99. Kapitel
April
»Sei du selbst.«
Das war ein perfekter Ratschlag, den April nur zu gern befolgt hätte, nur schnürte ihr die Angst die Kehle zu. Bis zu diesem Moment hatte sie nicht gewusst, dass sie vor diesem verdammten Filthy-Finger-William eine Scheißangst hatte. Jetzt war sie schlauer. Hilflos klammerte sie sich an Greg’s Hand fest, ignorierte das Raunen, das bei ihrem Eintreffen eingesetzt hatte, und kämpfte gegen die Atemnot an, die allmählich so mächtig wurde, dass sie schwarze Flecken vor ihren Augen aufploppen sah.
Greg drückte ihre Hand und zog sie langsam durch die Menge, bis sie seine Eltern entdeckten. Doch bevor sie zu ihnen herantreten mussten – auch darauf konnte April gut und gern verzichten –, stellte sich ihnen Filthy-Finger-William in den Weg. Sie biss die Zähne zusammen, befahl sich, gleichmäßig zu atmen, und setzte ein Lächeln auf, von dem sie wenigstens hoffte, dass es locker und leicht aussah.
William hatte sich wie immer glänzend unter Kontrolle und war wie immer blendender Laune. »DA sind sie ja endlich!«, sagte er mit seiner sonoren Stimme und breitete die Arme aus. Doch ihr entging das kalte Blitzen seiner Augen nicht, als sein Blick auf sie fiel. »Mein Junge«, wurde Greg begrüßt. Neben eines herben Schlags auf die Schulter. »Und die kleine Lady.« Damit war sie gemeint. Er nahm ihre Hand und küsste deren Rücken, was so kalte Schauder durch ihren Körper jagte, dass April für einen widerlichen Moment glaubte, endlich doch in Ohnmacht zu fallen. Sie bekam kaum Luft, und Greg’s Hand, die ihre unermüdlich hielt, half auch nur noch bedingt.
»Wo ist denn die kleine süße June? Noch bei der Nanny?«
»Nein, sie hat einen leichten Infekt und muss der Party leider fernbleiben«, erwiderte Greg und hob eine Braue.
William musterte ihn, sein Mund lächelte und seine Augen sandten Blitzpfeile aus. »Tja, wenn das so ist, dann können wir es nicht ändern. Die Gesundheit geht nun einmal vor.«
Er nahm Greg und April links und rechts an seine Seiten und drehte sich in der Menge um. »Meine Lieben, die heimlichen Stargäste sind endlich eingetroffen. Mein Neffe Greg mit seiner strahlenden jungen Frau.«
Höflicher Applaus brandete auf, für April erschien es wie eine verschwommene Masse, sie nahm kaum eines der Gesichter wahr. Was womöglich daran lag, dass alle in Weiß, maximal in einem Pastellton gekleidet waren, während die unnatürlich gebräunten Gesichter, Hände und Beine so extrem hervorstachen, dass man sich kaum auf die einzelnen Personen konzentrieren konnte. Das verwirrende Schönheitsideal der oberen Zehntausend – sie würde es niemals ganz begreifen.
»Und jetzt kommen wir zu den wahren Stargästen«, rief William in seiner unerschütterlichen Gemütlichkeit. Er bildete vor dem Mund eine Art Sprechrohr. »Meine Herrschaften, ich bitte alle Hochzeitsgäste, im angrenzenden Park auf den Stühlen Platz zu nehmen«, intonierte er. Einige lachten höflich. »Mein Sohn wird demnächst zum Schafott geführt. Ihr wisst schon, das mit den Lilien und Tauben.« Wieder erscholl Lachen, obwohl keiner der Anwesenden amüsiert klang.
April klammerte sich noch etwas fester an Greg, während dieser sich durch die Menschenmenge schob. Auf dem hübsch angelegten Weg, der weiträumig um das Haus führte, bis sie genau die Rückseite vor sich hatten. Jene, wo sich die Personaleingänge befanden.
»Mir wird schlecht«, sagte April und Greg musterte sie stirnrunzelnd.
