77. Kapitel
April
Das Brasserie du Gourmet
war von außen so nichtssagend, dass April zunächst glaubte, Joe hätte sich einfach in der Adresse geirrt.
Obwohl es bereits dunkel war, standen – wie in Europa vielerorts üblich – noch einige Stühle und Tische vor dem kleinen Ecklokal, das eher den Eindruck eines Pubs machte, als eines Sterne-Restaurants. Leute saßen nicht draußen, was wohl der verdammten Kälte geschuldet war, die ihnen trotz des anbrechenden Frühlings immer noch zusetzte. Neben dem Eingang war eine Tafel angebracht, auf der mit Kreide auf Französisch irgendwelche Tagesangebote angepriesen wurden.
Stirnrunzelnd sah sie zu Greg. »Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?«
Er deutete mit dem Kinn auf einige Luxuskarossen, die ebenfalls gerade hielten. Chauffeure in Uniform und Schirmmütze stiegen aus, liefen herum und öffneten die hinteren Wagentüren, aus denen immer ein Typ in Anzug – wie Greg – und eine in Abendrobe gewandete Frau – wie April – stiegen.
»Mist«, murmelte April und griff Schutz suchend nach seiner Hand. »Scheint wohl so zu sein. Können die Franzosen keine richtigen Restaurants bauen?«
»Belgier, Honey«, berichtigte er sie mit einem Grinsen. »Und ich glaube, das können sie sogar ausgezeichnet, sie wissen ihre Geheimtipps nur zu tarnen.«
In diesem Moment öffnete Joe die Tür. Greg löste seine Hand, mit deren Daumen er eben noch beruhigend Aprils Handrücken gestreichelt hatte, stieg aus und hielt sie ihr sofort wieder entgegen, damit sie folgen konnte.
Kaum hatten sie den Schutz der Limousine verlassen, stürzten ein paar dunkle Gestalten auf sie zu. April sah nur noch Blitze, hörte dunkle Männerstimmen auf Französisch rufen, flüchtete sich instinktiv, so nah es ging, an Greg und hätte – wäre das verdammte Kleid nicht so verdammt eng gewesen – ihre Beine auch noch um ihn geschlungen.
Was!
War!
DAS?
»Cool bleiben, sie haben keinen Schimmer, wer wir sind«, murmelte Greg von irgendwo über ihr. Sie fühlte seine flache, warme Hand in ihrem Rücken, die sie nach vorn schob und ließ sich irgendwie durch die finsteren Wegelagerer führen. Als sie das Licht des Pub-Restaurants erreicht hatten, blinzelte April ein paarmal, weil die plötzliche Helligkeit, nach der Dunkelheit mit den Blitzeinlagen, ihren Augen wehtat. Allmählich konnte sie mehr als nur Schemen wahrnehmen und was sie sah, bestärkte sie in ihrer Annahme, versehentlich in einem Pub gelandet zu sein.
Es gab etliche runde Tische in dem verwinkelten Gastraum, um die Stühle gruppiert waren. Aber die Bar dominierte, die sich an der Längsseite um das Eck des Raumes der Eckkneipe
zog.
»Da seid ihr ja endlich!«, ertönte in diesem Moment eine bekannte, aber nicht unbedingt gemochte Stimme. »Meine Gäste«, sagte er als Nächstes, wahrscheinlich zum Kellner. Dann stand William McCarthy, Junior, vor ihnen, in Anzug, attraktiv wie eh und je, mit strahlendem Lächeln sowie blitzenden, sichtlich aufgeregten Augen. Bill McCarthy, kurz bevor er April – die Hure aus der New Yorker Bronx, die es erfolgreich in das Milliardenimperium geschafft hatte – wieder einmal bei einem von ihren legendären Ausrastern erleben durfte. April hätte ihren Arsch darauf verwettet, dass genau das die Ursache für seine glänzende Laune war.
»Wieso endlich?«, erkundigte Greg sich und sah auf die Uhr. »Wir sind exakt pünktlich.«
»Weil ich eben immer eine Viertelstunde früher da bin«, wurde er belehrt, bevor Bill sich April zuwandte. Seine Hand suchte die Stelle auf seinem Hemd, unter der wohl irgendwo das Herz lag – oder was auch immer sich an dessen Stelle befand. »Enchanté, Madam«, säuselte er, leider in perfektem Französisch. Penner! »Es ist mir eine außerordentliche Freude, dich begrüßen zu dürfen, April. Du siehst einfach hinreißend aus.«
April nickte und rang sich ein Lächeln ab. »Hey, Bill.«
Der war durch die wenig begeisterte und ganz bestimmt gesellschaftlich unzulässige Begrüßung nicht im Mindesten beeindruckt. Im Gegenteil, sein Lächeln wurde noch etwas breiter. »Wie ich sehe, hast du dich kein bisschen verändert. Und das ist gut, meine Liebe, das ist sogar perfekt.«
Ein Ober trat auf sie zu, April bemerkte, dass er für den heruntergekommenen Schuppen verdammt gut gekleidet war. Schwarze Hose, helles Hemd, breite dunkle Schärpe am Hosenbund, und durchaus attraktiv.
Bill sah auf und nickte als Antwort zu irgendeiner Frage, die der Franzose – sorry, Belgier
– gestellt hatte. »Setzen wir uns erst einmal«, teilte er den beiden mit, und April fragte sich zum ersten Mal, ob das Restaurant ihm gehörte.
Sie hatten einen der runden Tische, die etwas abseits und nicht am Fenster standen. Womit sie aber immer noch mitten im Geschehen waren, denn der Raum war nicht sehr groß. April wollte sich schon hinpflanzen, als ihr in letzter Sekunde einfiel, wie die Dinge in diesem aufgesetzten Spiel liefen. Sie sah sich um und entdeckte Greg, der Bill gerade mit einem Blick bedachte, der eindeutig etwas mit der Machonummer: This-Girl-is-mine
zu tun hatte. Bill trollte sich mit enttäuschter Miene, die April etwas verunsicherte, denn bisher hatte sie nicht den Eindruck gehabt, der Typ würde auf sie stehen. Okay, sie hatte ihn bisher auch nur einmal für ein paar legendäre Minuten und ein gemeinsames Foto gesehen.
