechts.«
»Danke.«
Greg rannte bereits weiter, als hinter ihm ein »Äh … Wohin wollen Sie denn?« ertönte, doch er scherte sich nicht darum. Für Erklärungen fehlte ihm schlicht und ergreifend die Zeit. Sobald er rechts um die Ecke gerannt war, wusste er, dass er richtig war. Vor ihm befand sich eine große Doppeltür, deren Scheiben aus Milchglas waren.
OPERATIONSSAAL DREI
stand auf dem Glas. Greg sah den Schalter, der sie automatisch öffnete, und hämmerte auf ihn ein. Ahnend, dass ihm nicht viel Zeit bleiben würde. Die Flügel glitten gemächlich auseinander und er huschte hindurch, kaum dass genügend Raum vorhanden war, nur, um sich im nächsten Flur wiederzufinden. Sich das Haar raufend starrte er gleich sechs Türen an, die alle die richtigen sein konnten oder eben auch die falschen. Er atmete schwer, seine
Lungen schmerzten und er wusste, dass er keine Chance haben würde, wenn er nicht wenigstens irgendetwas tat
. Gerade wollte er wahllos die erste sich bietende Tür aufreißen, als sich Stimmen von zwei Frauen und – er schöpfte neue Hoffnung – einem Mann näherten. Er lief ihnen sogar entgegen, ihm war scheißegal, wie sie reagieren würden, denn er war fest entschlossen, sich von nichts und niemandem abwimmeln zu lassen.
»Ich suche meine Frau«, keuchte er und wischte sich mit dem Arm über die schweißnasse Stirn. »Sie soll gerade in den OP geschoben werden.«
Die Schwestern setzten den üblichen feindseligen Blick auf, aber der Mann, ein älterer Arzt, dem der Mundschutz unter dem Kinn hing, war etwas kommunikativer.
»Warum kann das nicht bis nach der OP warten – was immer Sie auch wollen?« Als er Greg’s bedeutsamen Blick sah, seufzte er. »Ich hasse solche Dramen«, murmelte er. »Da sollte man meinen, man würde sich vorher eingehend mit dem Für und Wider beschäftigen, und nicht erst, wenn das Kind schon fast in den Brunnen gefallen ist.« Er sah auf. »Sie sagen, die Dame ist bereits im OP? Dann kann ich nichts mehr …«
Laut unterbrach Greg ihn. »Es ist nicht so, wie Sie glauben! Sie will die Abtreibung, weil sie meint, ich lehne das Baby ab …«
Das entsetzte Keuchen der Schwestern mischte sich mit Greg’s Verblüffung, weil er gerade im Begriff war, diesen drei Fremden seine privatesten Angelegenheiten auseinanderzunehmen. Er. Ein McCarthy. Er, dem seit er denken konnte, eingetrichtert worden war, wie er sich zu verhalten, was er wann zu sagen und dass er um Gottes willen keine Skandale zu provozieren hatte. Aber es war ihm egal. Alles war ihm egal, ganz ehrlich, er wäre auch auf die Knie gegangen, wenn es hilfreich gewesen wäre.
»Es geht also nicht darum, sie umzustimmen, sondern nur, sie vor einem entsetzlichen Fehler zu bewahren, den sie aus Unwissenheit begehen will. Bitte!«
Der Arzt sah eine der Schwestern an. »Schauen Sie nach, ob eine … Wie heißt Ihre Frau?«
»Palmer! April Palmer«, stieß Greg hervor.
»Schauen Sie nach, ob Mrs. Palmer noch in der Vorbereitung ist.«
Die Schwester nickte und verschwand. »Mehr kann ich nicht für Sie tun«, sagte der Arzt. »Wenn die OP bereits begonnen hat, ist keine Unterbrechung mehr möglich.«
Ach nein? Wer sagte das?