»Egal, was du tust, kotz bitte nicht«, knurrte er.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass wir die verdammte Zeremonie mitmachen müssen?«
»Weil ich dachte, das verstünde sich von selbst.«
Als April diesen Teil des Hauses zuletzt gesehen hatte, war er ihr im Vergleich zur offiziellen Seite des riesigen Gebäudes leicht schäbig vorgekommen. Doch was immer damals diesen Eindruck vermittelt hatte, es war verschwunden. Der kleine Vorplatz mit den leicht schiefen Pflastersteinen war nun gesäubert und mit etlichen riesigen Blumenkübeln ausgeschmückt worden, in denen sich Lilien und Rosen in exakt zwei Schattierungen befanden – Pink und Weiß. An jenem Tag hatte April nur die niedrige Tür gesehen, aber nicht den, einem Portal ähnlichen, Eingangsbereich links daneben, zu dem eine breite Treppe hinaufführte.
»War der schon immer hier?«
»Es war früher der Haupteingang, bis William das gesamte Gebäude umbauen ließ. Jetzt liegt er längsseits. Aber dieser hier wird immer noch für … Na ja, du siehst ja, wofür er genutzt wird.«
Die schnatternde Menge strebte währenddessen zu den Sitzen, die scheinbar endlos auf der davor liegenden grünen Wiese aufgereiht waren. An deren Front hatte man eine Empore errichtet, ähnlich des Podiums für die Band auf der anderen Seite des Hauses. Auf dieser stand jedoch ein kleiner Altar und das unter – jetzt kämpfte April wirklich mit Atemnot – unter einem Rundbogen . Mit Lilien und Rosen in den gleichen zwei beknackten Farbtönen, wie schon auf dem Vorplatz. Und wenn sie nicht alles täuschte, dann würden diese Irren auch noch Tauben fliegen lassen.
»Oh! Mein! Gott!«, stöhnte sie, und Greg sah sie mitfühlend an.
»Halt durch, Baby, halt durch. Wir werden es schaffen, ich bin bei dir.«
Na ja, wenn er meinte.
Greg führte sie leider nicht in die letzte Reihe, die April bevorzugt hätte, sondern in die erste – vorbei an all den tuschelnden Leuten, die sie anstarrten, als hätten beide jeweils drei Nasen im Gesicht. Das meiste waren – wie April wusste – Familienmitglieder, deshalb waren sie schließlich hier. Um Einigkeit zu demonstrieren.
Ha!
Sie bemühten sich nicht mal, etwas leiser zu sprechen. Auch wenn durch die Summe der Worte keines deutlich zu verstehen war, prickelten sie in Aprils Nacken, und sie hätte so ungefähr alles darum gegeben, hier endlich abhauen zu können.
Neben George und Ginger McCarthy, die ebenfalls Platz genommen hatten, setzten sie sich schließlich. April hätte sich am liebsten erschöpft über die Stirn gewischt, was aber ihr Make-up rettungslos versaut hätte. Sie versuchte, die Szene vor sich aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, denn sie war so … so unendlich kitschig. In diesen Minuten entschied sie, auf eine Wiederholung ihrer Hochzeit ehrlich verzichten zu können. Denn ihre war real gewesen, und weil sie beim ersten Mal nicht daran geglaubt hatten, war sie noch einmal wiederholt worden. Auf die gleiche, unkonventionelle Weise – aber dafür wieder echt. Dieses Theater, das hier für die schätzungsweise 1000 Menschen aufgeführt wurde, das war unecht, das war nichts, das war reine Show. Als sie das Blitzen bemerkte, ging ihr auf, dass heute auch Reporter anwesend waren – vermutlich handverlesen. Selbst das konnte sie momentan nicht ängstigen. Alles war ihr mit einem Mal egal. Ihre Hand lag in Greg’s, der mit dem leicht spöttischem Zug um den Mund den Geschehnissen vor ihnen folgte, wo übrigens noch gar nichts geschah. Erst, als ein Typ im weißen Frack nach vorn trat und sich an den ebenfalls weißen Flügel setzte, regte sich überhaupt irgendwas. Ein Raunen ging durch die Menge, da endlich der Bräutigam Einzug hielt.
In schwarzem Frack – Gott, der Typ sah aus wie ein Pinguin –, doch das war nicht alles. Nachdem April das Gesicht des Cousins ihres Mannes näher betrachtet hatte, sah sie ungläubig zu Greg. Der musterte sie mit erhobenen Augenbrauen.
Sie winkte ihn zu sich hinab und flüsterte ihm ins Ohr. »Ist der geschminkt? Guck doch mal!«
Greg zuckte nur mit den Achseln und sah wieder nach vorn, doch diesmal lächelte er tatsächlich.
