56. Kapitel
Helen
»… schlafen«, vollendete Helen den Satz. Es klang sehr leise, geradezu in sich gekehrt, während sie ihre Freundin offenbar zum ersten Mal seit ihrem Eintreffen vor zwei Stunden tatsächlich betrachtete.
April wirkte bleich und abgehärmt, wie eine dieser Arbeitermütter in den Slums der Großstädte um die Jahrhundertwende. Also vom 19. ins 20. Wenn auch nicht mehr gertenschlank, wie sie es früher gewesen war. Gerade das machte die Angelegenheit aber noch erschreckender, wo sie doch sonst immer so beharrlich auf ihre Figur geachtet und lieber einen ganzen Tag gefastet hatte, als ein kleines Fettpölsterchen zu riskieren. Dichte, dunkle Schatten lagen unter den müden, permanent nur halb offenen Augen, die Haltung insgesamt war gebeugt, der Mund dauerhaft nach unten gebogen, das Haar offenbar seit Ewigkeiten nicht geschnitten und strähnig …
Nein, April war ganz und gar nicht glücklich, egal, was sie sagte. Und sie – Helen – hatte sich genau diesen Moment ausgesucht, um ihr die ungeschönten Wahrheiten wieder mal unter die Nase zu reiben, sie für die Widerlichkeiten ihres Ehemannes zur Rede zu stellen und sich selbst ein klein wenig an ihrem Leiden und Winden gesundzustoßen. Das war bösartig – Helen hatte diesen nicht sonderlich sympathischen Teil ihres Ichs immer gekannt und ihn akzeptiert, doch ihr ging gerade auf, wem sie dies aktuell antat. Welches Opfer genau sie heute als ihren Stimmungsheber auserkoren hatte.
Das war nicht nur fies, sondern untragbar!
Im nächsten Moment stand sie und eilte hinüber zu ihrer Freundin, vor die sie sich erstaunlich agil hockte. »Es tut mir leid«, murmelte sie und nahm die beiden zierlichen Hände in ihre. Obwohl inzwischen der Frühling in New York Einzug gehalten hatte, waren sie fast schneeweiß und kalt. April kam derzeit nicht oft an die frische Luft. Wenn sie die Kleine im Kinderwagen hin und her schob, bewegte sie sich meist im Schatten und war dick angezogen. Die Sonne schaute ihnen immer häufiger vom leicht bewölkten Himmel zu – ja –, aber es war nach wie vor empfindlich kalt, wenn man sich lange Zeit, ohne irgendeine Beschäftigung, draußen aufhielt.
Helen wartete, bis April sie ansah, was einige Zeit in Anspruch nahm. Währenddessen befürchtete sie, ihre Freundin wäre einfach eingenickt. »Warum hast du nichts gesagt?«, erkundigte sie sich dann flüsternd. Weshalb sie die Stimme gesenkt hielt, war ihr nicht klar. Helen hatte nur den Eindruck, dass dies einer dieser Augenblicke war, in denen es unter Strafe stand, laut zu sprechen. Vielleicht aber wollte sie ihr Bedauern auch nur besonders dramatisch verpacken.
April tötete die erhebende, so bedeutungsschwangere Atmosphäre, indem sie laut auflachte und in ein nächstes Gähnen verfiel. Wow, hatte diese Frau gesunde Zähne! Beneidenswert! »Was hätte ich sagen sollen? Soweit ich weiß, ist es mit einem Baby nie sehr einfach, auch wenn das die Wenigsten laut aussprechen. Aber keine Frau, die was auf sich hält, würde heulen, das wäre nämlich ziemlich schlecht für das Ansehen einer erfolgreichen, gewitzten und verdammt genialen Mutter. Weißt du denn gar nichts?«
»Ich bin deine Freundin, du hättest mich um Hilfe bitten können.«
»Von einer Freundin hätte ich erwartet, dass sie hilft, ohne vorher angebettelt werden zu müssen«, konterte April.