Wortlos, die Lippen zu einem Strich zusammengepresst, wandte Greg sich ab. Die Aussage des Arztes war zu wenig und absolut unbefriedigend. Er
würde es auch noch aufhalten, wenn die Arschlöcher bereits das Skalpell gezückt hatten. Solange noch die geringste Chance bestand, sein Kind vor der Hinrichtung zu retten, würde er sie nutzen. Geht nicht, gab es schlicht nicht. Nicht für Greg. Hier stand nicht mehr und nicht weniger als das Leben seines Kindes auf dem Spiel, verdammter Fuck! Vor seinem geistigen Auge sah er jede Menge Blut, einen aufgefetzten Bauch und ein winziges Baby, dass rüde aus dem Uterus seiner Frau gezerrt worden war.
Er konnte, er durfte
das nicht zulassen!
Bevor der alternde Doktor sich auch nur in Bewegung setzen konnte, war Greg der Schwester bereits nachgehetzt und durch eine der verdammten Türen in einen hellen Raum gelangt, in dem drei Betten mit drei Frauen darin standen. Hektisch glitt sein Blick von einer zur anderen, aber keine war April.
»Fuck!«, knurrt er, als die Schwester sich zu ihm umwandte, sie
schien nicht einmal überrascht, dass er ihr gefolgt war.
»Sie ist leider schon …«
»Wo ist der verdammte OP?«, knurrte Greg, die Panik ließ seine Stimme fast versagen.
Sie deutete zu einer breiten, weißen Tür, die von diesem Raum abging. »Aber Sie können nicht …«
Doch Greg war schon dorthin gestürzt und hatte sie aufgerissen.
Drei grüne, vermummte Menschen, die wie eine Mischung aus Aliens und durchgeknallten Doktor Frankensteins aussahen, befanden sich in dem grell erleuchteten Raum. Einer stand am Kopfende über eine Frau gebeugt, der er gerade eine durchsichtige Maske überstülpen wollte. Ihre Beine waren gespreizt, die Füße befanden sich in den Steigbügeln eines typischen Gynäkologenstuhls. Ein grünes Tuch war über ihren Unterleib gedeckt, eine Schwester sortierte die Instrumente, eine Ärztin setzte sich gerade auf einen Drehstuhl, der direkt zwischen den Beinen der Patientin stand. Und alle erstarrten in der Bewegung, als Greg brüllte. So laut, dass die Wände zu erzittern schienen.
»WAGT ES NICHT! KOMMANDO ZURÜCK! DIESE ABTREIBUNG FÄLLT AUS!«
Er trat näher, bedachte alle drei mit einem Blick, der ihnen den nahenden Tod versprach, wenn sie auch nur einen Handschlag weiter in Richtung Tötung seines Kindes unternahmen, und erst dann sah er zu der Frau, die in seinen Augen noch immer ein junges Mädchen war. Denn sie war einfach nicht … Frau
genug, um diese Bezeichnung zu verdienen.
Sie war zu sehr April.
Als sie ihn erkannte, wurden die bleichen Lippen schlagartig schneeweiß.
»Was …?«, wisperte sie, es war kaum hörbar.
Bevor Greg irgendetwas sagen oder auch nur zu ihr treten konnte, spürte er eine Hand um seinen Arm und erblickte den alternden Doktor neben sich, der ihn doch endlich eingeholt hatte. »Sie können sich beruhigen, hier findet in den nächsten Minuten ganz bestimmt keine Operation statt. Sie haben mit Ihrem Eintreten den OP unsteril gemacht, gratuliere.« Er sagte es ganz ohne Vorwurf in der Stimme, wirkte sogar fast heiter. »Also wie wäre es, wenn Sie jetzt hinausgehen, wir bringen Ihre …«
»Frau!«, knurrte Greg.
Der Doktor grinste. »… Ihre Frau in den Aufwachraum, und dort können Sie sich in Ruhe unterhalten. Er ist doch derzeit leer?« Die Frage war an eine der anwesenden Schwestern gerichtet, inzwischen waren auch die beiden vom Flur eingetreten. Eine nickte. »Miss Johnes ist schon aufgewacht, momentan ist er frei.«
»Dann machen wir das doch einfach so«, sagte der Arzt gutmütig, doch sein fester Griff war unmissverständlich und garantiert nicht halbherzig. Greg ließ sich abführen, er konnte nichts mehr sagen, Aprils Anblick hatte ihn seiner Stimme beraubt. Sie sah so … so … klein, verletzlich und darüber hinaus so … verlassen aus, dass er nicht wagte, noch einmal zu ihr zu schauen. Und sie hätte es wirklich getan. Sie hätte …
»Setzen Sie sich dort hin!«, sagte der Arzt und nickte zu einem Stuhl, der wohl tatsächlich für Besucher vorgesehen war. »Sie kommt gleich.«
»Warum dauert das denn so …« Doch der Arzt war schon gegangen, weshalb Greg sich in einem Raum voller Armaturen an der Wand wiederfand, in dem es nichts gab, schon gar keine Zigaretten oder einen Aschenbecher.