Sanft …
Abermals sah April nach vorn, wo sich neben Bill auch zwei weitere Männer eingefunden hatten, deren Ähnlichkeit mit dem Bräutigam zu gravierend war, als dass Zweifel an ihrer Identität hätten aufkommen können. Dies waren wohl die Brüder. April konnte sich beim besten Willen nicht mehr an die Namen erinnern und nannte sie daher Frack 2 und 3.
Frack 2 hatte blonde Haare – schlug wohl nach der Mutter – und wirkte wegen der Sommersprossen mit Abstand am Unattraktivsten. Doch zurück zu dem Bräutigam, der das Gesicht auffällig gesenkt hielt – na ja, kein Wunder, denn wenn man genau hinsah, was April tat, dann konnte einem nicht entgegen, dass links und rechts von seiner Nase schwarze Schatten waren. Schatten, die dort nicht hingehörten. Auch seine Augen schienen irgendwie dunkler als sonst, und damit bezog sich April auf den Bereich darum, nicht auf die Augenfarbe. Ganz ehrlich, ihr war furchtbar egal, ob dieser widerliche Mann nun blaue oder braune oder rote Augen hatte, obwohl Letzteres wohl am besten zu ihm und seinem Wesen gepasst hätte. Zu der ganzen Sippe hier, außer zu ihrem Mann, natürlich. Als sie Greg wieder ansah, blickte sie direkt in sein grinsendes Gesicht, und endlich ging ihr ein Licht auf. Es kostete April eine Menge Beherrschung, um nicht in ein lautes Kichern auszubrechen. Außerdem wurde sie von einer warmen Woge des Stolzes heimgesucht. Er hatte sie doch gerächt!
Nein, April hatte nicht mehr viele Gedanken an die Ohrfeige verschwendet, die sie von Bill gefangen hatte – er erschien es ihr einfach nicht wert, sich näher mit ihm zu beschäftigen. Wenn überhaupt, aber, dann hatte es sie geschmerzt, dass Greg ihn nicht auf der Stelle getötet hatte. Taktik hin oder her, und was er ihr sonst noch immer erzählte, wenn es um unüberlegte Handlungen ging. April hätte es für sehr gut, richtig und wichtig erachtet, wenn Greg im Moment seines Eintretens eine Knarre aus der Tasche gezogen und ihn erschossen hätte – sie hätte auch den Fluchthelfer gespielt. Und wenn schon nicht erschießen – April war im Grunde kein mordhungriger Mensch –, dann hatte er ihrer Meinung nach wenigstens ebenfalls Prügel verdient. Dass ihr Mann und Beschützer – so sah sie ihn jedenfalls – so gar keine Anstalten gemacht hatte, Bills Handgreiflichkeiten zu bestrafen, das hatte wirklich an ihr genagt. Welche Frau wollte schon einen Mann, der zusah, wie sie misshandelt wurde, ohne den Verbrecher umgehend dafür zur Rechenschaft zu ziehen?
Nun zu sehen, wie gründlich Greg sie gerächt hatte, machte sie glücklich, und es verlieh diesem bisher für sie verlorenen Tag eine gewisse Legitimation. Wären sie nicht hier, dann hätte sie niemals davon erfahren, dass Greg tatsächlich ihr Held war. Und vielleicht hätte dieser winzig kleine Dorn für immer und ewig in ihr genervt. Sie entspannte sich, fühlte die widerliche Nervosität von sich weichen wie einen viel zu großen Mantel, den sie sich ohnehin nur widerstrebend übergeworfen hatte. Solange Greg bei ihr war, konnte ihr nichts passieren. Nun war sie davon überzeugt.
Der Pfarrer kam – erwartungsgemäß handelte es sich um einen sehr seriös wirkenden, älteren, grauhaarigen Geistlichen, ähnlich jenem, dem sie aufgrund Junes Spontangeburt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bis an sein Lebensende die gemeinsten Albträume beschert hatte. Milde lächelte er auf die Gemeinde herab, die Hände zum Gebet vor seinem Bauch zusammengefaltet. Dann begann endlich der Pianist auf seinem Instrument zu klimpern. Er spielte tatsächlich Wagners Marsch, was in Aprils Augen, das so ungefähr Schlimmste war, was einem bei einer Hochzeit geschehen konnte.
Genau in diesem Moment fiel ihr die erste Einzelheit ihrer ersten Hochzeit ein, weitere folgten innerhalb von Sekunden. Es war, als hätte sich ein Schleier, der sich über ein Jahr trotzig über die Erinnerungen gesenkt hatte, aufgrund des Wagner-Schocks urplötzlich gelöst.
