103. Kapitel
Helen
Als Helen an diesem Abend, Ende Juli, in die abendliche Sonne der Bronx trat, fühlte sie sich, als wäre eine Zentnerlast von ihren Schultern gefallen. Nie wieder würde sie die Kanzlei betreten, deren Tür sie gerade in ihrem Rücken gelassen hatte.
Am Montag würde ihr neues Leben beginnen – oder zumindest ein Abschnitt davon. Nachdem April ihn ordentlich bearbeitet hatte, da gab sie sich keinen Illusionen hin, hatte Greg seine Kontakte spielen lassen und sie in der Rechtsabteilung von Daddy Georges Firma untergebracht. Nicht alles wurde an Kanzleien weitergegeben, kleinere Reklamationen und Beschwerden der amerikanischen Kundschaft betreute man direkt. Es würde ihr Spaß machen, dort tätig zu sein. Ihr Chef wirkte zwar, als hätte er den legendären Stock im Arsch und war uralt, aber er machte einen kompetenten Eindruck und launisch schien er auch nicht zu sein. Außerdem war das Gehalt so hoch, dass ihr auch das Gegenteil egal gewesen wäre. Sie würde fast das Dreifache verdienen, als sie hier monatlich bekommen hatte.
Bei diesem korrupten Arsch!
Lächelnd ging sie in den Starbucks direkt neben der Kanzlei, in dem sie sich an jedem Abend einen Macchiato kaufte. So hatte sie es seit dem Tag gehalten, an dem sie hier angefangen hatte, und so wollte sie es auch noch an ihrem letzten tun. Derartige Rituale liebte Helen. Sie, die in dem unsteten Künstlerhaushalt ihrer Eltern aufgewachsen war, hatte immer eine gewisse Beständigkeit bevorzugt. Nicht in Sachen Männer, nun ja, wenigstens viele Jahre lang nicht. Aber in ihrem Leben. Das war auch der Grund, weshalb sie so lange in dieser Kanzlei gearbeitet hatte. Es wären in ein paar Wochen sieben Jahre gewesen. Sieben
verdammte Jahre an ein und demselben Arbeitsplatz. Mit 19 hatte sie hier begonnen, frisch von der Highschool und dem Elternhaus in die City des stinkenden New York gekommen. Ganz ohne Abschluss, den hatte sie inzwischen nachgeholt.
Sie hatte die Stelle nie geliebt, dazu war ihr Chef ein zu großes, launisches Arschloch. Aber die Beständigkeit, die hatte ihr durchaus zugesagt. Und dazu gehörte eben auch, dass sie sich ihren Macchiato kaufte, lächelnd ihren Namen sagte – ja, jeder wusste hier, dass sie Anastasia hieß, und sie exerzierten das Spiel gnadenlos täglich einmal durch. Obwohl sie mit Carlos, einem der Barista, der sie auch nur als Anastasia kannte, sogar mal im Bett gewesen war. Nichts Weltbewegendes, sie hatten beide nur Sex gewollt und es dabei auch belassen. Seitdem grinsten sie sich neben dem üblichen Hallo immer vielsagend an. Er war keine unvergleichliche Erfahrung gewesen, nichts, was sein gut gebauter, muskulöser Körper versprach; und sein Schwanz fiel sogar extrem klein aus. Das war Helen übrigens schon mehrfach aufgefallen: Gerade die Kerle, die besonders viel Wert auf einen athletischen Körper legten, hatten meist die kleinsten Schwänze. Möglicherweise versuchten sie diesen Makel damit zu kompensieren
.
Lächelnd nahm sie ihren Becher entgegen, sagte keiner Seele, dass sie niemals wieder hierherkommen würde, genoss diese Tatsache ganz für sich allein und schritt nur ein wenig gemächlicher als sonst durch den Raum, bevor sie die Tür erreichte und sie nun auch ein letztes Mal nach außen öffnete.
Nie wieder – es hatte in ihren Ohren einen fast liebreizenden Klang.
Als sie in den Sonnenschein hinaustrat, traf die Hitze sie wie eine Wand. Blinzelnd sah sie zum Himmel hinauf, auf der Suche nach einer Wolke, deren Ladung ein wenig Abkühlung durch einen Sommerregen versprach. Doch es empfing sie nur blaue Weite, an deren oberer Peripherie sich die grelle Sonne rekelte. Seufzend steuerte sie ihre Bank an, die in einem grünen Abschnitt stand, der als kleiner Park getarnt war, aber im Grunde nur als weitere Müllhalde genutzt wurde. Da sie sich hier im etwas nobleren Teil ihres Bezirks befand, wurden die Müllberge allmorgendlich weggeräumt, und man hatte sogar Papierkörbe angebracht. Doch der Rasen war von Unkraut durchsetzt. Die alte Erle schien aufgrund der Abgase, die sie täglich einatmen musste, langsam aber sicher allen Lebensmut zu verlieren, denn sie ließ die Zweige jämmerlich hängen und die Blätter waren schon jetzt – wo der Kalender gerade mal Ende Juli schrieb – auf erschreckende Weise braun. Das Klettergerüst, das irgendwann einmal von der mutigen Initiative: ›Wir verschönern unseren Stadtteil‹ errichtet worden war, hatten Vandalen längst mit den üblichen Tags besprüht und die Stangen hoffnungslos verbogen. Niemand würde sich die Mühe machen und es erneuern.
Doch für Helen war es ihre
Bank, ihr kleiner Park, ihre Oase inmitten des Chaos’, das nur New York auf diese Art beherbergte und das sie auf bizarre Weise liebte. Sie erinnerte sich an jenen Tag, als April mit diesem wahnsinnig schönen, aber in diesem Bezirk total unpassenden Audi angekommen war. Sie hatte genau hier gesessen und auf Helen gewartet, mit zwei Kaffeebechern in den Händen – ja, ihre Freundin kannte Helens Rituale.
Nun war April weg, und verdammt, sie fehlte ihr. Die Gespräche, das Lachen, das Gefühl, jemanden zu haben, der zu jeder Tages- und Nachtzeit da sein würde, um sie im Zweifelsfalle aufzufangen. Der Bedarf hatte nicht häufig bestanden, doch man erkannte erst dann, was man gehabt hatte, wenn es plötzlich nicht mehr da war.
Das Haus war mit einem Mal so still geworden. Stille jedoch war gefährlich. Man begann zu grübeln, zu grübeln und noch einmal zu grübeln. Auch etwas, das Helen bis vor wenigen Monaten so gut wie nie getan hatte. Wann genau hatte sie sich von einer das Leben bejahenden Person zu dieser … seltsamen Karikatur entwickelt? Sie hatte versucht, sich abzulenken, war vermehrt ausgegangen, hatte alte Freunde getroffen, versucht, sich zu amüsieren, und dann festgestellt, dass sie dennoch einsam war.
An Tag sieben oder acht in dieser lauten Einsamkeit hatte sie am späten Abend das Smartphone zur Hand genommen, bereit, Terence eine abschließende Nachricht zu schreiben. Es fühlte sich richtig an; als wäre dies der erforderliche letzte Schritt, um endlich einen Strich unter die Angelegenheit ziehen zu können. Nach kurzer Überlegung – und weil sie im Tippen von langen Texten auf dem Handy eine echte Niete war –, hatte sie sich ein Blatt zur Hand genommen.