Am Ende hatte er sich doch noch abwimmeln lassen.
* *
*
Fünf Minuten musste er warten und war bereits wieder kurz davor, erneut auf eigene Faust zu handeln, denn offenbar kam man in diesem Kasten sonst nicht weiter, da ging die Tür auf und April trat ein. Nicht in einem Bett, sondern in einem Bademantel und mit Schlappen an den Füßen. Er sah die eingefallenen, fast kalkweißen Wangen, die blassrosa Lippen und gleichzeitig, dass sie nicht geweint hatte. Wie sie dann aussah, war ihm sehr gut bekannt. Er hatte damit gerechnet, dass sie im Bett liegen würde, in sich gekehrt, krank, hilfebedürftig und war deshalb mit der aktuellen Situation total überfordert. Es gab nämlich keine Barriere, die ihn davon hätte abhalten können, zu ihr zu gehen. Nichts, was ihn stoppen konnte. Nur wusste Greg absolut nicht, was er sagen oder tun sollte, und April – diese neue, unbekannte, ernste, sehr erwachsen wirkende April – machte nicht die geringsten Anstalten, ihm zu helfen. Sie war nur wenige Schritte vor der Tür stehen geblieben und betrachtete ihn abwartend – nicht erwartungsvoll. In diesem Moment verstand Greg, dass dies zwei verwandte Begriffe mit gänzlich unterschiedlicher Bedeutung waren.
Die Minuten strichen dahin, und Greg wusste, dass er jetzt
etwas sagen musste, wenn er sie nicht verlieren wollte – oder besser, nicht noch mehr.
Er räusperte sich. »Ich, ich bin froh, noch rechtzeitig gekommen zu sein.«
Sie neigte den Kopf zur Seite, schob ihre Hände in die Taschen ihres Bademantels und runzelte die Stirn. »Weil?«
Ihre Stimme zu hören traf ihn wie ein Blitz, der sich sofort in seinem Körper ausbreitete. Er musste sich bemühen, um keine unbedachte Bemerkung von sich zu geben, denn diesmal hatte sie nicht gehaucht, sie klang auch nicht brüchig, sondern relativ klar, wenn auch etwas schleppend. »Weil du das Baby meinetwegen nicht töten darfst, April. Nur um zu beweisen, dass ich mit meinen Anschuldigungen falsch lag. Das ist einfach kein akzeptabler Grund!«
»Ach ist das so?«, erwiderte sie. Er sah, dass sie dunkle Ringe unter den Augen hatte. »Bist du jetzt von meiner Unschuld überzeugt, glaubst du mir tatsächlich?« Ihre Mundwinkel zuckten. »Dann gebe ich dir eine kleine Denksportaufgabe, Greg. Die wird dich bestimmt wieder in Zweifel über meine Integrität stürzen. Was, wenn ich nach gescheitertem Experiment beschlossen habe, das Baby abtreiben zu lassen, weil es seinen Zweck, nämlich auf die ganz fiese Tour an noch mehr Geld von dir zu kommen, nicht erfüllt hat? Sind wir mal ehrlich, 50 000 Dollar sind sehr viel weniger als sechs Millionen. Und wenn die Dinge günstig gelaufen wären, hätte ich für das Kleine mindestens noch mal das Doppelte rausgeschlagen. Tja …« Sie zuckte mit den Schultern. »Hat nicht funktion…«
Weiter kam sie nicht, denn auf einem Mal schwankte sie bedrohlich, sie legte eine Hand auf die Stirn und drohte tatsächlich zu Boden zu gehen. Greg stürzte zu ihr und fing sie auf. Schlaff hing sie in seinen Armen und betrachtete ihn blinzelnd.
