W eit draußen in den kalten Gewässern der Ostsee rollte der Trawler Gullmaren in der aufkommenden Brise. Der Frühling war erst spät gekommen, gelegentlich schlugen nach wie vor Eisschollen gegen den Holzrumpf, was laute Flüche des Rudergängers zur Folge hatte.

Unter Deck im Eisraum, wo sonst der Fang verstaut wurde, hatte sich die restliche aus drei Mann bestehende Crew um ein großes Funkgerät versammelt.

Der Apparat war an einen Tisch geschraubt, damit er bei schwerem Seegang nicht wegrutschte. Vor dem Funkgerät war eine Enigma-Verschlüsselungsmaschine angebracht. Sie glich entfernt einer Schreibmaschine, nur hatte sie dort, wo man Typenhebel und Wagen erwartete, vier Metallwalzen. Die Kerben an diesen Walzen korrespondierten mit den Buchstaben des Alphabets und konnten je nach Belieben angeordnet werden, sodass Sender und Empfänger die Konfiguration nach Belieben anpassen konnten. Betätigte man die Tasten der Maschine, wurde jeder einzelne Buchstabe durch die jeweilige Verdrahtung der Walzen separat verschlüsselt. Dieses System ermöglichte für jede übermittelte Nachricht Hunderttausende von Permutationen.

Der Funker war über das Gerät gebeugt und drückte sich die Kopfhörer an die Ohren. Gegen die feuchte Kälte hatte er eine schwarze, halblange und kragenlose Lederjacke übergezogen, wie sie sonst deutsche U-Boot-Maschinisten trugen.

Neben ihm stand Oskar Hildebrand, der Kapitän der Gullmaren . Er schwankte in der Dünung leicht hin und her.

Hildebrand war kein Fischer, auch wenn er in seinem verdreckten weißen Rollkragenpullover und mit der schwarzen Wollmütze so aussah.

Tatsächlich bekleidete er den Dienstrang eines Kapitänleutnants der deutschen Kriegsmarine und war seit über einem Jahr als Verbindungsoffizier zur Heeresversuchsanstalt in Peenemünde abgestellt.

»Und?«, fragte Hildebrand den Funker.

»Noch nichts, Kaleu.« Kaum hatte der Funker das ausgesprochen, zuckte er zusammen, als hätte er einen Stromstoß abbekommen. Im gleichen Augenblick blitzten Lichter im Lampenfeld der Enigma auf. »Start ist erfolgt«, sagte er.

Hildebrand wusste somit, dass ihnen noch etwa sechs Minuten blieben, bis die V2 das Zielgebiet erreichte. Seine Aufgabe war es, so genau wie möglich den Einschlagspunkt zu bestimmen und die Informationen an General Hagemann zu übermitteln.

Seit fast einem Jahr diente Hildebrand schon als Beobachter und durfte mit ansehen, wie sich die Raketen durch den Aufprall auf den Wellen selbst vernichteten. Ursprünglich war er als Kommandant eines Schnellboots an der französischen Atlantikküste stationiert gewesen. Sein neues Kommando in der Ostsee hatte er anfangs als so sehr unter seiner Würde angesehen, dass er – selbst wenn er darüber hätte reden dürfen – schon aus Scham geschwiegen hätte. Es war ihm nur ein kleiner Trost, dass er seinen alten Funker, den Steuermannsmaat Grimm, und seinen Rudergänger, den Matrosenobergefreiten Barth, hatte behalten dürfen. Barth, in den Jahren zuvor gewohnt, die drei Daimler-Benz-Motoren des Schnellboots mit insgesamt 2500 PS Leistung zu steuern, grämte sich, dass er sich hier mit dem schwerfälligen und eigenwilligen Diesel herumschlagen musste.

In den folgenden Monaten aber, als fast alle ihre Kameraden aus der Kriegsmarine von ihren alten Kommandos abgezogen und der Infanterie zugewiesen wurden, um in den Fleischwolf der russischen Front geworfen zu werden, wussten Hildebrand und seine zweiköpfige Besatzung ihren scheinbar belanglosen Einsatz sehr zu schätzen.

Sah man davon ab, dass sie den Befehl hatten, unter der Flagge des neutralen Schweden zu fahren, wofür sie sofort erschossen worden wären, falls sie von einem der in diesem Gebiet operierenden russischen Schiffe kontrolliert würden, befanden sie sich in relativer Sicherheit.