Aus den beabsichtigten paar Zeilen war eine ganze Seite geworden. Sie hatte sich ihm erklärt, hatte versucht, ihm aufzuzeigen, dass sie beide
Fehler gemacht hatten, und dass sie für lange Zeit wirklich glücklich mit ihm gewesen war. Bis … ja, bis er sich auf diese dr
amatische Weise verändert hatte und zu einem Mann geworden war, den sie nicht mehr kannte.
Als der Brief fertig gewesen war und sie ihn noch einmal durchgelesen hatte, beschloss sie, ihn bis zum Morgen liegenzulassen und erst dann in ein Kuvert zu stecken und abzuschicken.
Nun ja, das war jetzt zwei Wochen her und er lag noch immer an Ort und Stelle. Das Problem war nicht, sich Terence zu öffnen – sie ging davon aus, dass ihn ihr Seelenleben ohnehin nicht interessierte –, eher lag es an ihrem Stolz und der Ansicht, zu wissen, was er beim Lesen ihrer Zeilen denken würde. Er würde
es lesen, die Neugierde würde siegen – so hätte Helen es an seiner Stelle auch gehandhabt.
Schon bei den ersten Zeilen würde er zweifelnd das Gesicht verziehen – genau so wäre es bei Helen auch gelaufen.
Ab dem dritten Satz würde er leise lachen – oder den Kopf schütteln – das wäre jedenfalls Helens Reaktion gewesen.
Er würde den Brief zu Ende lesen, weil er nicht aufhören könnte – wer brachte es schon fertig, das Lesen eines Briefes in der Mitte abzubrechen? Und dann würde er sich fragen, warum er die Zeit nicht gewinnbringender verbracht hatte. Mit … Fernsehen zum Beispiel oder damit, ein Bier zu trinken, sich auf seine Atmung zu konzentrieren …
Es war Helen nicht sehr häufig passiert, doch manchmal hatte sich ein vorübergehender Bettgenosse tatsächlich in sie verliebt. In den ersten Jahren hätte sie ihn am liebsten angeherrscht, weil sie sich in die Enge gedrängt fühlte. Wenn jemand unglücklich verliebt war, dann hatte man ihn gefälligst mit Glacehandschuhen anzufassen, schließlich litt er. Was bedeutete, dass sie sich mit einer Person beschäftigen und auseinandersetzen musste, die sie absolut nicht interessierte.
Später hatte sie diese Taktik aufgegeben. Denn unter welchen Voraussetzungen sie miteinander ins Bett gegangen waren, hatten sie vorher abgeklärt. Eine Beziehung, echte Gefühle oder vielleicht sogar ein gemeinsames Leben kam bei dem Deal nicht vor. Wenn irgendwer die Regeln brach und es ihr auch noch sagte, dann war das ausschließlich sein Problem. Ab diesem Moment hatten sie solche Kerle nur noch genervt, weil sie ihre Kreise störten. Dieses Gewimmer und Geheule, Zettel, die sie vor ihrer Tür fand … Als so etwas häufiger geschah, hatte Helen es vermieden, die Typen mit zu sich nach Hause zu nehmen. Mal davon abgesehen, dass dieses Gejammer unmännlich war, störte es sie auch, vor allem jedoch konnte man nie wissen, auf welche Ideen sie in ihrem Liebeswahn kamen. Verdammt, wenn sie nicht zwischen einer soliden Nummer und echten Gefühlen unterscheiden konnten, was taten sie dann bei Helen St. James? Schließlich hatte sie einen Ruf zu verlieren. Und wenn er auch grottenschlecht war, so verteidigte sie ihn mit allem, was sie hatte – mit vollem Körpereinsatz sozusagen.
Genau so hatte sie reagiert. In der Rückschau nicht sonderlich einfühlsam und absolut ohne jegliches Interesse am Seelenleben des unglücklich verliebten Mannes. Der Gedanke, dass ihr nun das Gleiche passieren würde, war einfach unerträglich. Aber es war ein Art Therapie gewesen, sich diese Dinge von der Seele zu schreiben, sie einmal vollständig zu denken. Auch das ›Ich liebe dich!‹, das sie zwar häufig zu ihm geäußert, dessen Konsequenz sie aber bisher nie wirklich verinnerlicht hatte.
Erst im Nachhinein war ihr aufgefallen, dass Terence es nie erwidert hatte. Nicht ein einziges Mal. Wann immer sie es gesagt hatte, küsste er sie oder schlief mit ihr
oder lächelte oder sagte so was wie: »Du bist so süß, Baby«. Dabei war
Helen überhaupt nicht süß.
Nie gewesen!
Gedankenverloren nippte sie an ihrem Macchiato.
Gestern Abend hatte sie seine Nummer von ihrem Handy gelöscht, hatte ihn gelöscht
und beschlossen, dass es das gewesen war. So war es gut, sie fühlte sich sogar befreit, irgendwie … wie sich damals die Siedler gefühlt haben mussten, kurz bevor sie die Mayflower bestiegen, um in die Neue Welt aufzubrechen.
Helen schloss die Augen, hielt das Gesicht in die Sonne und nahm sich vor, keinen weiteren Gedanken mehr an Terence Blue zu verschwenden. Ihre Versicherungen, die allesamt bei diesem beschissenen Konzern abgeschlossen worden waren, würde sie kündigen und sich einen anderen Anbieter suchen. Und dann wäre Terence endlich für immer und ewig …
»Dieser Sommer ist einer der heißesten, die ich je erlebt habe, die verdammte Hitze bringt mich um!«
Schon beim ersten Wort war sie erstarrt, nur ihre Finger, die sich fester in die Pappe ihres Bechers pressten, waren vielleicht Indiz dafür, dass Helen nicht gerade vom Schlag getroffen worden war.
Diese verdammte Stimme!
Wie hatte sie auch nur für eine Sekunde annehmen können, ihn vergessen zu haben?
Wie hatte sie nur meinen können, er wäre ihr egal?
Wie hatte sie nur glauben können, ihn irgendwann hinter sich zu lassen?
Nur seine Stimme hatte dafür gesorgt, dass ihr gesamter Körper von einer wohligen Gänsehaut überzogen war; das Herz hatte zu einem Dauerlauf angesetzt, ihr Mund war trocken, ihre Finger zitterten, so sehr sie diese auch um den Becher presste.
Nein!,
schrie es in ihr. Nicht jetzt, NICHT! JETZT!
Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Augen brannten, wusste, dass sie demnächst überlaufen würden – wusste darüber hinaus, dass auch dies unabwendbar sein würde, und war nicht einmal in der Lage zu fliehen. Tatsächlich war sie erstarrt, stand unter Schock, dem Schock der Liebe, der Sehnsucht, dieser verdammten Hoffnung, die – wie sie gerade auf die denkbar unangenehmste Art erkennen musste – eben nicht gestorben war. Genauso, wie sie ihn keineswegs hinter sich gelassen hatte. Übelkeit kroch ihre Kehle hoch, sie wollte schlucken und konnte nicht. Daran, etwas zu sagen, war nicht zu denken, ihr blieb nur, in ihrer derzeitigen Pose verharren und abwarten. Warten darauf, dass er sagte, warum er ihr gerade jetzt den Todesstoß versetzte. Jetzt, wo sie endlich stark genug war, ihn hinter sich zu lassen.
Er hatte sich neben sie gesetzt und nach einer Weile ertönte seine Stimme erneut. »Als ich zwölf war, ließen meine Eltern sich scheiden. Sie waren nie glücklich miteinander gewesen, ich wusste damals schon, dass mein Vater etliche Affären hatte, aber das war … irgendwie normal. Es mag seltsam klingen, aber wenn man damit aufwächst, dass der Vater öfter mal für ein paar Wochen verschwindet, dann ist es für einen die verdammte Normalität. Dann denkt man darüber nicht nach. Er ist sowieso nicht unbedingt ein Sympathieträger.