Der Vorwurf kam so unerwartet wie treffend. Gerade weil April sonst ganz bestimmt nicht zu solchen Anklagen neigte, ging Helen auf, wie gründlich sie versagt hatte. Sie dachte rasch nach und nickte dann. »Okay, und genau das werde ich jetzt ändern, ja? Geh dich hinlegen, ich kümmere mich um den Zwerg. Die Windeln sind oben?«
Aprils Augen wurden trotz ihrer Müdigkeit groß. »Aber … du weißt doch gar nicht, wie …«
»Meine Brüder haben jeweils zwei Kinder, und dreimal darfst du raten, wer sich als Teenie mit dem Babysitten der kleinen Monster sein Geld für die abgefahrensten Klamotten verdient hat.«
Das genügte als Referenz. April diskutierte nicht lange, sie zeigte Helen nur noch, wo sie das Milchpulver für June gelagert hatte. »Hat offenbar doch einen Vorteil, dass ich so früh abgestillt habe«, murmelte sie dabei und strich sich wieder in dieser unendlich erschöpften Geste über das Gesicht. »Ich wollte nicht, aber der Kinderarzt sagte, dass sie vielleicht nicht satt werden würde und deshalb ständig schreie. Na ja, hat auch nicht viel gebracht …«
»Geh!«, sagte Helen streng und April zog ohne ein weiteres Widerwort davon.
* * *
Kaum war sie verschwunden, betätigte Helen die Kurzwahl 1 auf ihrem Handy. Es klingelte fünf Mal, bevor die Mailbox ansprang. Neuerdings geschah das immer öfter. Nach einem Seufzen hinterließ sie eine kurze Nachricht. »Aus unserem Dinner wird heute nichts. Ruf mich an, wenn du Zeit hast.« Das ›Ich liebe dich!‹ verschluckte sie, ehe es ausgesprochen werden konnte, obwohl es stimmte. Wenn sonst nichts, dann doch das. Aber mit diesem gesamten Thema wollte sie sich momentan nicht beschäftigen. Sie war hierhergekommen, um sich abzulenken, weil sie meinte, ihr würde an diesem Sonntag die Decke auf den Kopf fallen. Noch nie zuvor hatte sie die freien Tage so sehr gehasst, wie, seitdem April mit ihrer Mutterrolle total ausgelastet, verheiratet und daher nicht mehr verfügbar war. Und seitdem Terence immer weniger Zeit für sie erübrigte. Vielleicht hatte sie deshalb für den Bruchteil einer Sekunde gezögert, bevor sie April ihre heroische und längst überfällige Hilfe angeboten hatte. Denn auf das heutige Date hatte sie zwei Wochen lang warten müssen. Natürlich sahen sie sich dann und wann, hatten geilen Sex und verbrachten ein wenig Zeit miteinander, aber Helen hatte es aufgegeben, in Terence’ Wohnung zu übernachten. Sie hatte nicht den Eindruck, als würde er sie dort gern sehen. Er hatte es nie direkt gesagt, es war schließlich Terence, doch sein Hinweis, die Renovierungsarbeiten – die ihrer Meinung nach erstunken und erlogen waren – würden sie sicher stören, war unmissverständlich gewesen. Und die Art und Weise, wie er sich von ihr zurückzog, wie er immer weniger Zeit für sie hatte und immer öfter – in ihren Augen fadenscheinige – Ausreden gebrauchte, tat ihr Übriges. In Wahrheit sah er sie nur, wenn er mit ihr ins Bett gehen wollte. Sie unterhielten sich so gut wie nie, gingen kaum noch aus – weshalb das heutige Dinner in doppelter Hinsicht etwas Besonderes gewesen wäre. Er nahm so gut wie keine Rücksicht mehr auf sie und sorgte nicht länger dafür, dass sie beim Sex auf ihre Kosten kam. Ja, genau genommen steckte er einen weg oder ließ sich von ihr einen blasen, bevor er sich wieder anzog, sie freundlich auf die Stirn küsste und Helen verließ. Immer häufiger fühlte sie sich wie eine Nutte vom Straßenstrich, und das bei einem Mann, von dem sie bis vor Kurzem geglaubt hatte, dass er ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen würde – sofern sie das zuließ. Warum war das so? Ganz ehrlich, sie hatte nicht den geringsten Schimmer.
Heute hatte sie ihn endlich zur Rede stellen wollen.
Frontal!
Von vorn!
Mit dem Mut der Verzweiflung!
Bereit, um ihn zu kämpfen, zur Not mit allen ihr zur Verfügung stehenden Waffen, und dennoch davon überzeugt, ihn freizugeben, sollte sich herausstellen, dass er sich einfach entliebt hatte.
Wie das manchmal eben so passiert: Man verliebt sich ganz spontan, meint für eine lange Weile, es würde immer so bleiben, nur um eines Morgens feststellen zu müssen, dass es nicht mehr spektakulär und atemberaubend, sondern nur noch einengend und widerlich normal ist, neben einer bestimmten Person aufzuwachen.