In angebrachter Lautstärke – also fast flüsternd – dankend, ließ sie sich von ihrem Ehemann den Stuhl zurecht schieben, wobei sie sich fühlte, als wäre sie in einem Zug, der gerade rangiert wird, und sah dann mit einiger Erschütterung, dass die perfekte Tafel, an der sie soeben Platz genommen hatte, garantiert nicht an einen Pub erinnerte. Auch nicht an ein gewöhnliches Restaurant, in das sie früher manchmal gegangen war. Mist, es war wirklich ein Sterne-Schuppen! Sie sah auf, begegnete Greg’s Blick, der neben ihr saß und schluckte, bevor sie sich hastig zur Ordnung rief.
Du kannst das!
Und das entsprach tatsächlich der Wahrheit. Darauf hatte sie sich innerhalb der vergangenen Monate akribisch vorbereitet, denn sowohl Greg als auch ihr war klargewesen, dass sie sich nicht ewig aus den Familiengalen heraushalten könnten. Vorgeschmack des Bevorstehenden war Junes Taufparty gewesen, die sie zwar sehr, sehr klein gehalten hatten,
bei der aber Greg’s Eltern nicht hatten fehlen dürfen. April hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, und sich diesmal nur minimal argwöhnische Blicke ihrer Schwiegereltern eingefangen. Also hatte das trockene, widerlich langweilige Training mit Miss Shaw, mit dem sie sich in den letzten Monaten ihrer Schwangerschaft die Zeit vertrieben hatte, doch sein Gutes gehabt.
Genau daran versuchte April sich nun zu erinnern, während ein weiterer fr… belgischer Kellner an ihren Tisch trat. Offenbar wollte er die Weinbestellung aufnehmen. April war froh, nichts von dem Gesagten zu verstehen, denn so konnte sie nur hübsch ausschauen und sich ansonsten umsehen, während die Männer die verschiedenen Weine diskutierten.
Und wenn sie einhundert Jahre alt werden würde, sie würde nie kapieren, weshalb man wegen eines Gesöffs, das meistens total ekelhaft schmeckte, so ein Gewese machen konnte. Aber was wusste sie schon?
»Baby, wir haben den Chardonnay Brut Perles de Sambre 2006
gewählt, ich hoffe, du bist damit einverstanden?«
Greg hatte seine Hand auf ihren Arm gelegt und als sie ihn anblickte, entdeckte sie den Humor in seinen Augen. Der Kerl zog sie schon wieder auf. »Oh!«, säuselte sie. »Welcher war es noch mal? Ich war gerade in Gedanken.«
Bill, der sich offenbar ausgeschlossen fühlte, beeilte sich, den für Aprils Ohren nichtssagenden Zungenbrecher zu wiederholen, und sie zog die Nase kraus. »Ich hoffe, er wird nicht zu trocken sein. Darling, du weißt, wie stark ich zum Sodbrennen neige.«
»Daran habe ich natürlich gedacht«, erwiderte er rasch und tätschelte ihren Arm. »Er gilt als trocken, aber du wirst sehen, er neigt eher in den halbtrockenen Bereich.«
»Ja!«, rief Bill, der offenbar an ADHS litt oder so. »Bei ihm findet sich eine angenehm hefig-fruchtige Grundnote, ganz gut balanciert, ansprechbare Crème, hervorragende Länge. Er wird in Fachkreisen auch die heimliche belgische Blume genannt.«
›Ist ja irre!‹ wollte April erwidern, lächelte stattdessen jedoch nur, immer noch hatte sie ausschließlich Augen für ihren Mann, der sie mittlerweile dreckig angrinste und das Ganze auch noch als charmantes Lächeln tarnte. »Ich wusste doch, dass ich mich auf dich verlassen kann«, murmelte sie und ließ einen Finger an seiner Schläfe entlanggleiten.
Er nahm ihre Hand und küsste deren Rücken. Obwohl es nur Show war, die sie mehr ärgerte als amüsierte, fühlte sie, wie sich von der Stelle, die seine Lippen berührt hatte, eine unerträgliche Wärme über ihren gesamten Körper ausbreitete, die nur ein Ziel kannte.
Mist!
Hastig entzog sie ihm ihre Hand und fühlte zu ihrem Entsetzen, dass sie rot wurde.
Mist!
Doch Greg, der zwar ein Arsch war, aber immerhin auf ihrer Seite stand, überspielte die Situation, indem er den nächsten Kellner begrüßte, der an den Tisch herangetreten war. Jetzt gab es die Speisekarten. April, dankbar, dass sie wenigstens den glühenden Kopf gesenkt halten konnte, schlug sie hastig auf, und wäre fast vom Stuhl gefallen, weil natürlich alles auf Französisch aufgeführt war.
Ausschließlich!
Diese Idioten kannten wohl die internationalen Gepflogenheiten nicht.
Mist!
Sie biss sich auf die Unterlippe, fühlte, wie ihr zu allem Überfluss der Schweiß ausbrach und ihr Herz in der Brust leichte Ausfallerscheinungen geltend machte, als ihr diesmal und
absolut unerwartet Bill zu Hilfe eilte. »Wenn ihr was anderes wollt, dann können wir natürlich umdisponieren, aber ich dachte, wir nehmen das Acht-Gänge-Menü.«
MIST!
Hilfe war es zwar gewesen, aber acht Gänge bedeuteten jede Menge essenstechnische Herausforderungen, und – und das war noch viel schlimmer: Das Ganze würde ewig dauern.
Acht Gänge!
Acht Teller!
Achtmal auf- und abtragen!
Scheiße!
Ihren Untergang besiegelte Greg, der die Karte auf den Tisch legte und die Hände in der Mitte zusammenbrachte, während er Bill hocherfreut anlächelte. »Bestens, dann muss ich wenigstens nicht lange suchen. Mein Französisch ist nicht das beste.«
April hätte sich täuschen können, aber Bills Lachen klang leicht gezwungen.
Der Abend zog sich wie Kaugummi, was zum einen natürlich an der elend langen Gangfolge lag. Sie aßen Gänseleber mit Guanaja-Zartbitterschokolade in einer Vanille-Olivenöl-Emulsion, gefolgt von Jakobsmuscheln und Tatar, glasiert mit Yuzucreme und Beluga-Kaviar – April bestand mit königlicher Würde und ignorierte Greg’s Grinsen. Dem schlossen sich Wildgarnelen auf Möhrenconfit mit Kokos-Chilli-Fumet an. Ab diesem Moment wusste April, dass sie demnächst platzen würde. Sie war so satt, dass sie sich kaum bewegen konnte, doch in Wahrheit hatte das verdammte Dinner ja gerade erst begonnen! Klar waren es immer nur winzig kleine Portionen, aber in der Gesamtheit gesehen …
Ein frühzeitiger Ausstieg war unmöglich, hätte sie etwas auf dem Teller zurückgelassen, wäre wahrscheinlich der verdammte Küchenchef höchstpersönlich erschienen, um sich lauernd nach den Gründen zu erkundigen, und so half bloß, Augen zu und durch.