… Meine Mutter auch nicht. Wir sind drei Kinder und wir hatten Nannys, die uns be
treuten, wenn wir nicht im Internat waren. Das war alles normal. In der Woche im Wohnheim bei den Jungs, am Wochenende daheim. Mom, die lächelte, wenn sie uns sah, uns die Stirn küsste, fragte, ob wir brav waren und uns ermahnte, dass wir immer schön lernten … Und dann war damit plötzlich Schluss. Ich … ich konnte das nicht begreifen! Sie ließen sich nicht einfach scheiden, was ja noch üblich gewesen wäre, sondern sie bekämpften sich. Bis aufs Messer. Ein Jahr liefen die Verhandlungen, ein Jahr wurden wir von einer Seite auf die andere gezerrt, immer, wer gerade Zeit hatte, quatschte auf uns ein. Meine Schwestern waren jünger, die wurden verschont, aber ich war mittendrin. Mein Vater war mit einem Mal ständig daheim und hatte enormen Gesprächsbedarf. Der Knabe hatte sonst nie
mit mir gesprochen! Jetzt rief er mich in sein Arbeitszimmer, bot mir einen Drink an und eine Zigarre …« An der Stelle lachte Terence trocken auf. »… und meinte, wir Männer müssten zusammenhalten und dass es schließlich auch um mein
Geld ginge. Er sagte, meine Mutter wäre eine Hure, die sich schon durch die halbe High Society geschlafen hätte. Und jetzt würde sie dafür sorgen, dass er sein Vermögen verlor. Mit Ersterem hatte er recht, mit dem Letzten nicht, es gibt vermutlich nichts, was das erreichen könnte, es ist einfach zu viel da. Aber ich hatte wirklich übersehen, dass sie in all den Jahren verdammt viele Liebhaber hatte; ich war als Kind auch zu unbedarft, um den Fehler zu begreifen, den das Bild hatte, wenn meine Mutter am Nachmittag nur in Seidenmorgenmantel herunterkam und uns begrüßte. Außerdem bekam ich sowieso nicht viel mit – ich war ja so gut wie nie da.« Er seufzte.
Helen wagte zu schlucken, inzwischen hatte sich die Starre gelöst, sie hätte ihn gern angesehen, doch nun hielt sie sich bewusst davon ab. Sie ahnte, dass der Zauber brechen würde, wenn sie jetzt die Augen öffnete. Doch eines ließ sich nicht länger leugnen. Ihre Hoffnung war neu entflammt und brannte lichterloh. Sie hätte das eindämmen müssen, verdammt, er hatte es nicht verdient, dass sie sich derart aufgab. Doch sie konnte nicht.
Baby, das ist eben echte Liebe
, wisperte etwas in ihr. Vielleicht war es der Teil, der immer Verständnis für April aufgebracht hatte, wenn die mal wieder drohte, die verbotensten, in Helens Augen untragbarsten Zugeständnisse zu machen. Jetzt endlich verstand sie ihre Freundin wirklich. Liebe weichte Härte auf; Liebe sorgte dafür, dass man vergessen konnte, Liebe war sogar in der Lage, Grundsätze von einer Sekunde auf die andere unbedeutend zu machen. Liebe … war blind, taub und dumm – deshalb war es ja auch Liebe.
Ja
… flüsterte es in ihr.
Ihre Fingerspitzen zuckten noch immer, aber nun in dem Bestreben, ihn zu berühren, irgendeinen Teil von ihm, es war völlig egal, welchen. Doch bisher hinderte sie sich erfolgreich daran. Noch nicht!,
hauchte es in ihr. Noch nicht! Lass ihn, lass ihn sprechen, vielleicht …
Ihr Herz stockte, als ihr die andere Alternative einfiel, jene, die sie nicht berücksichtigen wollte, weil sie so unendlich … verstörend war.
Aber was, wenn auch er das Gefühl hatte, einen sauberen Abschluss zu brauchen und nicht so feige wie sie war? Was, wenn dies nur ein klärendes Gespräch werden sollte? Was dann?
Scheiße!
, stöhnte sie innerlich, fühlte erneut ihre Augen brennen, schaffte es diesmal aber sofort, den Drang zu heulen beiseite zu wischen.
Nein!
Sie würde das erhobenen Hauptes
überstehen.
»Sie hat ihn abgezockt. Hat ihn über 100 Millionen gekostet, die Hälfte war für uns Kinder vorgesehen, deshalb wurde es so teuer, obwohl wir sie niemals mehr als einen gottverdammten Fuck geschert haben. Sobald das Geld auf ihrem Konto war, setzte sie sich ab, es heißt, sie wäre irgendwo in Down Under untergetaucht. Vielleicht stimmt das, vielleicht auch nicht, ich habe nie wieder was von ihr gehört. Das Geld für ihre Kinder, die sie so sehr liebt – ich war im Gerichtssaal dabei, ehrlich, sie hat selbst den Richter fast zu Tränen gerührt – hat sie mitgenommen. Es war …«
Er bewegte sich neben ihr, sie konnte es genau fühlen. »Es war … wahnsinnig, danach weiterzumachen. Wir hatten nichts mehr, sprichwörtlich. Mein Vater wollte mit uns nichts zu tun haben, meine Mutter war verschwunden, wir waren in den Internaten …«
Weiter sprach er nicht, sondern verfiel in Schweigen, während Helen angespannt Luft holte und endlich die Augen öffnete. Doch es bedurfte noch einmal gehörigen Mutes, um ihn auch anzusehen. Was sie empfing, ließ sie ein weiteres Mal erstarren. Instinktiv hob sie einen Arm, ihre Finger verharrten nur Zentimeter vor seinem Gesicht – jenem geliebten Gesicht, von dem sie in jeder gottverdammten Nacht träumte. Hier war es … und auch wieder nicht. Was immer mit ihm geschehen war, es musste mörderisch gewesen sein. Eines, was sie an ihm immer geliebt hatte, war sein makelloses, ja, fast engelsgleiches Gesicht gewesen. Nur der Drei-Tage-Bart, die etwas schmalen Lippen und das markante Kinn hatten es männlich wirken lassen, ansonsten war es ein Babyface gewesen. Blitzende blaue Augen, braun gebrannte, wundervoll warme Gesichtshaut, die Wangen immer leicht gerötet …
Jetzt sah sie in das Gesicht eines Mannes, der offensichtlich innerhalb der letzten paar Wochen nicht sehr häufig Schlaf gefunden hatte, denn unter den Augen lagen dunkle Schatten. Tiefe Kerben hatten sich um die Mundwinkel eingegraben und die Augen – diese von ihr über alles geliebten, magischen Augen – waren mit einem Mal stumpf und glanzlos.
Sein Blick huschte über ihr Gesicht und er neigte den Kopf zur Seite. Ein ironisches Lächeln schlich sich auf seine Lippen, während er ihren noch immer erhobenen Arm betrachtete, und sie senkte ihn rasch wieder.
»Was?«, wollte er mit hochgezogenen Augenbrauen wissen.
Helen schüttelte nur den Kopf, unfähig, einen Laut herauszubringen.