Sie war unter ›Love me tender‹ den Gang der kleinen Kapelle entlanggeschritten, wobei sie erstens kichern musste und zweitens vergeblich versuchte, irgendeinen Takt beim Gehen zu finden – was bei dem langsamen, tragenden Song schlicht unmöglich gewesen war. Mit einem Mal wusste April wieder, dass Greg am Ende des Gangs gestanden hatte. Mit diesem spöttischen Grinsen auf dem Gesicht, kleinste Zweifel waren auch da gewesen. Vielleicht nicht unbedingt an dem, was sie gerade im Begriff waren zu tun, eher hatte er sich wohl gefragt, wie zur Hölle er in diesen Raum gekommen war und … wer sie überhaupt war … er auch, der ältliche, abgehalfterte Typ in dem schlecht sitzenden Anzug, der neben ihm stand, oder die grell geschminkte Frau mit Dauerwelle, die den billigen CD-Player bediente.
Aber als April zu ihm getreten war – in ihrer Jeans und ihren Boots und ihrem Shirt – da hatte Greg ihre Hand ergriffen, genau so, wie er sie jetzt hielt, hatte sie fest in seine genommen und sie noch zusätzlich kurz gedrückt, was ihr, die sie sich selbst ähnliche Fragen gestellt hatte, die erforderliche Zuversicht verliehen hatte, diese Scheiße durchzuziehen.
Und es war … episch gewesen. Unverwechselbar, himmlisch … so wahr, so richtig, so … Schicksal!
Gott sei Dank waren die Erinnerungen zurückgekehrt, denn das war ihre wahre Hochzeit gewesen, nicht der verunglückte Krampf auf dem Rücksitz seines SUV, während June mit aller Macht auf die Welt gestrebt hatte. Die Polster waren übrigens zwischenzeitlich ausgetauscht worden .
Wagners Marsch war nicht das Schlimmste.
Es wurde sogar noch viel, viel grauenvoller, und das unter einer Sonne, die unbarmherzig ihre sengende Hitze auf die Gäste verteilte, sodass die Make-ups zusehends zerflossen. Bald hatte April den Eindruck, sich in einer Zombieshow zu befinden.
Die Braut kam am Arm eines älteren Mannes – offenbar handelte es sich um ihren Vater. Zunächst wurde April die Tatsache nur bewusst, weil das übliche »Ah« und »Oh« der Gäste einsetzte. Dann sah sie erst einmal das Kleid.
Also nur das Kleid, denn jenes Gebilde, in das man die eher fragile Gestalt gezwängt hatte, war so gewaltig, dass sie davon geradezu verschluckt wurde. Weiße Spitze überall, der Rock bestand aus mindestens fünf Lagen, und dabei war das Ganze noch verstärkt worden. Mit Fischgräten, vermutlich, sodass das Korsett einen festen und – so wie es aussah – steinharten Panzer aus Spitze, Perlen, Stickereien und Gräten darstellte. Die Schleppe war circa fünf Meter lang und wurde von nicht weniger als zehn Blumenkindern im Alter von ungefähr fünf Jahren getragen. Sie wirkten wie menschliche Roboter, weil sie erstens sauber, zweitens stumm und drittens offensichtlich nicht in der Lage zu lächeln waren.  Ihnen folgten vier Brautjungfern, die in pinkfarbene Bonbonkleider gehüllt waren und aussahen wie zum Leben erweckte Schaufensterpuppen. April kannte diese Katherine nicht, aber sie spendete ihr spontan Mitleid, weil es unter all dem Tüll unglaublich heiß sein musste. Da sie unter diesem Gewicht nur sehr langsam gehen konnte, musste der arme Pianist den Marsch um die fünf Minuten spielen, bis sich die Braut endlich neben ihrem zukünftigen Mann eingefunden hatte.
Als Nächstes konnte April nur diese unglaubliche Frisur anstarren. Offensichtlich handelte es sich um Katherines eigenes Haar, das zu einer überdimensionalen Lockenpracht auf dem eher kleinen Kopf der Frau aufgesteckt und zu allem Überfluss auch noch mit jeder Menge weißer Perlen verziert worden war. Man musste unwillkürlich dorthin stieren, weshalb der Effekt irgendwie versaut wurde, weil das Gesicht der Braut total nebensächlich war.
