Z ur selben Zeit, am Ende eines unbefestigten Wegs auf der windumtosten Insel Usedom an der Ostseeküste, blickte ein hagerer deutscher Offizier hinaus auf die Wellen, die im Nebel über den hellgrauen Sand hereinschlugen.
Zwischen die Zähne hatte er eine kurzstielige Bruyèrepfeife geklemmt, mit der er seinen letzten Tabak rauchte.
Ein weiterer Soldat in der Uniform eines Luftwaffen-Unteroffiziers näherte sich und blieb vor dem Offizier stehen. »General Hagemann«, sagte er leise, als fürchtete er, die Gedanken seines Vorgesetzten zu stören.
Der Offizier nahm die Pfeife aus dem Mund und umschloss den Pfeifenkopf mit seiner lederbehandschuhten Hand. »Ich hoffe, Sie haben zur Abwechslung mal angenehme Neuigkeiten, Feldwebel Behr.«
»Der Nebel wird sich bald auflösen«, antwortete der Unteroffizier. »Und laut Meldung des Beobachtungsschiffes sind die Sichtverhältnisse im Zielgebiet gut.«
Ein Lächeln erschien auf General Hagemanns müdem Gesicht. Trotz seines militärischen Rangs war das Soldatentum ihm eigentlich fremd. Er war Wissenschaftler von Beruf, und seine Arbeit als Leiter der Triebwerksentwicklung in der hochgeheimen V2 -Produktionsstätte im nahe gelegenen Peenemünde hatte sein Leben bestimmt – es hatte ihn erst seine Ehe, dann seine Gesundheit und schließlich auch seinen Verstand gekostet, wie er seit Kurzem mutmaßte.
Seit dem ersten erfolgreichen Start einer V2 -Rakete im Oktober 1942 arbeitete Hagemann an einer Radarfrequenz-Fernsteuerung namens Diamantstrahl. Das System, wenn es perfektioniert würde, könnte die Zielgenauigkeit der vierzehn Meter hohen Rakete mit ihrem tausend Kilogramm schweren Sprengkopf in höchstem Maße verbessern. Die Entwicklung des Krieges hatte sie gezwungen, die Städte London und Antwerpen anzugreifen, wobei nach Hagemanns Schätzungen nur eine von siebzehn der bislang über tausend abgeschossenen Raketen ihr beabsichtigtes Ziel auch getroffen hatte. Die beträchtlichen Schäden, die den fraglichen Städten zugefügt wurden, waren dem General allerdings nur ein kleiner Trost. Obwohl das Deutsche Reich zwischen den Engländern und Amerikanern im Westen und der Roten Armee im Osten in die Zange genommen wurde, war der General überzeugt, dass diese schreckenerregenden Waffen, sofern die erforderliche Zielgenauigkeit erreicht würde, den Ausgang des Krieges zu ihren Gunsten entscheiden könnten. Und selbst wenn die Niederlage nicht mehr abzuwenden wäre, könnte eine perfektionierte V2 bei separaten Friedensverhandlungen mit den westlichen Alliierten dazu benutzt werden, um die bedingungslose Kapitulation vielleicht doch noch abzuwenden.
Hagemann zweifelte nicht daran, dass nicht nur die Zukunft seines Landes, sondern jede zukünftige Kriegsführung in höchstem Maße vom Projekt Diamantstrahl beeinflusst würde und abhängig war. Der Name des Projekts leitete sich von den glitzernden Partikeln im Abgasstrahl der unter kontrollierten Versuchsbedingungen gestarteten Rakete ab, der einem funkelnden Schweif aus Diamanten glich.
Während im Westen mit Sprengköpfen bestückte V2 auf ihre Ziele abgefeuert wurden, stiegen andere, nur mit Sandsäcken beladene Aggregate in den Nachthimmel auf, um irgendwo in den Gewässern der Ostsee niederzugehen. Sie waren die Opferlämmer des Projekts. Durch Regulierung der aus Flüssigsauerstoff, Alkohol und Wasserstoffperoxid bestehenden Treibstoffmischung – die vorgenommenen Änderungen der Zusammensetzung lagen im Milliliterbereich – versuchte Hagemann, die Zielgenauigkeit zu vervollkommnen.
Die für den heutigen Abend vorgesehene Rakete war mit einem Gerät versehen, das ursprünglich für die Steuerung von Luftabwehrraketen entwickelt worden war. Das für den Einsatz in einer V2 ursprünglich viel zu primitive System hatte eine so große Anzahl von Nachbesserungen erforderlich gemacht, dass Hagemann bei diesem Test fest mit einem weiteren Fehlschlag rechnete.