Seine Züge verhärteten sich auf eine Art, wie sie es nur bei seinem besten Freund jemals gesehen hatte, und als er weitersprach, klang er bedeutend finsterer. »Irgendwann hat er sich wieder an mich erinnert – ich bin sein Nachfolger, das musste wohl so kommen. Da war ich längst auf dem College. Er hat mich unter seine Fittiche genommen, hat mir gesagt, wie ihr Frauen seid, und dass ich nicht seine Fehler wiederholen soll.« Er lächelte. »Wenn ich nichts, was er mir sagte, je beherzigt habe, das
habe ich mir gemerkt: Ich habe
seine Fehler nicht wiederholt. «
»Nein, hast du nicht«, bestätigte sie leise und räusperte sich.
»Nein.«
Lange sahen sie sich an, Helen wusste nicht, was sie sagen sollte. Er war hier, saß neben ihr, nach einer scheinbar endlos langen Zeit, doch er hatte nicht die Erlösung gebracht. In Wahrheit war sie nicht einmal sicher, mit welchen Worten er sie hätte erlösen können. In ihre unendliche Wehmut mischte sich allmählich Zorn, der sich langsam steigerte.
Was tat er hier?
Warum – WARUM –
machte er es ihr so schwer? Sie hatte es doch fast geschafft. Zum
dritten Mal stellte sie sich die zentrale Frage, die jede andere verblassen ließ: Warum jetzt? Was wollte er erreichen? Tränen drohten nicht mehr – was sie freute … irgendwie. Stattdessen betrachtete sie ihn mit wachsendem Unmut.
Dann sprach er weiter, und sie zuckte zusammen, weil ihr gerade ein schauriger, ein geradezu verstörender Gedanke gekommen war.
»Ich … ich hab versucht, dich gehenzulassen«, wisperte er. »Baby, ich hab es wirklich versucht, ich wollte nicht abgezockt werden wie mein Vater, ich wollte … ich wollte nicht in die Falle tappen, ich wollte nicht irgendwann genauso dastehen, wie er – ums Verrecken nicht! Und als klar war, dass es kein Baby geben würde, da war ich frei. Frei, um weiterzumachen, die nächste Frau, der nächste Fick – irgendeine, die mich diesmal nicht bescheißen würde. Aber …«
Ruckartig wandte er sich von ihr ab, verbarg das Gesicht in seinen Händen, was eine zutiefst niedergeschlagene Geste war, die Helen trotz all ihrer widersprüchlichen Gefühle erschreckte. »Es ging nicht«, sagte er dumpf in seine Handflächen. »Ich habe kein Interesse an anderen Frauen.« Nun sah er auf. »Ich will dich
.«
Sie sah ihn nur an, was um alles in der Welt hätte sie auch darauf erwidern sollen?
Er schluckte und leckte sich mit der Zunge über die Lippen. »Greg hat versucht, mir ins Gewissen zu reden, wollte, dass ich dir eine zweite Chance gebe, aber …« Terence schüttelte den Kopf. »Darum ging es doch gar nicht! Er verstand es nicht, und April, die ihn zu mir geschickt hatte, auch nicht. Wie sollte ich dir eine zweite geben, wo ich dir doch die erste schon versagt hatte. Ich hatte …«
Sie wollte es nicht, ihr inzwischen erstarrtes Innerstes sträubte sich mit aller Macht dagegen, zu groß war die Angst vor dem, was sie fühlen würde. Dennoch griff sie zögernd nach seiner Hand, berührte zaghaft mit den Fingerspitzen seine Haut, wich zunächst zurück, weil das Gefühl noch alle Erwartungen übertrumpfte, und konnte dann nichts anderes tun, als ihre über seine zu legen, sie sanft zu drücken und ihr verdammtes Herz zu ignorieren, das in Jubelstürme ausgebrochen war. Gott, wie hatte sie es vermisst, seine Haut – ihn – zu berühren.
Terence entzog sich ihr nicht.
»Ich hatte nicht vor, irgendwas zu unternehmen, egal, was zwischen uns vorgefallen war«, bekannte er gerade und klang mit einem Mal sehr nüchtern. »Nach der Babysache war das Vertrauen weg.«
Ihre Lippen zuckten und ein Schnauben brach aus ihr heraus, allerdings sagte sie noch immer nichts, aber Terence nickte heftig.
»Ja, verurteile mich! Aber ich habe wirklich geglaubt, du hättest es dir absichtlich machen lassen, um mich finanziell bluten zu lassen.«
»Es ging mir nicht ums Geld«, erwiderte sie, erstaunt darüber, wie nüchtern sie klang. »Es ging darum, dir eins auszuwischen … aber allem voran darum, dass ich dieses Baby wollte. Ärgern konnte ich dich nur, indem ich dich zwang, dich damit auseinanderzusetzen, und somit auch mit mir. Im Grunde hast du recht: Es war ein sehr kindischer, wenig cleverer Racheversuch.«
Seine Züge verhärteten sich und er nickte. »Kenne ich irgendwo her.«
Helen seufzte. »Du hast dich wie ein Schwein aufgeführt.«
»Ich weiß.«
»Und ich habe mich genauso dämlich verhalten.
«
»Nein, nicht ganz so schlimm, fürchte ich«, warf er leise ein.
Daraufhin schwieg sie, denn ja, das stellte sie trotz aller Selbsterkenntnis nicht infrage.
»Was willst du hier?«, fragte sie schließlich offensiv.
Er musterte sie unergründlich, die Spuren des alten – neuen – kaltschnäuzigen Terence waren zu sehen und es tat ihr gut. Wie grauenhaft wäre es gewesen, wenn er aufgrund einer dämlichen Phase, die er längst hinter sich gelassen hatte, alles zerstört hätte. Lieber setzte sie sich damit auseinander, dass eben auch dieser, wenig sympathische Teil zu ihm gehörte.
Dann räusperte er sich und fuhr sich wieder durchs Haar. »Okay, ich habe versagt.«
»Wobei?«
»Dich nicht mehr zu lieben.«
Sie hob die Augenbraue. »Ach! Liebe? War das nicht nur ein Wort? Seit wann hast du mich je geliebt?«
Wieder traf sie dieser Blick. Entnervt, ein wenig flehend; er schien zu sagen: ›Du weißt doch, dass ich falsch lag, also quäl mich nicht.‹
Doch so leicht würde sie ihn nicht davonkommen lassen. »Nun?«
»Okay, es war ein Fehler.«
»Weil?«
»Weil ich dich doch liebe.«
»Okay …« Nach einer Weile sah sie ihn wieder an. »Was aber noch nicht die Frage klärt, was du hier machst.«
»Nein, tut sie nicht.« Er wandte den Blick von ihr ab, die Hand hatte er aus ihrer gelöst und starrte nun wieder auf die Autos, die sich lärmend und stinkend in einem ewigen Strom nur wenige Meter von ihnen entfernt auf der Straße entlangschoben. »Ich habe dich beobachtet.«
Ihr Kopf ruckte zu ihm herum. »Was?«
»Ich habe dich beobachtet«, wiederholte er ungerührt. »Erst nur manchmal, dann täglich. Irgendwann tat ich fast nichts anderes mehr.« Wieder fuhr er sich mit den Händen durch das volle Haar. »Ich schätze, das war ein bisschen krank.«
»Wo
hast du mich beobachtet?«
»Wenn du hier unterwegs warst. Und in der Stadt eben.«
»Aber …« Helen überlegte und schloss langsam die Augen. Ja, seitdem April und June nicht mehr da waren, hatte sie sich öfters in der Stadt herumgetrieben. War shoppen gegangen, hatte sich mit anderen Freunden getroffen, die sie in den letzten Monaten vernachlässigt hatte. Sie war nicht zur alten/neuen Club-Queen geworden, doch die Decke in diesem Haus hatte zunehmend gedroht, ihr auf den Kopf zu fallen. Und so war sie eben öfter geflohen. Und er hatte sie beobachtet … gestalkt …
»Klasse, Terence!«, zischte sie. »Du bist … echt krank.«
Er zuckte nur mit den Schultern.