Wenn genau das geschehen war, wäre es glatte Verschwendung gewesen, sich weiterhin mit ihm zu treffen; Helen war nicht der Typ, ihre Zeit in eine Totgeburt zu investieren, und wenn noch so viele echte, wahre und aufrichtige Gefühle ihrerseits im Spiel waren. Oder vielleicht gerade deshalb.
Sie ging in die Küche und brühte sich einen frischen Cappuccino. Verdammt, Greg war ganz sicher ein riesiger Arsch, aber auf jeden Fall ein lukrativer, denn in dieser Wohnung war alles nur vom Feinsten. Die Maschine hatte mindestens 3000 Dollar gekostet, und das schmeckte man auch.
An ihrem Luxus-Edel-Kaffee schlürfend ging sie zurück ins Wohnzimmer, mit einem Ohr immer am Babyphone – das übrigens nicht die geringsten Geräusche von sich gab –, mit den Gedanken aber wie so häufig bei Terence.
Ja, es schien fast so, als wolle er, der ein wahrer Menschenfreund war und daher niemanden gern vorsätzlich verletzte, ihr auf die sanfte Tour klarmachen, dass er nicht mehr sonderlich an ihr interessiert war. Das war irgendwie noch demütigender, als würde er es ihr ins Gesicht sagen. Sie fühlte sich überflüssig und abstoßend, obwohl sie wusste, dass es nicht an dem war. Auch eine interessante Erkenntnis: Helen St. James war nicht über Selbstzweifel erhaben, wenn ein Mann sie nicht mehr auf die gewohnte Art begehrte. Und das war so verdammt schade, weil er der Traummann war, nach dem sie niemals gesucht hatte. Ihm war es gelungen sie zu zähmen, ohne auch nur annähernd dieses Ziel zu verfolgen, nachdem sie sich über viele Jahre unbekümmert durch die Betten der USA geschlafen hatte. Okay, vorrangig durch die Betten der Bronx, doch als dort alles abgegrast gewesen war, was für sie von Interesse hätte sein können, hatte sie ihre Fänge weiter ausgebreitet. Unersättlich in ihrer Sexlust, manchmal sogar etwas krankhaft auf der Suche nach dem nächsten befriedigenden Orgasmus. Da war immer der Verdacht gewesen, dass es noch besser, noch tiefer, noch lustvoller, noch gigantischer möglich war. Egal, wie mitreißend das Erlebnis gewesen war, lange hatte ihre Zufriedenheit niemals angehalten. Sex war zweifelsohne ihr Sport gewesen und ihr Ziel: höher – schneller – weiter. Hätte es Sex als olympische Disziplin gegeben, dann wäre sie garantiert unter den Medaillengewinnerinnen gewesen. Und Helen war unbescheiden genug, insgeheim auf Gold zu tippen.
Häufiger hatte sie sich den Vorwurf anhören müssen, nymphoman zu sein, immer dann, wenn sie einem ihrer nächtlichen Bekanntschaften schneller den Laufpass gegeben hatte, als dieser es im Umkehrschluss bei ihr hatte tun können. Das wäre eine Erklärung für ihr, rein gesellschaftlich betrachtet, absonderliches Verhalten gewesen. Diesbezüglich war Helen ganz pragmatisch und kalkulierte mit allen Optionen. Mittlerweile war sie allerdings davon überzeugt, dass es nicht so war. Helen hatte nur, seitdem sie sechzehn Jahre alt geworden war, den Sex als erstaunlich ablenkende, unterhaltsame, befriedigende sowie kalorienfressende Beschäftigung entdeckt und beschlossen, diese Seite in sich auszuleben, solange sie sich nicht fest gebunden hatte. Das hatte den Nachteil, dass sie sehr schnell den Status einer Schlampe innehatte, aber den Vorteil, dass sie heute – mit sechsundzwanzig – satt war. Satt von Abenteuern, satt vom Experimentieren, sich vollständig im Klaren darüber, was Sex bewirken konnte und was nicht, wissend, dass sie so ungefähr alles bereits ausprobiert hatte, bar jeder