D ie Sonne hatte sich gerade über die Zwiebeltürme der Basilius-Kathedrale erhoben, als Major Kirow und Pekkala im Kreml eintrafen.

Sie wurden von Stalins Sekretär, einem kleinen, reizbaren Mann namens Poskrjobyschew, zu dessen Büro geführt. Obwohl ohne offiziellen Dienstrang, war Poskrjobyschew einer der mächtigsten Männer des Landes. Jeder, der zur Audienz bei Stalin wollte, musste erst durch seinen Vorraum. Hier herrschte er über eine triste Ansammlung von Aktenschränken, einen Stuhl, ein Telefon und eine Gegensprechanlage, die wie eine dicke schwarze Kröte auf seinem Schreibtisch hockte.

Hatte er die Besucher in Stalins Büro geleitet, zog er sich zurück und schloss mit der tänzerischen Anmut eines Höflings hinter sich die Tür.

Poskrjobyschew nahm nie an diesen Treffen teil, schaltete aber immer die Gegensprechanlage an und belauschte die Gespräche. Das konnte er, ohne Verdacht zu erregen, da er nach stundenlangem Gefummel herausgefunden hatte, dass das rote Lämpchen – das normalerweise auf Grün umsprang, wenn die Gegensprechanlage in Betrieb war – auf Rot blieb, wenn er den Schalter nur halb bewegte, er aber in dieser Stellung trotzdem jedes Wort mithören konnte.

Diese technische Unzulänglichkeit war der wahre Grund für Poskrjobyschews Machtfülle, sie hatte aber auch ihren Preis. Nachts, in der Wohnung, die er sich mit seiner Mutter teilte, warf er sich unruhig im Bett hin und her, wenn der Verrat und die von Stalin über das Land gebrachten Schrecknisse ihm den Schlaf raubten.

»Er hat noch einen Besucher«, flüsterte Poskrjobyschew Pekkala zu, als sie vor der Tür zu Stalins Büro standen. »Irgendeinen Lehrer. Einen seltsamen Vogel.«

Pekkala nickte.

Die Türen gingen auf.

Die beiden Männer traten in den Raum, und Poskrjobyschew schloss hinter ihnen mit seinem üblichen theatralischen Gehabe die Türen.

Stalin saß hinter seinem Schreibtisch. Wie immer waren die schweren Vorhänge zugezogen. Es roch nach Bienenwachspolitur und den fünfzig Zigaretten, die Stalin am Tag qualmte.

Am anderen Ende des Raums, vor einem Lenin-Porträt an der Wand, stand ein Mann in Tweedjacke und grauer Flanellhose. Er drehte sich um, als Pekkala und Kirow eintraten, und neigte zur Begrüßung leicht den Kopf. Er hatte dichtes graues Haar und einen buschigen Oberlippenbart. Seine Augen, kalt und kornblumenblau, verrieten die Unaufrichtigkeit seines Lächelns.

Kein Russe, dachte Pekkala.

Zur Bestätigung von Pekkalas Vermutung stellte Stalin ihn als Professor Deacon Swift vor, Mitglied der Königlichen Landwirtschaftlichen Handelskommission. »Aber natürlich«, fügte Stalin hinzu, »wissen wir alle, dass das eine Lüge ist.«

Das Lächeln in Swifts Miene schwand rapide. »So würde ich das nicht ausdrücken.«

»Egal, welche Stellung Sie bei der Handelskommission einnehmen«, fuhr Stalin fort, »Sie gehören auch dem britischen Geheimdienst an. Für den waren Sie lange in Ägypten und in Rom tätig, und für den sind Sie jetzt in Moskau tätig.« Stalin sah zu dem Briten. »Habe ich was vergessen?«

»Nein. Außer vielleicht den Grund meines Besuchs.«

Stalin wies auf Pekkala. »Nur zu, gehen Sie Ihren Geschäften nach.«

Swift holte tief Luft. »Inspektor Pekkala, ich wurde von der Regierung Seiner Majestät wegen einer höchst bedeutsamen Angelegenheit geschickt. Wir werden bald Ihre Hilfe benötigen, weil wir einen unserer Agenten aus Berlin herausholen müssen.«

»Ich nehme an, Sie haben mehrere Agenten dort«, sagte Pekkala.