Nach einer Weile seufzte sie. »Und was hat dir das gebracht, abgesehen von akutem Schlafmangel?«
»Oh, sehr viel«, erwiderte er und als sie ihn rasch ansah, entdeckte sie erstaunt, dass er lächelte.
»Und das wäre?«
Sein Lächeln wurde bitter. »Ich weiß jetzt, dass es die Ausnahme gibt.«
Sie runzelte die Stirn, konnte ihm nicht folgen. »
Was …«
Terence redete weiter, als hätte er sie nicht gehört. »Da war kein Mann, obwohl du reichlich Gelegenheit hattest. Aber da war kein einziger. Kein Fick, kein …«
Helen stand, bevor sie ihren Beinen bewusst den Befehl gegeben hatte, sich zu bewegen. Verächtlich starrte sie auf ihn herab. »Ach so ist das, ja?«, würgte sie hervor. »Habe ich den Test also bestanden, ja? Weil ich nicht gefickt habe, bin ich jetzt wert, vom großen Terence Blue angequatscht zu werden? Ist es das? Und was, wenn ich mir irgendwen gesucht hätte? Was, wenn ich wie jeder andere verdammte Mensch auch, die nähere Gesellschaft eines anderen gesucht hätte, und sei es nur, um für ein paar Stunden nicht allein zu sein? Dann wäre ich die Schlampe gewesen und du hättest dich bestätigt gefühlt?«
»Nein …« Er seufzte und verdrehte die Augen. »Ja …«
»Tja«, sagte Helen ein wenig zu schrill. »Das ist Pech, denn das war nur eine vorübergehende Phase, ich bin gerade dabei, mich wieder auf meine alten Verhaltensweisen zu besinnen, und sind wir doch ehrlich: Nach allem, was du und deinesgleichen denken, war ich damals eine echte Schlampe. Ohne Abstriche und auch noch verdammt stolz darauf. Weißt du was, Terence? Du kannst mich! Geh und fick dich. Geh und igel dich ein, geh und werde immer irrer, schlaf überhaupt nicht mehr, versau dir endgültig dein Leben, aber verdammt, halt dich bloß an deine Grundsätze. Die sind echt wichtig! Ich bin froh, dass ich nicht schwanger bin. Denn ehrlich, die Vorstellung, mein ganzes Leben an dir zu hängen ist geradezu gruselig!«
Damit stampfte sie davon, fühlte die Tränen in ihren Augen und hasste sich dafür.
Sogar noch ein bisschen mehr als ihn.
Terence
Es war dunkel, als er mit einem Nicken an den Wachleuten vorbei auf das Gelände fuhr. Sein Blick richtete sich sofort wieder geradeaus, die Lippen waren zusammengepresst, nur eine Hand hielt das Lenkrad seines Porsche, der Ellbogen des anderen lag im offenen Fenster der Fahrerseite, den gekrümmten Zeigefinger an seinen Lippen.
Weit vor dem Eingang stoppte er das Fahrzeug. Obwohl es lange nach Mitternacht war, musste er vorsichtig sein. Sich nähernde Scheinwerfer und ein laut röhrender Motor hätten ihn unter Garantie verraten. Ihm war nie zuvor aufgefallen, wie unglaublich laut
sein verdammter Motor war. An dieser Seite des Hauses brannten nachts keine Lichter, was Terence sich zunutze machte, während er im Schutz der Dunkelheit wie ein Dieb zum Haus schlich. Keines der Fenster war erleuchtet; dass sie da sein würde, wusste er dennoch – verdammt, er kannte fast jeden Schritt, den sie unternahm. Weshalb er ja auch davon überzeugt war, dass er mittlerweile ernsthafte geistige Probleme hatte. Also wenn es daran noch einen Zweifel gegeben hätte … mit dieser Aktion wäre es bewiesen: Er war ein krankes Arschloch, das eingesperrt gehörte.
Yeah, aber nicht heute,
dachte er und schlich zu der Terrassentür. Sie war nur angelehnt, wie er gehofft hatte, andernfalls wäre er bereits hier in erhebliche Schwierigkeiten geraten.
Das Wohnzimmer erstreckte sich in seiner Dunkelheit vor ihm. Er kannte sich nicht sonderlich gut im Haus aus, war nur einige wenige Male hier zu Gast gewesen. Weshalb er sich nur langsam vortastete, um in seiner Dummheit nicht irgendwas umzuwerfen und damit eine abgeschwächte Form des dritten Weltkrieges loszutreten. Klar, sie hatten ihn am Tor durchgelassen – er war schließlich Terence Blue, enger Freund und Vertrauter der Familie, auch wenn diese im Ausland weilte. Aber wie die Jungs mit den breiten Rücken
und den grimmigen Mienen reagieren würden, wenn er sich im Schutz der Nacht ins Haus schlich, war nicht vollständig geklärt. Er hatte sie auch nicht gefragt und wollte es ganz bestimmt nicht gerade heute erfahren.
Ohne Zwischenfälle erreichte er die Treppe, wollte schon hinaufgehen, als ihm siedend heiß einfiel, dass sich die Gästezimmer unten befanden. Sie würde dort wohnen – zumindest ging er davon aus. Und so machte er kehrt, lief mit der gleichen Vorsicht, die er bisher an den Tag gelegt hatte, in den Flügel, der zu den kleinen Apartments führte, die Greg ihm voller Stolz zur Einweihungsparty als Gästeflügel benannt hatte, und stand bald vor der ersten Tür.
Das Herz klopfte ihm bis zum Halse, seine Mundhöhle war ausgedörrt und verdammt, er war tatsächlich außer Atem. Was jetzt?
Einfach probieren?
Ja!
Die flüchtigen Zweifel – so kurz aufgekeimt, dass er sie kaum vollständig wahrnehmen konnte – waren schon wieder seiner Überzeugung gewichen, das jetzt durchzustehen. Er war verzweifelt genug gewesen, um bis hierher zu kommen, und würde jetzt nicht auf der Zielgeraden aufgeben.
Behutsam drehte er den Knauf und stand wenig später in einem kleinen, hübschen Wohnzimmer. Seine Augen hatten sich inzwischen ausreichend an die Dunkelheit gewöhnt, um die Möbel ausmachen zu können. Couch, Fernseher, kleine Anrichte und die winzige Küchenzeile … es war peinlich sauber. Dennoch wusste er, dass er richtig war. Ihr Duft hatte sich scheinbar unauslöschlich mit der Atmosphäre des Raumes verbunden. Er schloss die Augen, fühlte die Gänsehaut auf seinem Körper ausbrechen, fühlte ihn
zum Leben erwachen und spürte plötzlich die unvorstellbare Gewissheit in sich, das Richtige zu tun.
Es war nicht nur das Parfum, sondern die besondere Note, die es mit ihrem Eigengeruch ergab. Diese Mischung aus ganz viel Helen, mit Weichspüler, einem Hauch Duschbad, Parfum, Kaffee und der unterschwelligen Note ihres Dinners.
Als Terence bemerkte, dass er wie ein Idiot schnüffelte
, kam er zu sich. Sein Herzklopfen hatte sich noch einmal verstärkt, und für ein Bier hätte er inzwischen getötet.