April zwang sich trotzdem, sie direkt anzusehen, schon, um zu erfahren, was für ein Typ Frau Schläger-Bill ab sofort die Kinder zu gebären und ansonsten zu gehorchen hatte.
Sie war hübsch, unter den Tonnen von Make-up vielleicht sogar schön. Aus eigener Erfahrung wusste April, dass man mit ein wenig Farbe im Gesicht eine Menge erreichen konnte. Nur dass bei der Braut über das Ziel hinausgeschossen worden war – hier war garantiert nicht Miss Shaw am Werk gewesen. Denn was bei April natürlich wirkte, verlieh der Frau, die soeben vor den Traualtar getreten war, ein puppenhaftes, künstliches Aussehen. Hätte man sie nicht laufen gesehen, wäre man möglicherweise zu der Annahme gelangt, sie wäre die überdimensionierte Marzipan-Figur für die verdammte Hochzeitstorte. Das leichte Lächeln, das sie mit den blutrot geschminkten Lippen gebildet hatte, tat sein Übriges. Na ja, wenn schon der Bräutigam geschminkt war …
Endlich stoppte die Klaviermusik und der Geistliche fing an zu reden. Es war das übliche Geseier, das man auf einer Hochzeit zu hören bekam. Vom Lieben und Ehren war die Rede, vom Tod, der das Desaster irgendwann mal scheiden würde, und dass die Liebe eines Tages die Welt retten würde. Bald ließ April ihre Aufmerksamkeit schweifen und sah sich stattdessen auf dem Teil des Grundstücks um, den sie gerade betrachten konnte, bestaunte die perfekte Architektur des Rundbogens, fragte sich, wie die Hochzeitsausstatter es hinbekommen hatten, dass die Pflanzen unter der sengenden Sonne nicht sofort welkten und gleichfalls, ob sie selbst inzwischen genauso abartig stank, wie der Kerl hinter ihr. Sie konnte ihn zwar nicht sehen, sein Schweißgeruch driftete aber so penetrant zu ihr nach vorn, dass sie bald mit ernsthaften Atemschwierigkeiten zu kämpfen hatte.
Als alles zu jubeln begann, sah April wieder nach vorn und hätte fast laut gelacht, denn der Kuss der Liebenden fiel sehr, sehr kurz aus – offenbar wusste der Bräutigam nicht genau, wo er die Kunstfigur Katherine, die Braut berühren durfte. Am Ende drückte Bill seine widerlichen Lippen rechts und links auf ihre Wangen – es wunderte April, dass sein Mund von all dem Make-up danach nicht weiß war. Und schließlich … hob Katherine in einer Art triumphierender Geste den rechten Arm, in dessen Hand sich der Brautstrauß befand. Aus dem schmalen Lächeln war nun ein etwas breiteres geworden.
Irgendwo in der Ferne wurden dröhnend fünf Kanonenschüsse abgegeben. Ab diesem Moment kämpfte April mit einem anhaltenden Lachkrampf und klammerte sich an Greg fest, der – wie üblich – seine Züge perfekt unter Kontrolle hatte. Nur seine Augenbrauen waren zweifelnd erhoben. Als Nächstes ertönte ein Geräusch, das April zuerst nicht einordnen konnte, bis geschätzte drei Millionen weiße Tauben vom Haus her über die Rasenfläche flogen. Später sollte sie erfahren, dass es genau fünfzig gewesen waren. Aber in den wenigen Sekunden, in denen sie an den Gästen vorbei stoben – glücklicherweise nicht über sie hinweg –, fühlte sich April grausam an den Hitchcock-Klassiker erinnert.
Dann nahm der Bräutigam seine Braut am Arm und führte sie langsam den Gang entlang – sie konnte in dem zentnerschweren Gebilde von Brautkleid inzwischen nur noch schleichen –, und sie waren erlöst.
Als Greg seine Frau endlich ansah – die anderen Gäste erhoben sich in Windeseile von den Sitzen, vermutlich, um so schnell wie möglich der Sonne zu entkommen und den Rest ihrer Make-ups zu retten –, grinste er.
»Und, Lust auf eine echte Wiederholung?«
April neigte den Kopf zur Seite, tat, als würde sie überlegen, sogar einen Zeigefinger legte sie auf ihre Lippen, und erst, als seine Gesichtszüge merklich entglitten, lachte sie leise. »Nie im Leben!«
»Gott sei Dank!«, brach es aus ihm heraus.