Illusion und rosaroter Gedanken. Sie war ein wenig stolz darauf, dass sie den Sex noch immer mochte, er bei ihr aber nicht mehr an höchster Stelle stand. Andere Dinge hatten sich in den vergangenen Monaten in den Vordergrund geschoben. Das Bedürfnis nach Sicherheit, nach einer Schulter zum Anlehnen, nach Austausch echter Zärtlichkeiten, nicht nur der gestohlenen, die man in einer Nacht bekommen konnte – so man sie überhaupt wollte. Helen hatte sie selten zuvor gewollt, hatte kein gespieltes Interesse angestrebt, das nicht aufrichtig, sondern im Grunde eine widerliche Lüge war. Sie hatte eher den harten, sauberen, perfekten, nicht falsch zu interpretierenden Sex genossen und ihn auch nur gegeben. Selten, dass sie eine ihrer Kurzbekanntschaften geküsst hatte – so hatte sie sich immer besser gefühlt. Heute sehnte sie sich nach inhaltsreichen Gesprächen, und seitdem April verheiratet war, sehnte sie sich auch nach jener speziellen festen Art der Bindung, allen Kritikern der Institution Ehe zum Trotz. Die Freiheit hatte sie lange genug genossen, es war Zeit, zu neuen Ufern aufzubrechen. Dieser besondere Wunsch hatte sie mehr als alle anderen überrascht. Ganz ehrlich, Helen hatte nie geahnt, auch zu jenen Frauen zu gehören, die sich irgendwann einen Ehemann, inklusive schmutziger Socken, nicht heruntergeklappter Klodeckel, hässlich ausgedrückter Zahnpastatuben und Kinder wünschten. Doch so war es.
Sie sehnte sich nach einer Familie.
Ein Baby … Wie gern würde sie ein Baby haben! Sie würde es wiegen und herzen und fünfmal am Tag umziehen und es mit aller Liebe überschütten, derer sie fähig war. Die Idee, es könnte einen Teil von ihr auf dieser Welt geben, der nur ihr und Terence gehörte und für dessen Schicksal sie verantwortlich war, überwältigte sie geradezu. Aber zunächst würde es eine Hochzeit geben. Nicht so wie Aprils: erst eine im Suff eingegangen, die sich in der Folge auch noch als widerlicher Fake herausstellte; die zweite dann innerhalb schmerzhafter Wehen mit nur wenigen Halbsätzen geschlossen. Nein, Helen – wie sie erschrocken festgestellt hatte – wollte das gesamte Paket. Auch wenn es lächerlich wäre, wollte sie in Weiß heiraten, in einem Traum von Kleid, mit meterlanger Schleppe, getragen von sechs winzigen, süßen, nasebohrenden Blumenkindern. Sie wollte vor einen imposanten Traualtar treten, nicht auf einer Wiese mit Clubstühlen ihr Ja-Wort tauschen, sondern in einer Kirche, am besten einer Kathedrale . Wenn erforderlich, dann würde sie auch nach Europa zur Notre Dame jetten, nur um dieses Ziel zu erreichen. Sie wollte an der Seite ihres Mannes strahlen, jede Frau sollte vor Neid erblassen, und dann wollte sie in einer glorreichen Nacht ihr Baby zeugen. Eine heiße, befriedigende Hochzeitsnacht, von der sie (in Auszügen) noch ihren Enkeln erzählen würde. Mit gigantischem Sex, der all die anderen Male überstrahlte, in denen sie einen Mann in sich hineingelassen hatte.
So in etwa ließen sich ihre ganz und gar nicht bescheidenen Wünsche zusammenfassen. Und Terence war der Mann, der dafür gesorgt hatte, dass sie an deren Verwirklichung glaubte. Terence Blue, dieser schöne Mann, der so sanft und gleichzeitig so männlich wirkte, der ihr körperlich überlegen war, dies aber niemals gegen sie verwenden würde, der sie schätzte und achtete, und das, obwohl er von ihrer Vergangenheit wusste. Der Mann, von dem sie bis vor wenigen Wochen geglaubt hatte, er würde ihre Gefühle erwidern.