Alles war so, wie er es sich gewünscht hatte. Also gab es nichts, was ihn noch aufhalten konnte. Am Allerwenigsten sein Gewissen. Typen wie er besaßen schlicht keines. Das gaben sie an der Tür zu ihrem Büro auf, in dem sie als Vorstandsvorsitzender saßen.
Die Tür zum Schlafzimmer befand sich vor ihm, er legte behutsam seine Hand auf den Knauf, schloss für einen kurzen Augenblick erneut die Augen, konzentrierte sich – wobei er sein verräterisches, beschissenes Herz, das genau jetzt zum Trommelwirbel ansetzte, strikt ignorierte – und trat schließlich ein.
* * *
Sie schlief – er machte es an ihren gleichmäßigen Atemzügen aus, welche die Stille durchbrachen. Das Fenster stand auch hier offen, ein paar Zweige, die sich in der leichten Sommerbrise der Nacht wiegten, erschienen im Mondlicht leicht gruselig. Die Schatten ihres Laubes wurden an die Wand neben dem Bett geworfen, das silberne Licht jedoch berührte das helle Laken, mit dem Helen zugedeckt war.
Ihre zarten Konturen hoben sich darunter ab – irrte er sich oder hatte sie schon wieder abgenommen? Er hatte sie nie wirklich aus den Augen gelassen, aber in der letzten Zeit nur
aus der Ferne gesehen – mit mindestens zehn Meter Abstand, alles andere wäre zu auffällig gewesen. Da konnte man nicht viele Details ausmachen – was ihm übrigens öfter sehr negativ aufgestoßen war. Zwischenzeitlich hatte er wirklich überlegt, sich ein Fernglas zuzulegen, aber das war am Ende selbst Terence zu krank erschienen.
Dann hatte er sie auf dieser Bank gesehen, hatte sich ein Herz gefasst und war zu ihr gegangen, wissend, dass er ihr nie wieder so nah kommen würde, weil dies ihr letzter Tag in dieser Kanzlei gewesen war. Dass sie nicht mehr in der heruntergekommenen Bude arbeiten würde, hatte ihn durchaus gefreut, nur wurde so leider auch seine Routine durcheinandergebracht. Ihr Anblick hatte ihn erschreckt. Verdammt, er hatte dafür gesorgt, dass neben der Gier nach ihr, diesem Verlangen, ihr nah zu sein, sich nun auch Sorge um sie in ihm breitmachte. Mit einem Mal wirkte sie so … zerbrechlich – Helen hatte niemals zerbrechlich gewirkt. Sie war so blass, so dünn, so … verloren.
Ja, so verloren, so gebrochen.
Ein Racheengel, dem man die Flügel gestutzt hatte.
Das hatte er nicht erreichen wollen, okay, er hatte überhaupt nichts erreichen wollen, in Wahrheit war Terence nicht einmal sicher, was er von dieser Frau wollte oder was er vorhatte. Er wusste nur eines: dass er sie liebte. Er liebte sie mehr als sein Leben und hätte ungefähr alles für sie getan. Doch wie sollte das gehen, wie sollte er sich erneut in ihrer Gegenwart fallenlassen können, wie ungezwungen sein, wie so sein, wie er im Grunde war, wie sich ihr öffnen, wenn er ihr so sehr misstraute?
So unsagbar?
Zweifelnd den Mund verziehend ging er langsam zum Bett, bis ihr Gesicht vollständig sichtbar wurde. Im Stillen dankte er dem Mond, der jede künstliche Beleuchtung überflüssig machte. Mit geteilten Lippen stand er da, betrachtete ihre schlafenden, entspannten Züge und konnte sich nicht an ihr sattsehen. Dass er hier war, fühlte sich nicht falsch an. Zwar wusste er, dass er etliche Gesetze brach und sie mit Sicherheit nicht unbedingt glücklich wäre, wenn sie jetzt wach würde. Doch davon abgesehen fühlte es sich verdammt richtig an, genau hier zu stehen und sie anzusehen. Er hätte das über Tage tun können, ohne dass ihm langweilig geworden wäre.
Terence hatte nicht gewusst, was Liebe bedeutete, bis er sie traf. In Wahrheit hatte er die Existenz dieser Erfindung insgeheim bezweifelt, auch wenn er nicht durch die Welt getobt war, um zu verkünden, dass die Liebe an sich eine Erfindung der Blumen-, Konfekt- und Schmuckindustrie sowie der Brautausstatter war. Nein! Nur hatte er angenommen, dass es Liebe in ihrer reinen wahren Form für einen Mann wie ihn nicht geben konnte. Es sei denn, die Frau wäre genauso wohlhabend wie er. Das war in seinen Augen die einzige Möglichkeit gewesen, sich auf eine längerfristige Beziehung – auf echte Liebe – einlassen und sie unbefangen erwidern zu können. Nun ja, er hatte innerhalb der vergangenen Wochen viel gelernt. Nicht zuletzt, dass man sich nun einmal nicht aussuchen konnte, an wen man sein Herz verlor. Dass
er es verloren hatte, war unschwer an den Formulierungen zu erkennen, die er in seinem Geist benutzte.
Wer so etwas tat, war entweder stockschwul oder er war bis über beide Ohren verliebt. Okay, oder beides.
Zu lieben bedeutete … dieses schmerzhafte, sehnsüchtige, süße Ziehen im Herzen, das ihn unweigerlich zu ihr zwang, obwohl er sich mit Händen und Füßen dagegen sträubte. Es bedeutete, dass keine Minute verging, in der er nicht an sie dachte. Es bedeutete, dass er se
ine Arbeit vernachlässigte, dass sein Leben einem Trümmerhaufen glich, dass es nichts gab, was ihn ablenken konnte und nichts, was noch von echter Bedeutung war – abgesehen von ihr. Es bedeutete, dass er nachts schweißgebadet aufwachte, weil er sie im Traum mit einem anderen zusammengesehen hatte. Und es bedeutete auch, dass er den Schlaf nur finden konnte, wenn er sich vorher betäubte. Mit Alkohol, mit einem Porno, mit irgendwelchen Schlaftabletten, die er sich irgendwann, von der ewigen Müdigkeit zermürbt, hatte verschreiben lassen. Es bedeutete, dass man allmählich seine bisherige Identität verlor, wenn man die geliebte Person nicht bei sich haben konnte; es bedeutete, dass man ihren Duft ständig in der Nase hatte, dass man süchtig nach dem Gefühl war, ihre Haut unter seinen Fingerspitzen zu spüren, es bedeutete, dass man in jeder Frau auf der Straße diese eine sah – und sich immer, aber auch jedes verdammte Mal, irrte. Es bedeutete, dass man sich nach einem einzigen beschissenen Kuss sehnte und danach, ihren Körper zu berühren, ihn sich zu nehmen, ihr zu zeigen, wie viel sie für ihn war.
Oh ja, es bedeutete auch viele kranke Dinge. Wie zum Beispiel, dass er jetzt bei Nacht und keinem Nebel vor ihrem Bett stand und sie anstarrte. Unfähig, sich zu bewegen, kaum in der Lage zu atmen und mit nicht der Spur einer Ahnung, was das alles überhaupt sollte, verdammt, was er erreichen wollte. Besser fühlte er sich jedenfalls nicht. Zu lieben bedeutete auch, gleichzeitig zu hassen – jedenfalls hatte Terence diese Erfahrung gemacht. Er war kein sehr emotionaler Typ, aber seine Gefühle für Helen schwankten ständig zwischen grenzenloser Anbetung und abgrundtiefem Hass. Dazwischen gab es nichts.