Dann half er ihr beim Aufstehen und führte sie zurück zur anderen Seite des Hauses, wo die Party nun begonnen hatte. Die Mitglieder der Band, die für die Livemusik sorgen würde, hatten sich auf ihren Plätzen eingefunden und ihre Instrumente zur Hand genommen. Ein Kellner nötigte Greg und April ein Glas Champagner auf, und als sie den kritischen Blick ihres Mannes sah, musste April schon wieder kichern. »Keine Sorge, ich werde mich schon nicht besaufen und dich lächerlich machen.«
William trat hinter das Mikrofon und breitete die Arme weit auseinander. April konnte nur den Kopf schütteln, weil ihr nicht in denselben wollte, wie ein Mann so unsagbar gut aussehen und in Wahrheit so ein niederträchtiger Filthy-Finger sein konnte. Als er sprach, seine Stimme entgegen ihrem Willen sofort einen wohligen Schauer auf ihrer Haut auslöste, meinte sie, dass genau dies seine gesamte Magie war. Das Geheimnis seines Erfolges, sozusagen: Diese Ausstrahlung, diese unglaubliche Fähigkeit, die Menschen in seinen Bann zu ziehen. Auch George McCarthy sah enorm gut aus, doch ihm fehlte diese verbindliche Art, das Können, jeder Person den Eindruck zu vermitteln, sie – genau sie – wäre am Wichtigsten von allen hier Versammelten.
Filthy-Finger-William brachte es fertig, dass sogar April für ein paar Sekunden vergaß, welches Monster sie tatsächlich vor sich hatte – als er anfing, auf seine entwaffnende Art zu den Gästen zu sprechen. »Willkommen! Herzlichen Dank, dass ihr alle gekommen seid, um dabei zu sein, wenn mein Ältester seine wundervolle Braut zu seiner Frau macht. Wenn euch die Sonne zusetzt, dann denkt immer daran, wie verdorben der Tag bei Regenwetter gewesen wäre. Außerdem hätte Katherine dem armen Bill die Hölle heiß gemacht, wenn die Zeremonie im Innern hätte stattfinden müssen. Gönnt ihm seine Hochzeitsnacht, er musste sehr lange darauf warten.« Obwohl April, die sich aus dem Filthy-Finger-William-Einfluss bereits wieder gelöst hatte, nicht den geringsten Witz erkennen konnte, lachten die Leute. Das war keine Show, sie waren wirklich von dem Müll angetan, den er absonderte.
»Lasst uns die Gläser auf das Brautpaar erheben!«, rief er gerade pathetisch. Seine Hand, an deren Ringfinger ein riesiger, silberner Siegelring prangte, hatte sich erhoben und er wandte sich an das edle Brautpaar, das es endlich an seine Seite geschafft hatte. April fand, Katherine wirkte inzwischen leicht erschöpft. Alles hob auf Geheiß des Familienoberhauptes sein Glas und April war froh, als sie die perlige Flüssigkeit endlich in ihrem trockenen Mund spürte – auch wenn das Zeug mal wieder wie abgestandene Füße schmeckte. Sie schloss die Augen, weil sich die Kühle des Champagners mit ihrem aufgeheizten Kopf für einen langen Moment einen Kampf lieferte, und lehnte sich in Greg’s schützenden Arm, der sich um ihre Schultern verfestigte.
Ja, so war es gut.
Dann begann die Band zu spielen, und das Brautpaar fand sich zum Eröffnungswalzer auf der Tanzfläche ein. Staunend verfolgte April, wie die Braut trotz des Kleides tatsächlich recht anmutig tanzte. Auch das war übrigens eine einstudierte Show. Sie strahlte den gut aussehenden, aber leider geschminkten Bräutigam an, der strahlte zurück – die beiden wirkten wie Barbie und Ken auf ihrer Plastikjacht. Als sich auch andere Paare zu ihnen gesellten, meinte April, Erleichterung in beiden Gesichtern zu sehen.