»Was ist los, Baby?«, fragte er panisch. »Was … Haben die Idioten irgendwas …«
April räusperte sich. »Das muss die Wirkung von dem Beruhigungsmittel sein«, murmelte sie. »Das kriegst du vor der OP, damit du nicht so aufgeregt bist.«
»Klar, oder vielleicht noch mal drüber nachdenkst, was du vorhast«, fügte er grimmig an.
Sie seufzte. »Sie tun nichts Schlechtes, Greg. Mach sie nicht verantwortlich für die falschen Entscheidungen anderer, die manchmal eben auch richtig sind. Sie sorgen nur dafür, dass es ordentlich gemacht wird und die Frau nicht in Gefahr
ist.«
»Ist mir fuckegal«, knurrte er. Dann hob er sie in seine Arme und trug sie zu dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte. Er sorgte dafür, dass sie es auf seinem Schoß bequem hatte und registrierte dankbar, dass sie ihre Arme um seinen Hals gelegt hatte. Ihr Blick lag ausschließlich auf seinem Gesicht. Abwartend … nicht
erwartungsvoll.
»April …« Er sah zu Boden, nutzte diese letzte Zuflucht, um sich irgendwie zu sammeln und ging leer aus. Es gab keine Vorbereitung auf das, was jetzt folgen würde, er musste den Blindflug wagen. Und so sah er wieder auf, direkt in ihre dunklen, leicht benebelten, aber so warmen Augen. Es war, als hätte es dieses Anblicks bedurft, um seine Zunge zu lösen. Sein Blick tastete sich über ihr Gesicht, und er genoss die von ihr ausgehende Wärme. Tief seufzend fuhr Greg mit einem Zeigefinger sanft über die Stirn und schob eine Haarsträhne zurück. Als wäre ein Schalter umgelegt worden, sprudelten die Worte mit einem Mal nur so aus ihm heraus:
»Ich war so ein Idiot, du hast keine Ahnung wie sehr ich bereue, was ich zu dir sagte. Ich sah nur diesen Schwangerschaftstest, sah mich am Ende doch in die Falle gegangen und drehte durch. Ich schwöre, hätte ich nur ein paar Stunden Zeit gehabt, um in Ruhe über alles nachdenken zu können, um zu begreifen
, was das bedeutet und …« Mit der Hand, deren Arm nicht um sie geschlungen war, fuhr er sich verzweifelt durch das Haar. »… und zu begreifen, dass ich die Vorstellung, mit dir ein Kind zu haben, liebe
, es wäre niemals so weit gekommen. Im Nachhinein würde ich mir eher die Zunge abbeißen, als es noch einmal zu sagen. Aber ich kann es nicht ungeschehen machen.« Er räusperte sich. »Nicht nur die Vorstellung liebe ich, sondern auch dich. April, verdammt, ich liebe dich wirklich! Ich will nicht mehr ohne dich leben. Ich kann
es gar nicht, ich glaube, ich bin von der Beziehungsunfähigkeit nonstop in eine Abhängigkeit gerauscht. Von dir. Diese drei Tage, in denen du nicht da warst, waren für mich die Hölle. Ich will das nie wieder durchmachen müssen. Fuck auf den Deal, der war doch schon lange nicht mehr aktuell. Nicht wirklich. Ich habe bloß nicht zugelassen, darüber nachzudenken.«
Aufmerksam betrachtete er ihr Gesicht, die Augen waren nach wie vor warm, doch die Zweifel aus ihnen nicht verschwunden. Allerdings strichen ihre Finger jetzt in seinem Nacken auf und ab. Bis zum Haaransatz und wieder zurück. Ein gutes Zeichen, er musste nur dranbleiben. Also ließ er die Worte weiter hervorsprudeln. »Du hattest recht, wir sind
gemeinsam etwas. Und ich glaube auch zu wissen, was das ist.« Er grinste, wagte sich weiter vor und küsste ihre Nasenspitze – sie wich nicht zurück. »Wir sind Eltern. Klingt seltsam, ist es auch, aber wir werden echte Eltern. Wir werden eine Tochter haben. Ist das nicht irre?«
»Woher weißt du, dass es ein Mädchen wird?«, erkundigte sie sich mit gerunzelter Stirn.