… was nur leider nicht ging, weil Bill fast unaufhörlich sprach. Und auch noch unaufhörlich mit ihr.
»Greg habe ich täglich, dich nur heute – das muss ich ausnutzen. Leider kennen wir uns ja so gut wie gar nicht, und ich würde zu gern die Frau näher kennenlernen, der es gelungen ist, dass Greg nicht nur mit Freuden
sesshaft wird, sondern auch noch in Dads Firma einsteigt.«
Mist!
Nebenbei war der Raum um halb neun randvoll, kein Tisch war unbesetzt geblieben. Gegen neun erschien ein Typ in Frack, der sich nach kurzer Verbeugung, was von ein paar Leuten sogar mit einem laschen Klatschen begleitet wurde, hinter einen von April bisher unbemerkten Flügel setzte.
Ab diesem Moment wurde sie mit Live-Klaviermusik berieselt. Hätte hilfreich sein können, wäre sie laut genug gewesen. Doch die mussten irgendwas an der Akustik in diesem Raum gedreht haben, denn obwohl der Kerl spielte, als ginge es um sein Leben, konnte man sich trotzdem bestens bei Tisch unterhalten.
Ob man nun wollte, oder nicht.
April wollte eher nicht, aber das schien Bill McCarthy nicht zu bemerken oder er ignorierte es in seiner aufgeblasenen Arroganz einfach. Und Greg McCarthy, dieser kleine Arsch direkt neben ihr, sagte so gut wie gar nichts, sondern verfolgte ihre Unterhaltung mit
sichtlichem Interesse, aß stoisch seinen Gang, egal worum es sich gerade handelte, schien absolut nicht satt zu werden, irgendwas verbal beitragen zu wollen und ganz nebenbei ihre Tritte – gut verborgen unter dem Tisch – nicht zu bemerken.
Oder er ignorierte sie auch einfach.
Dies schien der Tag der widerlichen Ignoranten zu sein.
»Und?«, erkundigte Bill sich gerade. »Wie geht es denn deiner Kleinen? Wie hieß sie noch gleich?«
»June«, erwiderte April zuckersüß, die soeben beschlossen hatte, dass Bill ein widerliches Arschloch war, auch wenn er sich im Grunde wirklich nett benahm. Aber wer nicht mal den Namen ihrer Tochter kannte, der konnte ihr …
»Ich war wirklich … sagen wir, leicht perplex, als ich von ihrer Taufe erfuhr«, sagte er. »Ganz ehrlich, ich hätte gern daran teilgenommen. Man hört so gar nichts von ihr, es ist schwer, überhaupt an Informationen zu kommen, Greg hüllt sich diesbezüglich auch eher in Schweigen.«
Okay, vielleicht konnte er den Namen auch nicht wissen. »Äh«, sagte April, sah hilfesuchend zu Greg, der soeben die letzten Reste von Gang vier verdrückte (Wolfsbarsch mit Morcheln und Spargel im Bärlauchsud) und dann einen Schluck Wein nahm, wobei er ihren Blick kategorisch mied.
Der Sack!
»Sorry, wir wollten im kleinsten familiären Kreis bleiben, sie ist etwas schreckhaft.«
»Oh!«, machte Bill und nahm seinen Wein. »Das ist natürlich verständlich. Ich hoffe, sie ist wohlauf?«
»Ja, es geht ihr prächtig, sie ist unser Sonnenschein.«
»Du hast sie daheim bei der Nanny gelassen?«
»Nein …« Nun war Greg der Treter unter dem Tisch, doch als sie ihn ansah, beschäftigte er sich scheinbar mit seinem Wein und hatte keinen Blick für sie übrig.
April wechselte absolut unelegant und durchschaubar die Spur. »Doch! Natürlich, bei der Nanny!«
Bill hob eine Augenbraue. »Was nun, nein, ja?«
»Ja«, bekräftigte April, der schon wieder die Hitze in die Wangen stieg. Mist, warum konnte sie bloß nicht glaubhaft lügen?
Glücklicherweise ging Bill nicht darauf ein, sein Lächeln ließ aber darauf schließen, dass ihm ihre Lüge bewusst war.
Es konnte ihr egal sein. April verstand sowieso nicht, weshalb sie nicht einfach sagen durfte, dass ihre sehr fähige Freundin in der Zeit ihrer Abwesenheit auf ihre Tochter achtete. Schließlich war sie darüber hinaus immer noch die Patentante … Jedenfalls irgendwie. Bevor bittere Galle ihre Kehle hinaufsteigen konnte, weil sie dieses spezielle Vergehen immer noch nicht mit Greg ausgewertet hatte, meldete Bill sich wieder zu Wort.
»Und, hat sie schon Zähnchen, die kleine June?«
April sah auf. »Was? Wie kommst du denn darauf, sie ist nicht mal vier Monate alt!«
Bill lachte laut. »Hey, ich war auch verwundert, aber …« Er deutete auf Aprils linke Schulter. »Ich überlege schon seit unserer Begrüßung, wie das da zustande gekommen ist, und ich kann dir sagen, meine Fantasie läuft gerade Amok.
«
Scheiße!
Glücklicherweise wurde gerade Gang Nummer fünf serviert. Seit Gang drei begrüßte April zum ersten Mal wieder das Auftauchen der drei Kellner, die jeweils hinter einem von ihnen Aufstellung nahmen, um dann auf ein lautloses Kommando hin synchron die Teller vor ihnen abzustellen. Es war wie eine Choreografie. Zwei zogen sich zurück, der Dritte verkündete monoton, worum es sich gerade handelte, während Bill übersetzte. April, deren Gesicht einer überreifen Tomate gleichen musste, konzentrierte sich auf ihren Teller, auf dem sich etliche Sorten Käse befanden, wenn sie das richtig sah. Also ein Käseteller, warum sagten die Heinis das nicht einfach? Und warum rettete Greg sie nicht einfach? Schließlich war er
auf die bescheuerte Idee gekommen! Was in der Suite noch irgendwie romantisch-irre gewirkt hatte, machte April jetzt wütend, weil ihr klar wurde, dass er sie tatsächlich markiert hatte. Nicht in irgendeinem sado-besitzmäßigen Zusammenhang, sondern in Form eines Gebissabdrucks, den sie, wenn sie Pech hatte, bis zum Ende ihres Lebens mit sich herumtragen würde. Jeder würde ihr solche blöden Fragen stellen, sie würde ab sofort gedemütigt werden, wo auch immer sie so blöd war, sich mit freien Schultern blicken zu lassen.