Swift nickte bedächtig. »Gut möglich, ja.«

»Was ist das Besondere an diesem Agenten?«

»Die Person dürfte unserer Ansicht nach für Sie von gewissem Wert sein.«

»Und warum?«

»Die Person, deren Codename Christophe lautet, versorgt uns mit Propagandaschnipseln.«

»Schnipsel?«, fragte Pekkala.

»Ah …« Swift zog das Wort in die Länge. »Nichts von Bedeutung, wirklich. Nur etwas von diesem und jenem über gewisse Vorgänge im deutschen Oberkommando, was wir in unseren Rundfunkübertragungen für die befreiten Gebiete verwenden können. Natürlich hören auch die Deutschen diese Sendungen. Dadurch wissen sie, dass uns nichts entgeht.«

»Bislang«, bemerkte Pekkala, »haben Sie mir nichts erzählt, was für mich irgendwie von Belang wäre.«

»Nun ja«, erklärte Swift, »die fragliche Person ist Ihnen bekannt.«

Verwirrt kniff Pekkala die Augen zusammen. »Ich kenne keine britischen Agenten und schon gar keinen mit dem Namen Christophe.«

»Ah!« Swift streckte den Zeigefinger in die Luft. »Doch, doch, Inspektor. Christophe – so lautet der Tarnname für eine Frau namens Lilja Simonowa.«

Pekkala glaubte, sein Herz setze aus. Unwillkürlich fasste er in seine Tasche und strich mit rauen Fingerspitzen über das zerknitterte Foto, das von ihnen beiden aufgenommen worden war.

»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«, fragte Swift.

Es war in Petrograd gewesen, in der letzten Februarwoche 1917 .

Ganze Regimenter – das Wolhynische Garderegiment, das Semjonowski- und das Preobraschenski-Regiment – hatten gemeutert. Viele Offiziere waren bereits erschossen worden. Vom Litejny-Prospekt war Maschinengewehrfeuer zu hören. Mit den Soldaten hatten streikende Fabrikarbeiter und Matrosen von der Festungsinsel Kronstadt mit der systematischen Plünderung von Geschäften begonnen. Sie hatten das Amtsgebäude der Petrograder Polizei gestürmt und die Fahndungslisten zerstört.

Der Zar hatte schließlich davon überzeugt werden können, Kosaken gegen die Aufständischen in den Kampf zu schicken, aber die Entscheidung kam zu spät. Als die Kosaken sahen, wie weit die Revolution fortgeschritten war, stellten auch sie sich gegen die Regierung. Jetzt zogen sie durch die Stadt und verprügelten oder töteten jeden, der ihnen Widerstand leistete.

Es war nach Mitternacht, als der Zar ihn in sein Arbeitszimmer im Alexanderpalast bestellte. Der Zar saß an seinem Schreibtisch, der Uniformrock hing über der Stuhllehne. Olivfarbene Hosenträger spannten sich über seine Schultern, er hatte die Ärmel seines zerknitterten weißen Hemds hochgerollt.

Pekkala verneigte sich. »Sie haben nach mir geschickt, Exzellenz?«

»Ja«, erwiderte der Zar. »Wo ist Ihre Verlobte?«

»Exzellenz?«

»Ihre Verlobte!«, wiederholte er ungehalten. »Wo ist sie?«

»Zu Hause. Warum fragen Sie?«

»Weil sie rausmuss«, sagte der Zar. »Und zwar so schnell wie möglich.«

»Aus Petrograd?«

»Aus Russland!« Der Zar griff hinter sich, zog ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche seines Uniformrocks und schob es über den Tisch zu Pekkala. »Das ist eine Reiseerlaubnis nach Paris. Sie wird über Finnland, Schweden und Norwegen reisen müssen, das ist die einzige sichere Route im Moment. Der Zug fährt in drei Stunden ab. Ich kann mit einiger Sicherheit sagen, dass es der letzte ist, auf dem ein von mir ausgestellter Passierschein akzeptiert wird. Danach ist meine Unterschrift vielleicht nichts mehr wert.«

»Drei Stunden?«, sagte Pekkala.