Verdammt, er hatte sich unmöglich verhalten, ja! Aber sie hatte nicht weniger beschissen gekontert. Helen war keine süße kleine April, die ihm jeden Fehler verzieh, die ihn gewähren ließ, egal was er anstellte. Sie zahlte mit mindestens genauso eiskalter Münze heim. Diesmal hatte sie verloren – die Natur ließ sich nun einmal nicht manipulieren –, doch Terence war klar, dass ein Leben mit dieser Frau endlose Kämpfe bedeutete. Sie würde sich widersetzen, würde sich behaupten, würde ihren Kopf durchsetzen. Und wenn er sie auf irgendeine Art nicht zufriedenstellte oder vielleicht sogar verärgerte, dann würde sie ihm die Hölle auf Erden bereiten.
Verdammt, es war ihm egal!
Er streckte den Arm aus, verharrte mit den Fingern über ihrem Gesicht – die weiche Beschaffenheit ihrer Haut war sogar in der Semifinsternis klar erkennbar. Ihre Züge waren so unendlich fein geschwungen, wirkten in ihrer Würde fast aristokratisch, und diese Lippen – verdammt, was hätte er dafür gegeben, diese Lippen mit seinen berühren zu dürfen.
Doch … es gab keinen Weg, nicht wahr? Es … es hatte keinen Zweck. All die Überlegungen von einer Zukunft mit dieser sehr, sehr schwierigen, aber so unendlich schönen Frau führten viel zu weit. Warum? Weil er – Terence – dem einen festen Riegel vorgeschoben hatte. Auch mit dem Treffen auf der Bank hatte er ihn nicht gelockert. Ihm war schleierhaft, was er von ihr gewollt hatte. Vermutlich einfach in ihrer Nähe sein. Ein jämmerlicher, verliebter Scheißer, der mit den Konsequenzen seiner Handlungen nicht mehr klar kam.
Es wurmte Terence, so wie ihn vieles wurmte, was in den letzten Wochen und Monaten geschehen war. Denn sie waren ein verdammt glückliches Paar gewesen.
Paar!
Yeah
!
Das war auch irgendwie ohne sein waches Dazutun passiert. Denn sie waren
eines gewesen, sie hatten
eine Beziehung geführt. Er hatte es nur irgendwie verpennt.
Bisher hatte sie gleichmäßig geatmet, doch jetzt holte sie tief Luft und bewegte ihre Hand – Terence stockte der Atem. Um ihre Lippen legte sich ein sanftes Lächeln, sie bewegte die Augen unter den Lidern, als würde sie träumen, seufzte, schmatzte auch kurz, was sein eigenes Lächeln aktivierte, schlief aber weiter. Unbemerkt hatte er sich zu ihr hinabgebeugt, sein Gesicht so nah an ihrem, dass er sie fast küsste. Wieder schloss er die Augen, konnte nicht anders, als die Wärme ihres Körpers auf ihn übergriff und ihm wenigstens etwas Geborgenheit spendete. Ihm war neuerdings ständig so kalt – auch dieser heiße Sommer hatte daran nichts ändern können.
Als ihm klar wurde, was er tat, richtete er sich abrupt auf, stolperte sogar einen Schritt zurück, die Finger seiner rechten Hand hatten sich auf seine Lippen gestohlen.
Was TAT ER HIER?
War er wirklich so ein kranker Scheißer?
Nein, das war er nicht, verdammter Fuck!
Fluchtartig verließ er den Raum, brachte es in seiner Schockiertheit gerade so zustande, die Tür leise zu schließen, und wankte leicht, als er wenig später auch ihr Apartment hinter sich ließ. Erst im großen Wohnzimmer blieb er stehen. Nach kurzer Überlegung ging er zur Bar, griff sich die erstbeste Flasche und schraubte sie auf. Er nahm einen Schluck – Glück gehabt, es war Wodka und kein Magenbitter. Dann ging er mit der Flasche bewaffnet zum Sofa und ließ sich auf das Polster fallen.
Lange starrte er vor sich hin, der Blick so tot, wie er neuerdings immer war. Nichts deutete darauf hin, dass er noch lebte, hätte er nicht dann und wann die Flasche an die Lippen geführt.
Seine Gedanken jedoch, die wirbelten in seinem Kopf umher.
Nein, das war nicht er; er musste damit aufhören, er durfte
das nicht länger dulden, ansonsten wäre bald nichts mehr von ihm übrig und das gönnte er ihnen einfach nicht.
Ja!
Ihnen
– nicht ihr.
Helen hatte nichts, aber auch wirklich absolut nichts mit dieser Scheiße zu tun, die ihn gerade zu vernichten drohte. Sie hatte nur den richtigen Satz zum falschen Zeitpunkt gesagt, und damit eine Welle in Bewegung gesetzt, die sich längst auf den Weg gemacht hatte. Genaugenommen vor über 18 Jahren.
18 verdammte Jahre!
Ein ganzes Leben, wenn man es genau nahm. Und er hatte sich ohne die geringste Gegenwehr einfangen lassen, hatte erlaubt, dass das Gift seines Vaters seine Venen flutete, womit er sich beinah alles genommen hatte. Oh, und seine Schlampe von Mutter nicht zu vergessen, die sie jämmerlich in Stich gelassen hatte.
Was, verdammte Scheiße, hatte Helen damit zu tun?
Nichts!
Was hatte er
damit zu tun?
Fast genauso wenig.
Warum hatte er sich so beeinflussen lassen?
Weil er ein Arschloch war
!
Und was hatte er vor, nun zu unternehmen, um den Karren noch aus dem Dreck zu ziehen?
Ja, und an dieser Stelle brüllte keine Einpeitscherstimme auf Terence ein, die ihn eben noch so hervorragend motiviert hatte. Hier endete sein Latein, denn er hatte ehrlich nicht die geringste Ahnung. Er wusste nur, dass es sich relativ gut anfühlte, hier zu sitzen, mit seinem Wodka, der so rein und klar war, wie er das Leben am liebsten hatte, es nur leider viel zu selten erlebte.
Leider …
* * *
Es benötigte den halben Flascheninhalt und Terence’ Nüchternheit, bevor er endlich eine Idee hatte. Sie war wahnsinnig – nun ja, das war ja nichts Neues. Er hatte keine Ahnung, wohin das führen würde, möglicherweise zu einem längeren Aufenthalt in einer Zelle – doch wenigstens würde
etwas geschehen, was eine willkommene Abwechslung wäre.
Terence nestelte sein Handy aus der Innentasche seiner Lederjacke, sah auf die Uhr und nickte. Es war noch genügend Zeit. Dann stand er auf und ging mit schnellen Schritten … aus der Haustür – nicht wie der Dieb, der er war, durch die Terrassentür, durch die er eingetreten war. Vorher nahm er übrigens den Ersatzschlüssel mit, der daneben am Haken hing. Was liebte er doch Greg’s Sinn für Ordnung.
Als er in seinen Porsche einstieg, fühlte er sich fast beschwingt, und nachdem er die Wachleute passiert hatte, die zwar wegen der Uhrzeit leicht überrascht, aber garantiert nicht argwöhnisch wirkten, da pfiff er ein leises Lied vor sich hin.
Endlich hatte er einen Plan!
Helen
Es ging bergauf!
Also wieder.