Verdammt!
Sie würde nie wieder mit schulterfreien Tops unterwegs sein können! Ihre Haut würde ausbleichen, niemals wieder das Sonnenlicht sehen und niemals wieder den rauen Wind der Küste auf sich spüren. Sie würde keinen Bikini mehr tragen können, einen Badeanzug auch nicht. HA! Da blieb nur noch der Burkini, aber wenigstens würde sie dann ein Zeichen für Toleranz setzen, ja wie irre!
Andere ließen sich gegenseitig irgendwas tätowieren, und zwar an Stellen, die nicht gleich jeder sah. Greg, dieser sadistische, widerliche, egoistische, selbstgefällige, verlogene Bastard biss sie
!
In die Schulter!
Der Kellner ging, sie griff ohne aufzusehen nach der Gabel, und bemerkte leider erst, als sie diese schon in das erste Käsestück gestochen und es zum Mund geführt hatte, dass sie das Messer benutzen musste.
Mist!
Während sie spürte, dass das Blut weiterhin ihr Gesicht eroberte – gab es da keine Obergrenze, oder was? – nahm sie also auch noch das gottverdammte Messer, schüttelte das Zeug von der Gabel und schnitt ein mundgerechtes Stück ab.
»Oh, das sieht aber gut aus«, freute sich Bill irgendwo auf der anderen Seite des Tischs und sie wünschte sich ein Attentat.
JETZT!
Er war der Sohn, Greg nur der Neffe, sie würde Greg einfach unter den Tisch zerren und darauf hoffen, dass die Terroristen Bill abknallten. Nur keinen Mucks von sich geben und warten, bis das Blutbad angerichtet wäre, dann könnte sie wenigstens dieser Peinlichkeit entkommen.
Schöner Traum.
Der Käse schmeckte wie Pappe, sie hatte keine Chance, den Geschmack zu ergründen, obwohl es sich mit Sicherheit um ganz edles Zeug handelte.
»Also, wenn du mich fragst, sieht das wirklich ziemlich gefährlich …«
»Bill, sie will nicht darüber reden, das dürfte doch selbst dir nicht entgangen sein. Und wenn du es genau wissen willst, ich war der Verursacher. Alles Weitere geht dich nichts an,
kapiert?«
April sah auf und direkt in Greg’s unbewegtes Gesicht. Niemand, der ihn jetzt sah, wäre auf die Idee gekommen, dass er der Mann gewesen war, der gerade ziemlich bedrohlich geknurrt hatte. Er beachtete sie nicht weiter, sein Blick galt nur seinem Cousin, der … April konnte es nicht fassen … tatsächlich von einem Ohr zum anderen grinste.
»Wow, wow, wow, Alter, reg dich ab. Ich wollte sie nur ein bisschen hochnehmen.«
»Ist mir nicht entgangen«, sagte Greg und widmete sich wieder seinem Käse-Trauben-Feigen-Mist-Scheiß. April hatte noch nie weniger Appetit gehabt und sah auf einmal auch keinen Grund mehr, sich das Zeug weiterhin sinnlos hineinzustopfen, zumal es ihr ohnehin nicht schmeckte. Und so legte sie das Besteck ordentlich auf den Teller, achtete darauf, dass ihr Rücken auch ja durchgedrückt war und griff nach ihrem Weinglas, das sie selbstverständlich zum Mund führte – sie wollte ja nicht in die Kniggehölle kommen. Doch sie mied den Blick zu Bill, sah auch nicht zu Greg, sondern schaute sich im Raum um. Die meisten Gäste schienen diesen verdammten Acht-Gänge-Albtraum genommen zu haben, denn sie saßen auf ihren Stühlen wie angeklebt, obwohl sie schon seit über eineinhalb Stunden hier waren. Vielleicht wurde das Essen in diesem Lokal auch nur in extrem vielen Gängen serviert.
Der Pianist spielte immer noch, ohne Aussicht, dass er demnächst aufhören würde. Mit Grauen bemerkte April, dass sich inzwischen zwei Paare erhoben hatten, die irgendwie in dem kleinen Bereich zwischen Bar, Flügel und Tischen tanzten, ohne sich darum zu scheren, dass dafür gar kein Platz vorgesehen war. Wenn sich dieser Schuppen als so eine Art Dauerbrenner unter den Restaurants entpuppte, in denen man für gewöhnlich bis zum Morgen feierte, dann konnte sie ihre Hoffnungen, mit Beendigung des letzten Gangs endlich heimgehen zu können, wohl auch begraben. Bill schien sich nämlich prächtig zu amüsieren. Und er war nie um eine Frage verlegen. Selbst jetzt nicht, wo Greg ihn so barsch zurechtgewiesen hatte.
Viel zu früh drang wieder seine Stimme an Aprils gemartertes Ohr. »Und, wie war die Umstellung vom Nicht-Mutter-Sein auf die Mutterschaft?«
Sie sah ihn an, nahm noch einen Schluck Wein und dankte dem Kellner, der ihren Teller abräumte. Wenn sie es richtig anstellte, dann würde sie nicht viel sagen können, bevor der nächste Gang serviert wurde. Sofern sie korrekt mitgezählt hatte, fehlten noch sechs, sieben und acht.
April schluckte langsam, kostete den widerlichen Geschmack des staubtrockenen Weines extra aus und lächelte dann. »Es war kurz, aber ziemlich schmerzhaft. Wegen der Wehen, du weißt schon.«
Bill starrte sie an, für einen Moment tatsächlich ratlos, dann lachte er schallend los. »Sie ist wirklich eine Granate!«, versicherte er Greg, als hätte dieser das nicht schon längst gewusst.
Aprils Ehemann verzog nur kurz die Mundwinkel, bevor er sich wieder an seinen Wein hielt. Diesbezüglich waren sie bereits bei der dritten Flasche angelangt. April wusste momentan nicht, wer mehr trank, Greg oder sie, vermutlich hielt es sich die Waage.