Greg schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Fuck! Er hatte es nicht verdient, oh, das wusste er sehr genau. Aber verdammt, er schwor, noch nie so selig gewesen zu sein, wie in diesem Moment als klar war, dass sie ihm vergeben würde. Vielleicht nicht sofort, aber er war bereit, sich ins Zeug zu legen und all die Fehler, die er begangen hatte, wiedergutzumachen. Doch sie hätte niemals diese Frage gestellt, wenn sie nicht bereit gewesen wäre, einen Schritt auf ihn zuzugehen.
Er benahm sich wie ein gottverdammter schwanzloser Idiot – das war ihm nur allzu schmerzlich bewusst. Aber es war nun mal eine Tatsache, dass es ihm egal war. Wie schon vor dem verdammten Klinikpersonal wäre er auch vor April auf den Knien gerutscht, wenn es erforderlich gewesen wäre. Er hatte sein Vorgehen vorher nicht durchdacht, war sich
nicht sicher gewesen, was er überhaupt tun wollte. Um ehrlich zu sein, hatte Greg keinen Schimmer gehabt, welche Emotionen ihn heimsuchen würden, wenn er ihr gegenüberstehen würde. Wer auch immer meinte, so etwas im Voraus planen zu können, der irrte. Jetzt war er schlauer, er wusste, dass er so ungefähr alles tun würde, um sie bei sich zu behalten. So, wie er zu ungefähr allem bereit gewesen war, um sein Kind zu retten.
Das war eine nennbare Größe mit der er dealen – nein, nicht
dealen – mit der er umgehen
konnte. Darauf konnte er sich einstellen und verdammter Fuck, es störte ihn nicht mal. Er wollte nur hier raus und mit all dem neuen Wissen einen Neustart mit April wagen.
Und diesmal einen echten. Einen als Familie.
Als er sie ansah, hatte sie wieder den Kopf zur Seite gelegt und musterte ihn forschend. Noch immer strichen ihre warmen, zärtlichen Finger über seinen Nacken. »Ich liebe dich auch«, sagte sie leise. »Schon sehr lange, ich glaube, seit dem Moment, als wir uns das erste Mal sahen. Klingt das zu kitschig?«
Er schüttelte den Kopf, obwohl es das durchaus tat und er nicht daran glaubte. Aber es war scheißegal, sollte sie
es glauben, er konnte mit Sicherheit damit leben.
»Ich … hatte das nicht geplant. Das mit dem Baby, ich …«
Eilig verschloss er mit einem Finger ihre Lippen, die noch immer viel zu farblos waren. Was hatten diese Idioten ihr denn gegeben, verdammt? »Das haben wir schon geklärt, Baby«, sagte er leise.
»Nein, nicht ganz«, wisperte sie. »Du sollst mich verstehen, begreifen, warum ich hier bin … Okay?«
Wieder nickte er, griff sie etwas fester und zwang sie, ihren Kopf an seine Schulter zu legen. Dabei fiel sein Blick auf die Tür, und er unterdrückte ein Stöhnen, weil ihm erst jetzt auffiel, dass Terence und Helen in der Tür standen. Beide wirkten erhitzt und außer Atem, aber es gelang ihnen fast lautlos zu atmen. Er wollte sie erst hinausjagen, doch das hätte die Situation nachhaltig zerstört, April vielleicht vom Reden abgehalten, und er fühlte, dass es verdammt wichtig war, was sie zu sagen hatte. Wichtig für alles, was dem folgen würde. Und wenn überhaupt jemand jede noch so kleine Intimität und Einzelheit ihrer leicht gestörten Beziehung kannte, dann waren es diese beiden Schwachköpfe, die jetzt so taten, als wären sie unsichtbar und überall hinsahen, nur nicht zu ihnen.