Der Zar starrte ihn nur an. »Wenn Sie jetzt zögern, und sei es nur für eine Minute, überantworten Sie sie möglicherweise dem Tod. Es wird die Zeit kommen, wo Sie wieder zusammen sein werden. Aber jetzt brauche ich Sie hier. Sie verstehen?«

»Ja, Exzellenz.«

»Gut. Dann gehen Sie. Und richten Sie ihr meine Grüße aus.«

Drei Stunden später standen Lilja und Pekkala auf dem Bahnsteig des Finnischen Bahnhofs in Petrograd, wo sich die Menschen dicht drängten.

Viele der Flüchtenden waren mit großen Seemannstruhen erschienen, mit Koffern, sogar mit Vögeln in Käfigen. Die erschöpften Gepäckträger in ihren dunkelblauen Uniformen hatten schwer zu schleppen. Es waren zu viele Menschen. Niemand kam voran, ohne die anderen aus dem Weg zu drängen. Immer mehr Passagiere ließen ihr Gepäck kurzerhand stehen und schoben sich, den Fahrschein über den Kopf erhoben, zum Zug voran. Ihre Rufe übertönten noch das Schnaufen der vor der Abfahrt stehenden Dampflokomotive. Hoch oben unter den verschmutzten Glasscheiben des Bahnhofsdaches bildete sich Kondenswasser, das als schwarzer Regen auf die Passagiere niederging.

Ein Schaffner lehnte sich aus einer Waggontür und stieß auf seiner Pfeife drei schrille Töne aus.

»Noch zwei Minuten«, sagte Pekkala. »Der Zug wird nicht warten.« Er fasste in seinen Hemdausschnitt und brachte ein Lederband zum Vorschein, das er um den Hals trug und an dem ein goldener Siegelring hing. »Pass für mich auf ihn auf.«

»Aber das ist doch dein Hochzeitsring.«

»Das wird er auch sein«, erwiderte er. »Wenn wir uns wiedersehen.«

Als die Passagiere erkannten, dass in den Waggons nicht genügend Platz für alle war, machte sich Panik breit. Die Menge wogte hin und her wie ein Getreidefeld im Wind.

»Ich könnte auf den nächsten Zug warten«, flehte Lilja. Sie hielt ihre einzige, aus gefärbtem Teppichstoff gefertigte Tasche umklammert, die einige Bücher, ein paar Bilder und eine zweite Wäschegarnitur enthielt. Ihre einzigen Besitztümer, die ihr geblieben waren.

»Einen nächsten Zug gibt es vielleicht nicht mehr. Bitte, du musst jetzt fahren.«

»Aber wie willst du mich finden?«

Er lächelte und strich ihr durchs Haar. »Keine Sorge. Wenn ich etwas kann, dann das.«

Die Schreie derjenigen, die nicht mehr in den Zug kamen, wuchsen zu einem lauten Kreischen an. Ein zu hoch aufgeschichteter Gepäckstapel fiel plötzlich in sich zusammen. Passagiere in Pelzmänteln stoben auseinander, sofort schloss sich die Menge wieder um sie.

»Jetzt«, sagte Pekkala. »Bevor es zu spät ist.«

Nachdem Lilja schließlich eingestiegen war, drehte sie sich noch einmal um und winkte ihm zu.

Pekkala winkte zurück. Und dann verlor er sie aus den Augen, als weitere Menschen an ihm vorbeidrängten und dem Gerücht folgten, ein weiterer Zug sei auf der anderen Flussseite im Nikolai-Bahnhof eingefahren.