Bill hatte sich von seinem jüngsten Lachflash erholt und lehnte sich zurück. »Was ich meinte, war die Umstellung. Klar, da ist die Nanny und du hast in ihr sicher jede Menge Unterstützung, aber du bist ja die Mutter und das ziemlich jung geworden. Wenn ich mich recht erinnere, war meine eigene Mom knapp dreißig, als ich geboren wurde und damit
natürlich auch viel gefestigter. Ich stelle mir das … sagen wir mal … ein bisschen schwer vor, von heute auf morgen für ein so kleines Wesen verantwortlich zu sein, zumal Greg ja so gut wie kaum da ist.«
»Och, ich hatte neun Monate Zeit, mich darauf vorzubereiten, insofern ging das mit dem Gewöhnen schon. Außerdem betrachte ich mich auch mit sechsundzwanzig durchaus gefestigt genug, um für ein kleines Leben die Verantwortung zu übernehmen. Bei manchen kommt es halt früher, bei anderen später. Nein, unser Baby war nicht geplant, aber wir haben es trotzdem geschafft, uns in die Rolle reinzudenken, bevor es auf die Welt kam – deine Sorge ist also unbegründet. Und dass ich die ganze Zeit allein in New York herumhänge, habe ich ja wohl in erster Linie dir und deinem … Vater zu verdanken, oder sehe ich das falsch? Nein, hab ich mir gedacht. Also frag nicht so scheinheilig!«
»April …« Greg’s Hand legte sich auf ihr leicht zitterndes Bein, doch sie beachtete ihn nicht. Vielleicht hatte sie wirklich ein bisschen zu viel Wein getrunken, aber, verdammte Scheiße, das war schon lange mal fällig gewesen! Mit aller Macht konzentrierte sie sich auf ihre verräterischen Hände, die nämlich nach ihrem emotionalen Ausbruch ebenfalls zitterten. April gönnte ihm den Triumph nicht, sie erfolgreich aus der Reserve gelockt zu haben.
Bill schien nicht beleidigt. Lachend hob er die Hände. »Schon gut, Greg. Ich schätze, das kommt wohl zwangsläufig. Wäre es nicht schlimmer, wenn sie anders reagieren würde? Die wenigsten Frauen bringen Verständnis auf, wenn ihre Männer so einen zeitintensiven Job versehen, wie du es tust. Besonders, wenn sie nicht damit aufgewachsen sind.«
Aprils Kopf fuhr hoch, aber bevor sie eine scharfe Erwiderung an den Eierschädel dieses Heinis pfeffern konnte, erschienen wieder diese Lakai-Kellner, die den sechsten Gang servierten. Irgendwelche Quadrate, mit irgendeiner Soße, die stark nach Knoblauch roch.
Yeah
, dachte April. Genau richtig, um das verdammte blutsaugende Monster zu verjagen.
Für Greg hatte sie auch keinen Blick mehr übrig, schließlich hatte er sie zurückgepfiffen, wie seinen verdammten Hund, und April hatte nicht vor, sich zurückpfeifen zu lassen!
Sobald die Kellner verschwunden waren und alle ihr Besteck in den Händen hielten – April eher, um auf die Quadrate einzuhacken, bis alles eine einzige, sämige Masse wäre, wetterte sie weiter.
»Was heißt denn, nicht damit aufgewachsen? Willst du damit sagen, irgendeine Frau würde dafür Verständnis aufbringen, wenn ihr Mann von dreißig Tagen vielleicht drei daheim ist? Und dass selbst dann noch im Stundenabstand das Handy klingelt? Meinst du wirklich, es hat irgendwas mit ihrer Herkunft zu tun, dass sie das scheiße findet?«
Sie spürte Greg’s Hand auf ihrem Bein, die diesmal stärker drückte, und wischte sie energisch beiseite. Ihr Blick galt nur dem Cousin ihres Mannes. »Meinst du wirklich, es liegt an der Bildung oder an dem Geld, das sie in die Ehe mitgebracht hat? Willst du mir das sagen?«
Bill wirkte ungewohnt ernst, als er antwortete, während er immer mal wieder einen Happen von seinen Quadraten nachschob. »Nein, April. Aber sie wissen von vorneherein, worauf sie sich einlassen, wenn sie einen McCarthy heiraten. Einfach, weil sie sich viele Jahre darauf vorbereiten konnten, ihm zur Seite zu stehen, ihn zu stützen und nicht zu fordern. Ihn so zu nehmen, wie er ist.«
Furchtlos sah er sie an, obwohl April ihn beinahe mit Blicken tötete. »Willst du damit
sagen ich schade ihm, wenn ich will, dass er öfter daheim ist und nehme ihn nicht so, wie er ist?«
Bill seufzte, sah zu Greg und auch April wagte einen Blick neben sich. Überrascht, ja fast verblüfft registrierte sie, dass Greg, der sich seinem Essen widmete, weder wütend noch angespannt wirkte. Nicht einmal die Tatsache, dass sie seine Hand beiseite geschlagen hatte, schien ihn sonderlich zu tangieren. Also wenn man Greg so betrachtete, schien alles in bester Ordnung.
Was für ein Opfer!
»Nein, natürlich schadest du ihm nicht, jeder kann sehen, wie viel dein Mann dir bedeutet, und du kannst mir glauben, dass ich ziemlich neidisch auf euer Glück bin. Das Problem ist, dass du ihn in eine Zwangslage bringst. Er will, dass du glücklich bist und gleichzeitig will er seine Aufgabe bestmöglich erledigen. Wie soll er, wenn er weiß, dass du währenddessen die Stunden bis zu eurem Wiedersehen zählst? Dass du nichts mit dir anzufangen weißt …«
»Bill, ich denke, es reicht«, ertönte Greg’s ruhige Stimme. »Sie hat verstanden, was du ihr sagen willst.«
Fassungslos betrachtete April ihren Mann. »Du stimmst ihm zu?«
Er musterte sie bedauernd. »April …«
»Nichts April!«, fauchte sie. »Das ist …«
»Mäßige dich!«, knurrte er leise, aber dennoch so drohend, dass sie mitten im Satz verstummte. Mit brennenden Augen starrte sie ihn an. Er erwiderte ihren Blick, doch sie fand keine Wärme oder gar Vertrautheit, sondern nur Härte, Kälte und einen Ausdruck, der zu signalisieren schien. ›Er sagt doch nur die Wahrheit. Wenn es auch bitter ist. Und jetzt reiß dich gefälligst zusammen, wir sind hier nicht allein!‹
»So ist das also«, war alles, was sie noch wispern konnte. Dann starrte April auf ihren Teller, unfähig, wenigstens die Gabel aus der Hand zu legen, unfähig, sich zu rühren oder einen der beiden Männer anzusehen und mit extremen Schwierigkeiten, ihre Lunge mit Sauerstoff zu füllen. Sie fühlte sich mit dem Rücken zur Wand stehend, genau wie damals bei der beschissenen Party, wo Greg im Duett mit diesem Bill sauer auf sie gewesen war. Dieses Gefühl, überall auf Unverständnis zu stoßen, wo sie doch davon überzeugt war, im Recht zu sein, würgte sie wie eine Eisenkette, die jemand extrem fest um ihren Hals gezogen hatte. Nur um Stück für Stück auch den letzten Millimeter Freiraum zwischen Eisen und Haut zu beseitigen.