Hildebrand fürchtete lediglich, von einer Rakete getroffen zu werden. Dass diese Waffen keinen Sprengkopf mit sich führten, beruhigte ihn kaum – allein das Eigengewicht der sogenannten Aggregate sowie ihre Endgeschwindigkeit reichten aus, um ihn, sein Boot und seine Mannschaft zu pulverisieren.

Hildebrand war beileibe kein Ingenieur, hatte sich aber zumindest so viel zusammenreimen können, um zu wissen, dass die ständige Bombardierung der Ostsee der Verbesserung des Steuerungssystems diente. Und nach allem, was er hier draußen auf dem Meer mit eigenen Augen gesehen hatte, vermutete er, dass die zuständigen Techniker noch einen weiten Weg vor sich hatten.

»Ich geh mal lieber rauf«, verkündete Hildebrand. Aus einem Staufach am Niedergang nahm er sich ein schweres Zeiss-Fernglas mit schwarzer Gummierung und Schutzklappen. Das Dienstglas war ihm als S-Boot-Kommandant ausgegeben worden, und hätten die Gläser alles, was Hildebrand mit ihnen anvisiert hatte, in sich aufbewahrt, dann hätte man die Kreidefelsen von Dover sehen können, brennende amerikanische Tanker vor dem Hafen von Portsmouth wären sichtbar geworden sowie die Marinebasis La Pallice an der bretonischen Küste, die, wie er nach der Rückkehr von einem seiner Einsätze feststellen musste, durch einen alliierten Luftangriff völlig zerstört worden war.

Sie mochten ihm sein Schnellboot genommen haben, aber er würde sich niemals von diesem Fernglas trennen. Er schlang sich den Ledergurt um den Hals und stieg den Niedergang hinauf, öffnete die Luke und trat aufs Deck.

Der erste Atemzug in der kalten Luft fühlte sich an, als hätte er Pfeffer in die Lunge bekommen.

Eis hatte sich auf das Schleppnetz gelegt, das achtern auf einer großen horizontal angebrachten Metalltrommel aufgewickelt war. Sogar jetzt noch fiel die Temperatur oftmals unter den Gefrierpunkt. Er ging sofort zum Netz und schlug gegen das Eis, das sich in großen Brocken löste. Jedes passierende russische Fahrzeug hätte anhand des vereisten Netzes sofort erkannt, dass sie mit der Fischerei nicht viel am Hut hatten.

Die Tür zum Ruderhaus ging auf, und Barth steckte den Kopf heraus. »Bist du das, Kaleu?«, fragte er.

»Mach nur das Netz frei«, erwiderte Hildebrand und sah, dass ihre kleine, an einem Besenstiel am Bug befestigte schwedische Flagge ebenfalls vereist war. Hildebrand trat an die Flagge und schüttelte das Tuch, bis die gelben und blauen Farben wieder zu erkennen waren.

»Der Führer dankt es dir, wenn du so pingelig bist«, bemerkte der Rudergänger.

»Und er weiß bestimmt auch deinen Sarkasmus zu schätzen«, antwortete Hildebrand.

Barth richtete den Blick auf den Himmel. »Wann soll sie kommen?«

»Jederzeit.«

Der Rudergänger nickte. »Kalt heute Nacht.«

»Halt nach Eisschollen Ausschau.«

»Wir haben schon ein paar gerammt auf dieser Fahrt. Wenn das so weitergeht, knallt uns noch mal eine durch den Rumpf.« Er spuckte aufs Deck und schloss die Tür hinter sich.

Hildebrand, der wieder allein war, suchte zwischen den Sternen nach der Flamme der V2 . Er nahm das Fernglas vor die Augen und richtete es auf den Dreiviertelmond. Der Ptolemaeus-Krater – eine Landschaft, die ihn an die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs erinnerten – geriet in sein Blickfeld.

»Kaleu!«, rief Barth.

Hildebrand ließ das Fernglas sinken.

Der Rudergänger deutete nach backbord achtern.