Natürlich unterschlug sie in ihren Überlegungen auch nicht, dass ihr Traummann bereits jetzt über etliche Millionen Dollar verfügte – der Job im Vorstand des riesigen Versicherungskonzerns war wirklich nicht nötig –, und dass mit dem Tod seines Vaters noch einmal etliche Milliarden Dollar hinzukämen. Es wäre selbstverständlich fantastisch, mit einem solchen Mann einer gesicherten Zukunft entgegenblicken zu dürfen. Auch ihren widerlichen Job in der heruntergekommenen Anwaltskanzlei, die nichts weiter als ein drittklassiges Inkassounternehmen war, könnte sie endlich aufgeben. Sie könnte sich all das kaufen, was sie schon immer haben wollte. Helen war ein praktisch denkender Mensch, sie wusste, dass es zwar ehrenhaft, aber ziemlich naiv gewesen wäre, diesen Aspekt nicht auch in ihre Kalkulationen mit einzubeziehen. Doch es ging ihr nicht um Terence’ Geld. Jedenfalls nicht ausschließlich. Tatsächlich stand dieser Vorteil einer Beziehung mit ihm am unteren Ende der langen Liste, die sie über viele Monate gedanklich erstellt hatte. Der Beweis für Helen, dass ihre Gefühle echt waren. Sie würde auch nicht wegen des Geldes um ihn kämpfen, sondern weil sie mit ihm ihr Leben bestreiten wollte. Doch sie hatte nicht vor, bei diesem Kampf ihre Würde einzubüßen. Für Derartiges war immer April zuständig gewesen. Und wenn sie die Sachlage richtig einschätzte, hatte sich das bis zum heutigen Tag nicht geändert.
Als das Babyphone knackte, wurde sie jäh aus ihren Gedanken gerissen. Sie lächelte, schickte ein leises Seufzen hinterher, das ihr ein wenig das Gefühl verlieh, eine leicht gestresste Mutter zu sein, und machte sich auf in das Kinderzimmer, wobei sie auf Zehenspitzen lief, denn es lag direkt neben Aprils und Greg’s Schlafzimmer. Okay, also Aprils Schlafzimmer, denn der Versager war ja so gut wie nie daheim.
Himmelblaue Augen in dem süßesten Gesicht, das Helen jemals gesehen hatte, empfingen sie, als sie an die Wiege herantrat. June hatte nicht wirklich geweint, Helen hätte es eher als Rufen eingestuft. Keine Träne befand sich auf den prallen Bäckchen, die leichte Decke hatte sie weggestrampelt, die Ärmchen waren wie grüßend erhoben und die süßen Lippen zu einem allerliebsten Schmollmund verzogen.
So wie immer, wenn Helen mit diesem Wunder konfrontiert wurde, konnte sie für einen langen Moment nur fassungslos auf das Baby hinabstarren und sich überlegen, wie wunderschön es war, wie elitär, wie gnadenlos überwältigend in seiner Perfektion. Erst das leise und erwartungsvolle Quaken erinnerte sie daran, dass diesmal sie die Regie innehatte.
Sie war die Meisterin!
Allein diese Erkenntnis ließ die nächste Welle jener verheißungsvollen Wärme durch ihren Körper hindurchströmen. Ihr Herz zog sich sehnsüchtig zusammen, der Mund wurde trocken, der Magen zwickte und sie hatte – unfassbarerweise! – Lust auf Sex mit Terence. Sie wollte, dass er jetzt sofort dieses Haus stürmte und sie am besten noch in dem riesigen Flur an der erstbesten Wand vögelte. Sie wollte …
»Scheiße!«, wisperte Helen, als ihr klar wurde, was sie so dringend wollte. Dann wurden ihre Augen groß, weil sie eines der, in Gegenwart des Babys, verbotenen Worte artikuliert hatte, und sie schlug eilig eine Hand vor ihren Mund. »Das hast du nicht gehört, okay?«, nuschelte sie, immer noch mit den Fingern auf ihren Lippen. Dann ließ sie den Arm sinken und nahm den warmen, so erstaunlich festen Babykörper aus seiner Wiege, wobei sie das Köpfchen sorgsam stützte. Es war so ein erhabenes, so ein wundervolles, befriedigendes Gefühl, das es mit keinem anderen aufnehmen konnte. Ganz bestimmt nicht mit Sex. Zärtlich schloss sie die Arme um June, lächelte in das entzückende Gesichtchen und legte die Lippen flüchtig an die weiche Babyschläfe. Hingerissen atmete sie den einzigartigen Geruch ein, der ihre Sehnsucht noch einmal verstärkte.
›Fick dich, Terence Blue! In der Hölle sollst du schmoren, weil du mir nicht gibst, was du mir verdammt noch mal schuldest!‹
»Hast du Hunger?«, erkundigte sie sich in völlig normalem Ton und begab sich zur Tür. »Oder einfach nur Langeweile?