Wie konnte er ihr so in den Rücken fallen?
Weshalb war sie überhaupt hier?
Warum war sie nicht zu Hause geblieben, bei ihrer Tochter und Helen, die sie beide mit Sicherheit mehr brauchten, als dieser Mann neben ihr, der noch immer keinen Ton hervorgebracht hatte, abgesehen davon natürlich, um sie mal wieder zur Beherrschung zu ermahnen?
Schweigen hatte sich über die kleine Tischgesellschaft gelegt, das diesmal selbst Bill nicht brechen wollte. Die Teller wurden abgetragen, der siebte Gang folgte und wurde stumm eingenommen: Rehrücken, kandierte Oliven, Amarena-Kirsch, Topfen-Serviettenknödel. Dem folgte schließlich der letzte Gang – endlich, sie saßen ja auch erst seit rund zwei Stunden hier. Es war irgendein kunstvoll angerichtetes Dessert aus mehreren Bestandteilen, für April hätte es auch ein Haufen Scheiße sein können, nichts konnte sie
weniger interessieren. Höflicherweise nahm sie sogar ihren Löffel auf, obwohl sie für keine Sekunde vorhatte, etwas von dem Zeug zu essen. Ihr Mund war wie zugeklebt, die Zunge haftete scheinbar unlösbar an ihrem Gaumen, was aber gut war. Die Konzentration darauf hinderte ihre Wuttränen erfolgreich am Ausbrechen. Oh ja, keine Tränen der Verlegenheit drohten, oder weil sie – bewahre sie jemand davor – weil sie so verdammt traurig
war – nein, April war so wütend, dass sie am liebsten das edle Porzellan auf den edlen Boden, der ziemlich ausgetrampelt aussah, zerschlagen hätte. Eines nach dem anderen. So, dass alle Versammelten das Klirren und Scheppern für einen langen, sehr langen Zeitraum hätten genießen können. Ihre Faust krampfte sich um den verdammten Löffel, in dem sinnlosen Versuch, wenigstens ihn zu verbiegen und damit etwas Frust rauszulassen. Ohnmächtigen Frust, der irgendwie einen Weg suchte, weil sie sonst ersticken würde. Egal, was für eine Legierung es war, April schaffte es nicht, das Metall auch nur um einen Millimeter seiner Ursprungsform zu berauben, was sie nur noch wütender machte.
Doch das stimmte nicht ganz. Nach zehn Minuten innerlichen unaufhörlichen Gebrülls, merkte sie, dass dieser glühende, unwiderstehliche Zorn sich ein wenig legte. Nicht, dass sie deshalb weniger sauer gewesen wäre, ihre rasende Wut wurde bloß durch die rationale ersetzt. Diejenige, die sich leichter lenken ließ und bei der sie nicht ständig drohte, hoffnungslos vor den Hyänen der Brüsseler Schickeria zu eskalieren.
Als dann jemand ihr Weinglas nachfüllte – sie sah auf und entdeckte, dass es Greg war, der sie nicht aus seinen argwöhnischen, kühl musternden Augen ließ – war sie endlich in der Lage, sich wieder dem Raum und den Anwesenden insgesamt zu stellen.
Bill schien nur darauf gewartet zu haben, denn kaum war ihr Blick auf ihn gefallen – ungünstigerweise saß er ihr genau gegenüber – begann dieser Idiot wieder zu plappern.
Oh Mann!
»Es schmeckt himmlisch, oder?« Womit wohl das Dessert gemeint war. Weder Greg noch April antworteten, doch Bill scherte sich nicht darum. »Aber ganz ehrlich, noch einen Gang mehr hätte ich nicht verkraftet. Ich hatte ja gehört, dass sie gut sind, aber so gut …«
April seufzte, doch diesmal übernahm Greg die süffisante Erwiderung, was ihn in ihrem Ansehen wieder etwas steigen ließ.
»Sie hätten dir auch acht Gänge Tierinnereien servieren können, die hätten dich genauso satt gemacht«, erklärte er mit einem schmalen Lächeln. »Will sagen, es liegt wohl eher an der Masse, als an der Qualität, wenngleich ich einräumen muss, dass es hier wirklich exquisit ist.«
Bill strahlte, April fragte sich so langsam, ob der Typ Drogen inhaliert hatte, so begeistert hatte sie ihn gar nicht in Erinnerung. »Siehst du, was ich sage.« Dann schnippte er den Kellner an und bestellte die nächste Flasche Wein.
Greg versuchte abzuwehren. »Ganz ehrlich, ich bin …«
»Hey, das sind vielleicht vier Gläser, die wirst du ja wohl noch durchhalten, wo wir alle schon mal zusammen sitzen. Ich seh April so selten – eigentlich nie.«
»Dito«, erwiderte Greg lächelnd.
»Aber du hast sie noch in den nächsten Tagen, ich schätze, sie hat nicht vor, jeden Abend mit mir essen zu gehen.«
April hätte sich fast an ihrem aktuellen Schluck Wein verschluckt. Nein, ganz bestimmt nicht
!
»Sicher nicht, weil es meine
Zeit mit ihr ist«, stellte Greg klar, was April diesmal aber ärgerte. Ach, das beschloss der Affe einfach so, ja? Es könnte ja auch sein, dass sie hergekommen war, um das verdammt geile Brüssel mal einer intensiven Erkundung zu unterziehen. Hier sollte es ja so unendlich viele Sehenswürdigkeiten geben.
Arsch!
Sie warf ihm einen Blick zu, in dem er hoffentlich deutlich zu lesen bekam, dass er seinen Schwanz heute Nacht sonst wohin stecken könnte, aber ganz bestimmt nicht in sie, dann lächelte sie Bill honigsüß an. Als Rache an Greg gelang es ihr sogar ausgezeichnet.