Hildebrand sah es jetzt – die weiße Bugwelle eines schmalen, durch die Gewässer pflügenden Schiffes. Kurz darauf erkannte Hildebrand den gepanzerten Ruderstand eines sowjetischen Patrouillenboots, die primär zur U-Boot-Jagd eingesetzt wurden. Hildebrand hatte bereits einige von ihnen gesichtet, seitdem er in der Ostsee unterwegs war. Außerdem hatte er von regelrechten Duellen zwischen den sowjetischen Booten und finnischen U-Booten gehört, die aufgetaucht gestellt worden waren. Da die Finnen nicht abtauchen konnten, weil sie sonst chancenlos gegen die russischen Wasserbomben gewesen wären, blieben sie an der Oberfläche und lieferten sich mit den russischen Seeleuten Maschinengewehrgefechte, bis die Boote so von Einschüssen durchlöchert waren, dass oftmals beide sanken. Es gab auch andere Geschichten; Geschichten von überladenen Frachtschiffen, die mit deutschen Zivilisten und verwundeten Soldaten an Bord vor dem sowjetischen Vormarsch flohen und das noch von deutschen Truppen besetzte Dänemark anzusteuern versuchten. Diese Schiffe wurden zu einer leichten Beute für die russischen Boote. Tausende von Frauen, Kindern und Soldaten verloren dabei ihr Leben. Vielleicht auch Zehntausende. Die genaue Zahl würde wohl nie bekannt werden.

Direkt vor Hildebrand lag eine Holzkiste, in der normalerweise aufgeschossene Taue aufbewahrt wurden. Sie enthielt zwei Panzerfäuste, ein Dutzend Stielhandgranaten und drei Schmeißer-MPi – genug, damit sich die Besatzung der Gullmaren zumindest notdürftig verteidigen konnte, falls die Russen ihnen zu sehr auf die Pelle rückten. Denn der Trawler war natürlich nicht gepanzert. Der Rumpf war bereits angefault und von Schiffsbohrwürmern angegriffen. Die alte Dieselmaschine hatte absolut keine Chance, selbst dem langsamsten russischen Patrouillenboot zu entkommen. Hildebrand hatte immer darauf gebaut, dass ihr größter Schutz ihre absolute Schutzlosigkeit war. Und die blau-gelbe schwedische Fahne, die dank seiner Pingeligkeit jetzt auf ihrem Besenstiel vor sich hin flatterte.

Mit der Stiefelspitze öffnete Hildebrand den Deckel der Holzkiste und betrachtete die Waffen vor sich. Und während sich der Nebel auf den schwarzen Lauf der MPi und die matte Röhre der Panzerfaust legte, versuchte Hildebrand zu kalkulieren, wie lange er brauchen würde, um eine der Handgranaten zu ergreifen, die Sicherungskappe unten am Stiel wegzuschrauben, die Abreißschnur innerhalb des hohlen Stiels abzureißen und sie nicht auf die Russen zu schleudern, sondern nach unten in den Eisraum, um die Enigma-Maschine zu zerstören, bevor sie den Russen in die Hände fiel.

Grimm würde durch die Explosion natürlich getötet werden, aber die Russen würden ihn sowieso erschießen, wenn sie herausfanden, wer er war. Keiner von ihnen würde überleben, davon war Hildebrand überzeugt.

Das Patrouillenboot kam näher, Hildebrand hörte, wie der russische Rudergänger die Maschine drosselte. Dann ertönte ein scharfer Befehl, ein metallisches Klacken, und plötzlich war der Trawler in das Magnesiumlicht eines Suchscheinwerfers getaucht.

Mit zusammengekniffenen Augen hob Hildebrand die Hand und rief: »Hur mår du?« – die einzigen Worte Schwedisch, die er kannte.

Während der Suchscheinwerfer des Patrouillenboots über den Rumpf des Trawlers strich, sah Hildebrand den Maschinengewehrstand auf dem Vordeck. Ein russischer Seemann stand hinter dem schweren MG und lehnte sich gegen die halbmondförmigen Schulterpolster, um ihn jederzeit mit seinen 37 -mm-Patronen in Stücke zu schießen.

Trotz der Kälte lief Hildebrand jetzt der Schweiß über den Rücken.

Das Patrouillenboot war mit ihnen mittlerweile auf gleicher Höhe und machte kaum noch Fahrt.

Er erblickte den Kommandanten, der vom offenen Ruderhaus heruntersah. Er trug eine eng anliegende Pelzmütze und hatte mit seinen dicken Pranken die Schutzhaube des Turms umfasst. Er lächelte nicht.

Das galt auch für die übrigen Besatzungsmitglieder, die alle schwere Tuchmäntel mit dicken Pelzkragen trugen und mit PPSch-Maschinenpistolen mit fünfzig Schuss fassendem Trommelmagazin bewaffnet waren.

»Hur mår du?«, rief Hildebrand erneut und winkte überschwänglich, während er wie ein Betrunkener hin und her schwankte, um die Bewegung des Decks unter seinen Füßen auszugleichen.

Der Kommandant wandte sich an einen der Männer neben ihm.

Der andere lächelte.

Der Kommandant lachte. Er hob eine Hand und winkte zum Gruß.