Als sie an diesem Samstag erwachte, fühlte sie sich nicht mehr ganz so zerschlagen, wie vor einer Woche um die gleiche Zeit. Sie ließ die Augen noch für einen kurzen Moment geschlossen, gab sich Gelegenheit, richtig wach zu werden, bevor sie sich daran machen würde, die Routine zu bedienen.
Das war ein guter Schnitt, fand sie. Genau eine Woche hatte sie gebraucht, um sich von der Begegnung mit Terence in ihrer
kleinen Oase auf ihrer
kleinen Bank zu erholen. Obwohl sie in der vergangenen Woche ihren neuen Job angetreten hatte und damit restlos ausgelastet gewesen war, hatte er sich nur zögernd wieder aus ihren Gedanken verzogen.
Der Mensch war ein widerliches Tier – Helen war der felsenfesten Überzeugung, dass sein logisches Denkvermögen absolut kein Vorteil war, weil er es nämlich pausenlos anwendete. Egal, ob es Sinn ergab oder nicht.
Immer und immer wieder hatte Helen über die Situation auf der Bank nachgegrübelt, ohne den Scheiß abstellen zu können – und das nervte sie. Heimlich waren auch ein paar Tränen dabei geflossen – sie schämte sich grässlich dafür. Und außerdem waren ein paar Selbsterkenntnisse auf sie eingestürzt, die ihr auch nicht sonderlich behagten. Aber sie hatte nach reiflicher Überlegung und ein paar Glas Wein beschlossen, an sich zu arbeiten. Momentan gefiel sie sich überhaupt nicht – und damit war nicht ihr Spiegelbild gemeint, sondern das, was kein Spiegel dieser Welt einfangen konnte. Es war also an der Zeit, sich zu ändern
.
Gut, das würde sie tun, wenn sie endlich diesen grässlichen Schmerz hinter sich gelassen hätte. Diese Überlegung motivierte sie derart, dass sie schließlich doch aufsprang und ins Bad ging. Sie huschte unter die Dusche, ließ für mindestens zehn Minuten das kühle Wasser über den Körper rieseln und föhnte sich dann ausgiebig das Haar. Als Nächstes schlüpfte sie in ein paar Leggins, zog ein weites Shirt darüber – Freizeitoutfit – und verließ schließlich ihr kleines Appartement. Ja, sie hätte auch in das Haupthaus umziehen können, April und Greg waren verschwunden und würden so schnell nicht wiederkommen, aber sie mochte die Enge der Räume und deren Überschaubarkeit. Außerdem musste Berta so nur einmal alle zwei Wochen kommen, um die Ordnung restlos wiederherzustellen. Wenn niemand Schmutz fabrizierte, dann war auch keiner da, den man beseitigen musste.
Als sie in den Flur trat, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihre Stirn legte sich in Falten und sie riss die Augen auf, weil eine unmissverständliche Note von frischem Kaffee, gemischt mit dem würzigen Duft gebratenen Specks in ihre Nase gedriftet war.
April?
Hatte Greg es doch noch versaut und sie war bei Nacht und Nebel heimgekehrt?
Sobald ihr dieser Gedanke gekommen war, setzte sie sich in Bewegung, doch als sie die Küche erreichte, prallte sie zurück. Ihre Augen weiteten sich, sie fühlte, wie alles Blut schlagartig ihren Kopf verließ – inzwischen musste sie wie eine Leiche aussehen –, das Herz trommelte nicht einfach nur, es schien sich aus ihrer Brust erheben zu wollen. Sie blinzelte einige Male, dann hielten zuverlässig auch der Zorn und der verdammte Schrecken
Einzug.
»Was willst du hier?«, brach es aus ihr heraus.
Terence saß am Frühstückstisch und aß Rührei mit Speck, das er sich offenbar zuvor auf dem Herd zubereitet hatte, die schmutzige Pfanne deutete auf so was hin. Er sah auf, schien sie erst jetzt zu bemerken, und lächelte kurz. »Morgen.« Damit nahm er einen Schluck von seinem Kaffee und widmete sich wieder seinem Ei.
Helen taumelte einen Schritt auf ihn zu, betrachtete fassungslos die Gestalt, die in T-Shirt, mit nackten, gebräunten Armen, mit Bartstoppeln im Gesicht und zerzaustem Haar auf dem Kopf so aussah, als wäre sie hier
gerade aus dem Bett gestiegen.
Er war … so unvergleichlich hübsch, so unanständig sexy, so … WAS MACHTE ER HIER?
Nach einer Weile sah er wieder auf, den Mund voller Ei. Er schluckte und sagte dann: »Wenn du auch was willst, solltest du dir einen Teller nehmen.« Und als sie noch immer nicht reagierte, fügte er hinzu: »Ich musste hier einziehen, die Renovierungsarbeiten in meinem Appartement ziehen sich länger hin. Greg weiß Bescheid. Das stört dich doch nicht, oder?«
Ihre Blicke versanken ineinander. Da war jede Menge Trotz und Mutwille in seinem, diese harte Seite von ihm, die sie erst vor wenigen Wochen kennengelernt hatte. Aber da war noch mehr. Sie fand auch die Bitte, fast ein Flehen, und diese Wärme, die sie so lange nicht mehr in seinen Augen gesehen hatte. Und unter ihnen lagen die schwärzesten Ringe, die sie jemals bei einem Mann gesehen hatte.
Helen schluckte, nachdem er den Kopf wieder gesenkt hatte und weiteraß. Ihr Blick fiel auf seine gepflegten Finger, welche das Besteck hielten, und sie sah, dass sie zitterten. Offenbar war er nicht halb so relaxt, wie sie glauben sollte. Sie wollte ihn anschreien,
wollte ihm ihre Wut in das geliebte Gesicht brüllen, wollte diskutieren, wollte streiten, wollte darauf beharren, dass sie im Recht war – aller Selbsterkenntnis zum Trotz.
Und nein, es war nicht der Umstand, dass auch sie sich nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert hatte, der sie am Ende schweigen ließ. Es war die Eingebung, dass man nicht alles immer gleich und sofort diskutieren musste, dass man nicht jeden Streit sofort eskalieren lassen musste, dass man nicht jede Situation sofort zu seinen Gunsten entscheiden musste – und wenn man sich noch so sehr im Recht wähnte. Manchmal war es wichtiger, sich zunächst eine Auszeit zu gönnen. Und so ließ sie dieses Zeichen auf sich wirken, jedes,
das sich aus seinem Verhalten ergab; sie registrierte das gute, aber völlig unaufgeregte Gefühl der Freude in ihrer Brust, das ihr signalisierte, dass sich die Dinge über Nacht und ohne ihr Zutun zum Besseren gewendet hatten – und das zu einem Zeitpunkt, wo sie damit als Allerletztes gerechnet hatte. Sie fühlte, wie die Nervosität sie verließ. Diese gewisse innere Anspannung, die sie über Monate im festen Griff gehalten hatte. An ihre Stelle kehrte Ruhe ein.
Vernunft.
Mäßigung.
Das Gefühl, nicht unbedingt kämpfen zu müssen. Nicht sofort. Sie hatten alle Zeit der Welt – sie wusste es einfach.
Am Ende zog sie langsam den Stuhl zurück und ließ sich darauf nieder.
Wieder sah er auf, ihre Blicke versanken abermals ineinander, diesmal meinte sie, die darin vorhandene Wärme noch glühender zu sehen.
Dann stand er auf und ging zum Küchentresen. »Kaffee?«
Sie faltete ihre Hände ineinander und führte einen Zeigefinger an ihre lächelnden Lippen. »Ja, danke.«