»Ich finde auch, wir können ruhig noch ein wenig sitzen bleiben. Ich komme neuerdings so selten raus.«
»Das ist ja schade«, griff Bill das Thema sofort auf, wurde dann aber unterbrochen, weil der Kellner mit der neuen Flasche Wein an den Tisch trat. Das Prozedere, bis man das Ekelgesöff endlich trinken durfte, zog sich immer hin. Erst wurde die Flasche fachmännisch entkorkt, dann ein winziger
Schluck dem Gastgeber in einem neuen Glas gereicht. Der verteilte die Brühe gefühlte fünf Stunden in seinem Mund – was übrigens so widerlich aussah, dass April immer schnell wieder wegschaute, aus Angst, ihr ohnehin hoffnungslos überfüllter Magen würde unter dem Anblick endgültig aufgeben. Dann wurde hoheitsvoll genickt und endlich durften auch die übrigen Leute am Tisch – April und Greg – in den Genuss der in Aprils Augen ungenießbaren Flüssigkeit kommen.
Nun wurde es sogar noch schlimmer, denn als Bill den Schwall Wein ein drittes Mal im Mund von einer Wange zur anderen gespült hatte, spuckte er das Ganze doch tatsächlich wieder ins Glas.
Oh – mein – Gott!
Diesmal hätte April wirklich fast gekotzt.
Er sagte etwas auf Französisch zu dem Kellner, das sich im Tonfall schon eher nach einem McCarthy anhörte, denn es klang ausnehmend barsch und befehlsmäßig, und April rechnete tatsächlich mit einem Eklat. Schließlich ließ er offenbar den Wein zurückgehen.
Innerlich freute sie sich bereits, rieb die in der Realität flach auf dem Tisch liegenden Hände ineinander, weil sie nämlich so erst einmal gerettet wäre. Und außerdem würden sie bestimmt frühzeitig gehen, wegen des unterirdischen Service in diesem Saftladen.
Perfekt!
Zu ihrem maßlosen Entsetzen deutete der Kellner eine Verbeugung an und verschwand.
»Sorry, er war korkig«, sagte Bill und April hätte geschworen, dass er dabei näselte. Was für ein arroganter …
In diesem Moment kam der Kellner bereits wieder, die Gläser wurden ausgetauscht, das ganze Entkorkungs-und-Kost-Ritual wiederholte sich, und diesmal wurde das Gesöff sogar von Lord Kacke akzeptiert.
Mist!
Als auch ihre – frischen – Gläser aufgefüllt waren, hob Bill seines. »Auf … euch«, sagte er nach kurzer Besinnung. »Sorry, wegen der Unannehmlichkeiten, so etwas passiert schon mal.«
In ihrer Verzweiflung hielt April sich an den Wein, der allmählich in ihrem Kopf leichte Wahrnehmungsschwankungen verursachte.
Bill genehmigte sich einen Schluck und musterte sie dann ernst. »Ich glaube, das ist das ganze Problem, du igelst dich mit deiner Kleinen daheim ein«, bemerkte er weise. »
Deshalb fehlt es dir an Lebensinhalten. Früher hast du dich doch sehr in der Krankenfürsorge engagiert, oder?«
April warf Greg einen Blick zu, doch der hatte sich entspannt zurückgelehnt, zwei Finger lagen um den Stiel seines Glases, der andere Arm ruhte lässig auf seinem Oberschenkel. Woher wusste Bill das?
»Ja«, erwiderte sie schließlich zögernd, als klar war, dass Greg mal wieder nicht vorhatte, irgendwas zu sagen. »Damit könntest du recht haben, aber das lässt sich nun mal momentan nicht ändern … und es stört mich nicht«, fügte sie rasch hinzu.
Bill nickte. »Das denke ich mir auch, nur wird es dich auf Dauer eben extrem frustrieren, und natürlich wirst du deine Unzufriedenheit mit Greg’s Abwesenheit erklären. Doch in Wahrheit betreffen deine Schwierigkeiten nur dich allein, da du Stück für Stück deine Identität verlierst.«
April nahm einen Schluck von ihrem Wein, denn obwohl sie ihn wirklich nicht leiden konnte, war da was Wahres dran. Sie hatte sich tatsächlich schon so manches Mal gefragt, wer sie überhaupt war, wenn sie morgens, nach einer mit June durchwachten Nacht, durch die Gänge des leeren Hauses gestolpert war, ihr blasses Gesicht im Spiegel betrachtet und ihre strähnigen Haare gekämmt hatte.
»Weißt du, es ist ganz einfach: Die Männer verdienen bei uns das Geld und die Frauen geben es aus.« Bill lächelte. »Das klingt antiquiert und wenig fair, ist es aber nicht, sondern nur gerecht, schließlich bringt ihr die Kinder zur Welt. Natürlich« fuhr er rasch fort, bevor sie gegen diesen Mumpitz Einspruch erheben konnte, »gibt es mittlerweile auch die Konstellation, dass beide einer geregelten Arbeit nachgehen, aber das fällt zumindest momentan für euch flach. Was tust du also? Du sitzt zuhause, hütest das Baby und langweilst dich. Klar bist du unausgeglichen.«
»ICH BIN NICHT UNAUSGEGLICHEN!«, donnerte April und ärgerte sich, weil dieser Idiot ihr gegenüber triumphierend lachte – der Idiot neben
ihr übrigens auch, wie sie nach raschem Blick zu ihm entdeckte.
Das war ein verdammter Selbstschuss gewesen. Wieder spürte sie, wie das Blut ihre Wangen flutete und sie senkte hastig den Kopf. Doch sobald sie sich dessen bewusst wurde, hob sie ihn trotzig und griff erneut zum Weinglas. Sie maß die beiden jeweils mit einem vernichteten Blick. »Es ist nicht in Ordnung, in Gegenwart einer Lady über diese zu lachen.«
Sofort verstummten beide. »Das tut mir leid«, sagte Bill rasch und hob wieder die Hände. »Es war nur so offensichtlich …«
»Gut«, unterbrach April ihn unhöflich und ignorierte Greg’s stechenden Blick. Der konnte ihr gestohlen bleiben. »Ich hab ein Baby, sitze nur zu Hause, weigere mich, eine Nanny zu engagieren, weil ich das für falsch halte, und bin deshalb so gar keine von den gelangweilten High-Society-Botox-Tussis, mit denen ihr es sonst so zu tun habt.«
»Oh, das mit den gelangweilten Tussis kann so bleiben«, sagte Greg versöhnlich. Mit einem Mal war er ihr sehr nah. Sie sah, dass seine Hand sich langsam zu ihrer vorstahl. Vielleicht war der Wein daran schuld, dass sie sich ihm diesmal nicht entzog. Oder auch nur sein verführerischer Tonfall, der, ganz nah an ihrem Ohr, dafür sorgte, dass ihre Knochen zu summen begannen. Außerdem berührte er beim Sprechen mit seinen Lippen ihre Haut – wann war er ihr eigentlich so nah gekommen? –, und erst jetzt fiel ihr auf, dass sein zweiter Arm sich um sie geschlungen hatte
.