»Das war’s«, murmelte Hildebrand, während er mit zusammengebissenen Zähnen lächelte. »Hau schon ab, Bolschewik.«

Die Maschine des Patrouillenboots heulte auf, und das Boot entfernte sich und verschwand im salzigen Nebel.

Hildebrand versuchte zu schlucken, aber seine Kehle war so zugeschnürt, dass er sich an einem Tau festhalten und über die Bordwand beugen musste, um auszuspucken. Und dabei schwang das Fernglas an seinem Lederriemen hin und her.

Sein Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte es ganz vergessen.

Wie konnte den Sowjets entgangen sein, dass ein schwedischer Fischer ein deutsches Fernglas um den Hals hängen hatte? Die Antwort konnte nur lauten: Es war ihnen nicht entgangen. Er zog eine Panzerfaust aus der Holzkiste, und da er nie eine abgefeuert hatte, fragte er sich, wie zielgenau sie war.

Hildebrand starrte in die Schwärze und wartete darauf, dass das Patrouillenboot zurückkehrte und die nächtliche Luft von den Strahlen der Leuchtspurmunition zerrissen würde, wenn die russischen Waffen sein Schiff vernichteten.

Aber das Patrouillenboot tauchte nicht mehr auf.

Er stellte sich vor, wie der russische Kommandant Wochen oder sogar Jahre später aus einem Traum hochschreckte und plötzlich seinen Irrtum bemerkte.

Wieder lächelte Hildebrand, diesmal aber nicht aus Angst.

In diesem Moment flackerte etwas vor der zerfurchten weißen Mondscheibe auf.

Hastig griff er zum Fernglas und entdeckte gleich darauf den feurigen Abgasstrahl der V2 , die einen weißen Kondensstreifen in das Firmament zeichnete. Und noch etwas, etwas noch nie Dagewesenes. Zwischen der kreidigen Dunstspur und dem Gasbrenner der Rakete sah er ein glitzerndes Licht, als hätte sich das Universum umgekehrt und als blicke er nicht mehr hinauf, sondern hinab in die Tiefe des Meeres, und als wäre die V2 nicht mehr ein zusammengeschweißtes Stück Hochtechnologie, sondern ein riesiges und elegantes Meereslebewesen, dem ein Schwarm winziger Fische folgte, die seinen Weg mit ihren silbrigen Leibern illuminierten.

»Diamanten«, flüsterte Hildebrand. So verzaubert war er von der einzigartigen Schönheit dieses Augenblicks, dass er erst, als die Rakete in einer Höhe von etwa einem Kilometer über ihn hinwegflog, bemerkte, dass sie nicht im Sinkflug begriffen war, wie es bei allen anderen Raketen der Fall gewesen war. »Sind wir auch wirklich im Zielgebiet?«, schrie er dem Rudergänger zu.

Die Tür zum Ruderhaus ging auf, und Hildebrand war gezwungen, sich zu wiederholen.

»Ja«, antwortete Barth. »Warum?« Bevor Hildebrand etwas erwidern konnte, bemerkte der Rudergänger ebenfalls, dass die V2 über sie hinwegflog.

»Sollte die nicht langsam runterkommen?«, fragte Barth.

»Ja, sollte sie«, sagte Hildebrand. »Vorausgesetzt, wir sind an der richtigen Stelle.«

»Sind wir, Kaleu. Ich hab’s nachgeprüft.«

»In welche Richtung ist sie unterwegs?«, fragte Hildebrand.

»Nach Norden. Direkt nach Norden.«

Hildebrand stieg den Niedergang in den Eisraum hinunter.

»Alles in Ordnung?«, fragte Grimm und nahm die Kopfhörer ab.

»Eine Karte!«, rief Hildebrand. »Ich brauch eine Karte der Gegend hier.«

Grimm legte ihm eine Seekarte auf den Tisch, nachdem er mehrere Stifte, Winkelmesser und entschlüsselte Enigma-Transkripte zur Seite geräumt hatte.

Hildebrand studierte die Karte und fuhr mit dem Finger die Nord-Süd-Achse entlang, bis er auf die fünfzig Kilometer voraus liegende Insel Bornholm stieß. »Scheiße«, schrie Hildebrand. »Ich glaube, wir erklären Schweden gerade den Krieg.«

»Bornholm gehört zu Dänemark«, bemerkte Grimm nur tonlos.

»Völlig egal, zu wem sie gehört. Schick eine Meldung an den General und frag ihn, was zum Teufel hier vor sich geht.«