Er nickte ihnen zu, bedeutete ihnen damit, einzutreten und widmete sich wieder ganz April. Sie hatte nichts von all dem mitbekommen, sondern fuhr fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. »Ich hatte keine Angst vor dir«, sagte sie bedächtig. »Wie das mit uns gelaufen ist, war verdammt schlimm, aber damit hätte ich umgehen können, denn ich hatte damit gerechnet, dass du so reagieren würdest. Das musste
ich. Ich hatte auch keine Angst vor deinen Eltern. Sie können mich nicht ausstehen und garantiert werden sie dir einen Vortrag darüber halten, dass ich alles mit Absicht getan habe, und dass sie es vorher wussten, und … Du verstehst, was ich sagen will?«
Greg nickte, und weil er plötzlich genau wusste, in welche Richtung ihr Vortrag gehen würde, löste er den Arm von ihr und umfasste mit beiden Händen ihr Gesicht. »Du kannst gleich weiterreden. Ich muss nur kurz …«, sagte er und senkte seine Lippen auf ihre. Schon aufgrund der ungeliebten, aber leider so lästigen Stalker hatte er nicht vorgehabt, die Zärtlichkeiten auszuweiten. Aber als April trocken aufschluchzte, sich an ihn schmiegte und ihre Finger in sein Haar gleiten ließ, da vergaß er für ein paar selige Minuten alles und gab sich ganz dem Kuss hin, der zwar sehr intensiv, aber niemals leidenschaftlich wurde. Sie pa
ckte sein Haar mit einer Faust, zog ihn noch näher an sich, keuchte in seinen Mund, und er umschlang sie fest mit beiden Armen, zog sie an sich, so nah, dass er mit dem Atmen Schwierigkeiten bekam.
Als er sie freigab, betrachtete sie ihn unter ihren Wimpern hervor, und er grinste. Das war schon eher die April, die er kannte … und liebte.
»Du wolltest mir etwas erzählen«, sagte er, als er wusste, dass er nun für alles gestärkt war.
Sofort verdüsterte sich ihr Gesicht wieder. »William«, sagte sie mit ihrer klaren Stimme. »Er hat mir gesagt, dass er diesen Müll nur duldet, weil er ihn ganz unterhaltsam findet und dass er ihn stoppen könnte, wann immer er wolle. Dass er
in der Familie das Sagen hat und damit auch das letzte Wort. Er hat mir klargemacht, dass ich verschwinden muss, sobald der Deal vorbei ist, und dass ich mich nie wieder bei dir oder überhaupt der Familie blicken lassen darf. Er sagte auch, dass er mich vernichten würde, wenn ich mir mehr nehmen würde, als abgemacht war, und ich kann dir flüstern, dass ich ihm geglaubt habe. Jedes. Einzelne. Wort.«
Als sie aufsah, schwammen ihre Augen in Tränen. »Greg, er wird das niemals akzeptieren. Ob wir nun zusammen sind oder nicht. Natürlich war es noch schlimmer, als wir nicht mehr … zusammen waren …« Sie verzog das Gesicht. »… oder wie immer man es nennen will. Aber ich vermute, dass er mir auch jetzt die Hölle heißmachen wird. Verstehst du, was ich sage? Er wird mich niemals dulden und unser Baby damit auch nicht. Er wird warten, bis er mich allein erwischt, und dann …« Sie schluckte schwer. »Er wird nicht eher ruhen, bis du dich von uns abgewandt hast, er wird alles daransetzen, um dafür zu sorgen, dass ich wieder dort lande, woher ich komme und wohin ich gehöre: in der Gosse. Er hat sogar geschworen, dass er nicht eher aufhören würde, bis ich …« Wieder runzelte sie die Stirn. »Das klingt theatralisch, oder?«
Greg stöhnte. »Nein, es klingt nach William. Bis du …?«
»… Bis ich mich umgebracht habe«, wisperte sie und erste Tränen quollen durch ihre dichten tiefschwarzen Wimpern hervor. »Ich habe das damals hingenommen, aber hier geht es um das Kleine, Greg! Er wird es nicht akzeptieren, er wird Rache wollen und er wird nicht eher ruhen, bis er … auch das Baby aus dem Weg geräumt hat. Ich kann das nicht verantworten! Es geht einfach nicht! Lieber töte ich unser Kind, bevor er ihm sein Leben versauen kann!«