Greg nahm ihr das Glas ab, stellte seines mit ihrem auf einen Tisch und vollführte eine leichte Verbeugung. Seine Augen blitzten. Mit Sicherheit war Spott darin zu finden, aber auch der echte Wunsch, weshalb April ihm seufzend ihre Hand reichte. Auf der Tanzfläche legte er seine Hand auf ihren Rücken, die andere hielt ihre und sie bewegten sich zu der Melodie, als hätten sie nie etwas anderes getan. Es war leicht mit ihm zu tanzen, weil er so sicher war, und sie sich deshalb geborgen fühlte. Noch immer spürte April die Blicke der Gäste auf sich und konnte diesmal sogar darüber lächeln. Denn egal wie, April war davon überzeugt, dass sie ein schöneres und harmonischer wirkendes Paar abgaben, als jenes, wegen dem sich heute diese vielen Menschen hier versammelt hatten. Sie schloss die Augen, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und zwang ihn so, das Tempo zu verringern, was er ohne Widerstand geschehen ließ. Bald war egal, welches Stück gerade gespielt wurde. Die beiden bewegten sich kaum noch, seine Hand fuhr an ihrem Rücken zärtlich auf und ab, seine Lippen berührten ihre Schläfe, und irgendwann hörte sie ihn leise lachen und dann seine atemberaubende Stimme, die sich sofort in jeder Faser ihres Körpers festsetzte.
»Gott, du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich liebe.«
April schmiegte sich noch fester an ihn, verdrehte unter ihren Lidern genüsslich die Augen und küsste seinen Hals. Sie sagte nichts, weil sie fand, ihm ihre Liebe schon unzählige Male gestanden zu haben. Jedes Wort hätte diese besondere Atmosphäre nur zerstört .
Als auch das dritte Lied geendet hatte, sahen sich die beiden gezwungen, ihre kleine Realitätsblase zu verlassen. Auch nicht länger zu ignorieren waren die Blicke, die ihnen folgten, egal, was sie taten. Kurzerhand retteten sie sich zu einer der vier Bars, an denen dafür gesorgt wurde, dass die Gäste nicht auf dem Trockenen saßen. Nach einem fragenden Blick zu seiner Frau bestellte Greg zwei Champagner. Sie ließen ihre Gläser aneinanderklirren und Greg grinste. »So schlimm ist es doch gar nicht.«
Nein, das war es nicht, was April verwunderte. Selbst die starrenden Blicke waren irgendwie witzig, wenn man sich erst mal daran gewöhnt hatte. Hey! Sie waren die Stars! Inmitten all dieser wunderschönen Menschen – wirklich es gab nicht einen, der ernsthaft hässlich war –, inmitten all dieser millionenschweren Leute und des Brautpaars, waren tatsächlich sie es, die am meisten Aufmerksamkeit erregten. Darauf konnte man sich doch was einbilden!
Es war vielleicht etwas zu lauschig, das hätte ihr gleich klar sein müssen, denn keine zehn Minuten später stieß Filthy-Finger-William zu ihnen. Lächelnd und begeistert wie immer. »Da sind sie ja!«, sagte er mit seiner wohlklingenden Stimme. »Ich hoffe, ihr amüsiert euch?«
»Wie könnte man sich hier nicht amüsieren?«, erwiderte Greg lächelnd und April beneidete ihn für seine Coolness. Denn sobald dieser widerliche Mann in ihrer Nähe war, brachte sie keinen Ton mehr zustande. Angst schnürte ihr die Kehle zu und sie meinte, wieder diese widerlichen Finger in sich zu spüren. Würde sie das denn niemals ablegen können?
»Das freut mich«, erwiderte William. Dann lächelte er April an, der fast das Herz stehenblieb. »Ich hoffe, du kannst dich für ein paar Minuten allein unterhalten, denn ich will deinen Mann kurz entführen.«
Keine Frage, es handelte sich um eine reine Information; er hatte Greg bereits am Arm gegriffen.
»Was?«
»Bin gleich zurück«, sagte Greg, der nicht im Mindesten überrascht wirkte. Sein Blick war warnend und schien zu sagen: ›Bleib ruhig, ich kläre das schon.‹
»Okay«, hauchte April und sah ohnmächtig zu, wie die beiden unglaublich schönen Männer durch die Menge verschwanden.
»Mist!«, murmelte sie und griff geistesabwesend nach ihrem Glas. »Verdammter Scheiß!«
»Na, na, na«, sagte eine Stimme neben ihr, und als sie aufblickte, entdeckte sie Katherine, die Braut, die plötzlich neben ihr aufgetaucht war. »Was ist los?«
April rang sich ein Lächeln ab. »Nichts, was soll sein?«
Katherine grinste – es wirkte in dem Puppengesicht beängstigend unnatürlich. »Dann ist ja gut.«