»Du baggerst mich an«, stellte sie mit Seitenblick zu ihm fest.
»Du bist meine Frau.«
»Trotzdem baggerst du.«
»Ja«, erwiderte er nur, und sie schnaubte, ließ sich dann aber küssen, wenn sie auch sofort ihren Kopf wieder zurücknahm. Frech blickte sie ihm in die funkelnden Augen, sah, wie er die Lippen aufeinanderpresste und grinste.
»Wir sind nicht unter uns, Baby.«
»Wollte ich auch gerade sagen«, rief Bill – die nervende Stimme aus dem Hintergrund. April blendete ihn einfach aus. Inzwischen hatte sich auch an den anderen Tischen das Stimmengewirr erhoben, sie hatten wohl alle ihre acht Gänge hinter sich gebracht. Aber keiner machte Anstalten zu gehen, stattdessen begannen die Leute jetzt vermehrt, spontan zu den mittlerweile lauteren Klavierklängen zu tanzen. Es hätte albern sein müssen, doch als April die vielen lachenden und sich sichtlich amüsierenden, ausgelassenen Paare beobachtete, die sich geschickt zwischen den Tischen bewegten, stieg Neid in ihr auf. Sie hätte gern mal wieder getanzt, nicht unbedingt zu solcher Musik und auch nicht in einem solchen Ambiente und vor solchem Publikum. Ihr schwebte eher ein dunkler Club vor, in dem die Wände von den rockigen Klängen vibrierten, in denen man die Pärchen dicht bei dicht stehen sah, jeder ein Glas in der Hand, in dem sich garantiert kein trockener Wein befand. Einer dieser Clubs, in denen sich verschwitzte, aber verdammt heiße Männer ihren Weg durch die Menschenmenge bahnten und wie zufällig die verdammt heißen Frauen berührten. Wo man tun und lassen konnte, was man wollte, weil jeder mit sich selbst beschäftigt war und sich einen Scheiß darum scherte, was die anderen taten. Dort, wo man abhängen konnte und tanzen und relaxen und … die Welt vergessen.
»Du hast recht«, sagte sie, zu Bill aufsehend. Greg hatte sie inzwischen wieder losgelassen und hielt sich an sein Weinglas. »Ich bin nie sehr häufig ausgegangen, aber oft genug, damit es mir jetzt fehlen kann.«
»Ach so?«, erkundigte Greg sich und sie musterte ihn scharf.
»Du wirst es nicht glauben, Mister Obermacho, aber es gab auch ein Leben vor dir. Und wenn ich mich recht erinnere, haben wir uns in einer Bar kennengelernt. Du durchschaust das Muster?«
»Was einer der weniger schönen Aspekte in der Chronik unserer Beziehung ist«, erwiderte Greg, der sie so langsam ehrlich nervte.
»Ja, aber eine Tatsache. Nur weil du sie verschweigst, ist sie nicht weniger wahr!«, fuhr sie ihn an. Oh Gott, heute reizte er sie bis aufs Messer. Allein dieses geschwollene Gequatsche. Gut, das Blitzen seiner Augen war heiß, aber es war auch eine Drohung und April ließ sich nicht gern bedrohen. Sie würde schon nicht ruchbar
machen, dass sie im Anschluss knapp zwei Tage wie die Tiere durchgefickt hatten, um dann auch noch in irgendeiner heruntergekommenen Atlantic-City-Wedding-Church zu landen.
Seinem Blick ausweichend, welcher ihr pausenlos irgendwelche ungesagten, aber ganz bestimmt nicht freundlichen Informationen sandte, wandte sie sich Bill zu, der ihre Auseinandersetzung amüsiert beobachtet hatte.
»Wie du siehst, stimmen wir nicht in allem überein …«
»Was – denke ich – ganz normal ist«, erwiderte er lächelnd und hob sein Glas. »Ich finde, ihr seid ein schönes
Paar.«
»Na, wenigstens einer«, knurrte Greg neben ihr, nahm aber auch sein Glas und trank einen guten Schluck.
»Auf euch!«, rief Bill wieder so begeistert, wie er es schon den ganzen Abend über gewesen war.
Sie nahm den nächsten großen Schluck Wein, und diesmal spürte April eine deutliche Wirkung in ihrem Kopf. Die lange Abstinenz hatte dafür gesorgt, dass sie nicht mehr annähernd so viel Alkohol vertrug, wie vor der Schwangerschaft.
»Also ich werde das beherzigen«, sagte sie, nachdem sie ihr Glas etwas zu schwungvoll abgestellt hatte und betrachtete Bill durch glasige Augen.
»Was?«
»Ich werde ausgehen.« Bekräftigend nickte sie. »Ich kann ja nichts dafür, wenn er …« Sie deutete mit dem Daumen neben sich, ohne sich die Mühe zu machen, Greg auch anzusehen. »… so gut wie nie da ist. Deshalb muss ich ja nicht versauern!«
»Das nenne ich mal eine hervorragende Einstellung!«, jubelte Bill.
»Ich auch«, sagte April. Die beiden prosteten sich zu – ob Greg auch trank, wusste sie nicht genau – und grinsten sich dann an. Endlich war sie auch mal mit jemandem im Bunde. Es fühlte sich ein bisschen fies an, aber auf jeden Fall sehr gut.
»Ich werde mir eine Nanny besorgen, und dann werde ich die Clubs unsicher machen. Natürlich so, dass keine Klagen kommen.« April kicherte. »Also du brauchst keine Angst zu haben, wegen schlechter Presse oder so.«
»Das halte ich für eine ebensogute Einstellung«, erwiderte Bill, nun eine Spur ernster.
April kicherte erneut und nickte heftig, bevor sie abermals zum Glas griff und einen großen, sehr großen, Schluck Wein nahm. »Das finde ich echt geil, Bill! Dass wir beide mal einer Meinung sind. Haut mich fast um!«
Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu und leerte ihr Glas. Erst, als sie es wieder abgestellt hatte, ging ihr auf, dass die beiden Männer am Tisch sich nicht gerührt hatten. »Wasis los? Keinen Durst mehr?«
Für einen langen Moment herrschte weiterhin Stille, dann räusperte sich Greg – der kleine, dreckige Verräter, der heute Nacht garantiert keinen Sex mehr bekommen würde – neben ihr.
»Ich glaube, wir fahren jetzt heim. April hatte genug Wein.«