Bevor Pekkala sich recht besann, wurde er mit auf die Straße hinausgeschoben. Von dort aus sah er, wie sich der Zug an ihm vorbeiächzte. Und dann waren die Gleise plötzlich leer, und nur noch das rhythmische Rattern der Räder war zu hören, das in der Ferne verklang.

Jener Tag war für Pekkala eine Weggabelung in seinem Leben gewesen. Sein Herz war den einen Weg gegangen, während sein Körper den anderen einschlug und seine ramponierte Seele wie einen Koffer voller alter, rostiger Nägel mit sich herumschleppte.

»Was macht sie in Berlin?« Pekkala brachte die Worte kaum heraus. »Und warum arbeitet sie für Sie?«

»Sie hat sich freiwillig gemeldet«, antwortete Swift nur.

Stalin mischte sich jetzt ein. »Wenn sie für Sie arbeitet, warum brauchen Sie dann uns, um sie rauszuholen? Warum bleibt sie nicht einfach dort, bis Berlin gefallen ist? Ich kann Ihnen versprechen, es wird nicht mehr lange dauern.«

»Wir empfinden in diesem Fall eine gewisse Dringlichkeit«, wich Swift aus. »Und da Ihre Armeen so kurz vor der Stadt stehen, dürfte eine solche Aufgabe besser von jemandem wie Pekkala durchgeführt werden. Das wäre eine kleine Geste der Solidarität von Ihrer Seite und für uns ein Beleg für die vielen Dinge, die uns im Kampf gegen den gemeinsamen Feind zusammenschweißen.«

»Wann soll ich abreisen?«, fragte Pekkala.

»Bald«, antwortete Swift. »Vielleicht schon sehr bald. Natürlich würden wir Ihnen so frühzeitig wie möglich Bescheid geben.«

»Dann freuen wir uns darauf, von Ihnen zu hören«, sagte Stalin.

Swift verbeugte sich dankbar und verließ den Raum.

Bis zu diesem Moment hatte Stalin alles mit unbewegter Miene zur Kenntnis genommen. Aber sobald der Engländer zur Tür hinaus war, ließ er seine Faust auf den Schreibtisch krachen. »Eine Geste der Solidarität. Für wen zum Teufel halten die uns? Für Laufburschen?«

Pekkala hatte noch damit zu tun, die Neuigkeiten zu verarbeiten. Stalins Stimme drang nur undeutlich zu ihm durch.

»Was machen wir?«, fragte Kirow.

»Sie werden genau das tun, was die Briten sagen«, antwortete Stalin. »Sie fahren nach Berlin und bringen diese Frau zurück.«

Trotz seiner Verwirrung gelang es Kirow, zu nicken.

»Aber erst«, fuhr Stalin fort, »wenn Sie den wahren Grund herausgefunden haben, warum sie die Frau wirklich wollen.«

»Den wahren Grund?«, fragte Kirow.

»Der Inspektor mag Sie ja sehr wertschätzen, aber glauben Sie allen Ernstes, die Briten würden sich die Mühe machen, eine Agentin herauszuholen, die sie lediglich mit irgendwelchen Klatschgeschichten versorgt?« Stalin fuchtelte mit seinem feisten Zeigefinger. »Nein, Major Kirow, da steckt mehr dahinter als nur Sorge um eine gefährdete Mitarbeiterin. Sie muss auf etwas sehr Wichtiges gestoßen sein, etwas, was sie sofort haben wollen, ansonsten würden sie sie dort lassen und warten, bis die Stadt gefallen ist. Und ich will wissen, was es ist.«

»Aber wie sollen wir das bewerkstelligen?«, fragte Kirow.

Stalin ergriff einen Stift und kritzelte eine Adresse auf einen Notizblock, riss das Blatt ab und reichte es Pekkala. »Die Adresse von jemandem, der vielleicht die Antwort darauf hat.«