Feldwebel Behr reichte ihm ein Klemmbrett. »Hier die Details für heute Abend«, sagte er. Er gab ihm eine kleine Stabtaschenlampe, damit der General die Seite beleuchten konnte, wenn er die Zahlenreihen durchging. »Keine einzige liegt innerhalb der üblichen Parameter.« Er schnalzte mit der Zunge und seufzte. Nach so vielen Jahren der Forschung, dachte er, nach Abertausend Experimenten haben wir zwar einiges erreicht, dennoch kommt irgendwann immer der Punkt, an dem wir blind durch die Dunkelheit stolpern. Und wie so oft musste Hagemann sich selbst daran gemahnen, dass es keinen Grund gebe, den Glauben zu verlieren.
»Das mit den Parametern, das stimmt schon«, erwiderte Behr. »Manche Werte liegen darüber, andere darunter. Aber vielleicht gleicht sich ja alles wieder aus.«
Hagemann stieß ein Lachen aus. Er patschte dem Feldwebel auf den Rücken. »Wenn es nur immer so einfach wäre, mein Freund.«
»Soll ich weitergeben, dass sich der Start verzögert?«, fragte Behr. »Wenn Sie noch Zeit brauchen, um die Zahlen neu zu ordnen?«
»Nein.« Hagemann drückte dem Feldwebel das Klemmbrett gegen die Brust. »Sagen Sie ihnen, sie können loslegen.«
»Sie kommen mit zum Prüfstand?«
»Ich bleibe und beobachte den Start von hier aus«, antwortete Hagemann. Er fürchtete, sein Untergebener würde bemerken, wie sehr es ihm an Vertrauen mangelte. An manchen Tagen konnte er es besser verbergen als an anderen.
»Zu Befehl.« Feldwebel Behr schlug die Hacken zusammen und entfernte sich wieder. Kurz bevor ihn die Dunkelheit verschluckte, drehte er sich noch einmal um. »Viel Glück, Herr General.«
»Was?«, fragte Hagemann. »Was haben Sie gesagt?«
»Ich wünsche Ihnen viel Glück«, kam die Antwort aus der Nacht.
»Ja«, erwiderte Hagemann schroff. »Das können wir alle gebrauchen.«
Mit einem Mal hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er so wenig für die Moral des technischen Stabs tat. Noch nicht einmal eine Flasche Schnaps gegen die Kälte hatte er den Männern spendiert, wenn sie in ihre hastig errichteten Notunterkünfte in Karlshagen an der Südspitze der Insel zurückkehrten. Die ursprünglichen Quartiere, die nicht nur fließend warmes Wasser, sondern auch eine erstklassige Messe und sogar ein Kino besessen hatten, waren im August 1943 durch einen britischen Bombenangriff zerstört worden. Obwohl man manche Anlagen der weitverzweigten Versuchsanstalt wiederaufgebaut hatte, war vieles doch Ruine geblieben. Zudem hatte der sowjetische Vormarsch es erforderlich gemacht, den Großteil der Belegschaft in den Harz zu evakuieren.
In diesem Moment hörte er das vertraute Zischen des Raketenmotors der V2 . Er spürte regelrecht, wie das Aggregat von der Betonplatte des Prüfstands abhob, als wäre das gewaltige Gerät ein Teil seines eigenen Körpers. Und eine Sekunde später, als die Rakete in den Nachthimmel aufstieg, sah er ihre mohnrote Abgasflamme.
Fast augenblicklich wurde sie vom feuchten Nebel verschluckt.
Hagemann machte kehrt und trat den Rückweg zum Meillerwagen an, einem eigens entwickelten Anhänger zum Transport und Aufrichten der Rakete.
Es gab jetzt nichts mehr zu tun, außer auf den Bericht des Beobachtungsschiffes zu warten, um zu erfahren, wo die Rakete niedergegangen war.
Er sah die winzigen Glühpunkte der Zigaretten, als sich die Mannschaft daranmachte, die Abschussplattform abzubauen, damit die Aufklärungsmaschinen der Alliierten bei Tag nichts mehr zu fotografieren hatten. Sogar der verräterische Kreis aus verbrannter Erde, der nach der Zündung am Boden zurückblieb, wurde von Männern mit Holzrechen sorgfältig entfernt – sie gingen dabei so ernst und feierlich ihrer Arbeit nach wie Sand rechende buddhistische Mönche in einem Zen-Garten.
Als sich Hagemann ihnen näherte, drückte er den Rücken durch und setzte eine zuversichtliche Miene auf. Er wusste, sie würden bei ihm Bestätigung dafür suchen, dass sich ihre Mühen und Opfer auch lohnten.