N achdem Professor Swift den Kreml verlassen hatte, fuhr er zur britischen Botschaft in der Uliza Worowskowo 46 . Dort, in einem kleinen dunklen Zimmer am Ende eines langen Gangs, nahm er auf einem harten Holzstuhl Platz und rauchte nervös eine Zigarette. Sein selbstbewusstes Auftreten Stalin gegenüber war beklemmender Unruhe gewichen.

Aus dem Schatten vor ihm war nur ein tiefes Atmen zu hören, dann beugte sich ein Mann nach vorn, dessen Gesicht plötzlich in den Lichtschein der Lampe eintauchte, die zwischen ihnen auf dem Schreibtisch stand. Er hatte ein ovales Gesicht, gelbliche Zähne und sorgfältig gekämmte Haare, die mittels einer nach Lavendel duftenden Pomade wie Schellack an seinem Schädel klebten. Er hieß Oswald Hansard, und obwohl das Messingschild an der Tür ihn als Stellvertretenden Direktor der Königlichen Landwirtschaftlichen Handelsgesellschaft auswies, war er in Wahrheit der Leiter des britischen Geheimdienstes in Moskau. »Sie meinen also, Pekkala wird uns helfen?«, fragte er.

Swift sog an seiner Zigarette und stieß zwei graue Rauchfäden durch die Nasenlöcher aus. »Ich meine, er wird seinem Gewissen folgen, egal, was Stalin sagt.«

»Viele gute Männer und Frauen in diesem Land sind ihrem Gewissen gefolgt, und ich wage zu behaupten, sie haben sich damit lediglich eine Fahrkarte nach Sibirien eingehandelt – wenn sie es denn überhaupt so weit geschafft haben.«

»Bei Pekkala ist das anders. Stalin scheint eine Art perversen Gefallen daran gefunden zu haben, dass dieser Finne ihm die Stirn bietet. Natürlich könnte er Pekkala mit einem einzigen Anruf in der Lubjanka sofort für immer verschwinden lassen, aber das wird er nicht tun.«

»Und warum nicht, Ihrer Meinung nach?«

»Wenn ich raten müsste, würde ich sagen: Er weiß, dass es Pekkala vollkommen egal ist. Pekkala hat keine Angst, und dagegen kommt Stalin nicht an. Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Pekkala ist nur noch deshalb am Leben, weil ihm seine Arbeit immer wichtiger gewesen ist als das eigene Leben.«

»Und das Interesse an seiner Arbeit ist das, was den beiden gemeinsam ist«, fügte Hansard an.

»Es ist das Einzige. Aber es reicht, würde ich sagen.«

»Also wird er uns helfen?«, wiederholte Hansard seine Frage.

»Ich denke schon. Wegen dieser Frau.«

Hansard ließ sich schwer nach hinten fallen und verschwand wieder im Schatten. »Aber es ist Jahrzehnte her, dass er sie gesehen hat. Er muss doch seitdem andere Beziehungen gehabt haben. Jeder praktisch denkende Mensch hätte sie gehabt.«

Swift lachte leise.

»Hab ich was Komisches gesagt?«, blaffte der Sektionsleiter.

»Na ja, ja, Sir, ich glaube schon. Hat es nie jemanden gegeben, den Sie mal geliebt haben und von dem Sie aber durch das Schicksal und die Umstände getrennt wurden?«

Hansard sog an seinen gelben Zähnen. »Praktisch gesehen …«

»Genau das ist doch so komisch, Sir«, unterbrach ihn Professor Swift.

»Schön, dass Sie sich so über mich amüsieren können«, grummelte Hansard.

»Was ich meine, Sir: In diesem Fall geht es nicht um praktisches Denken. Es geht auch nicht um die Zeit. Wird eine solche Liebe entfacht, kann nichts mehr sie auslöschen. Sie besteht immer fort, wie ein in Bernstein eingeschlossenes Insekt. Die Zeit kann sie nicht verändern, Worte könnten sie nicht ungeschehen machen.«

Mit einem Seufzen erhob sich Hansard und trat in die Mitte des Raums. Er trug zwar einen grauen Anzug mit einer schwarz-weiß karierten Krawatte, aber keine Schuhe und auch keine Socken, sodass sich seine blassen Füße geisterhaft im Dunkel abzeichneten. »Wie überaus unpraktisch«, murmelte er.

»Wie Sie meinen, Sir«, antwortete Swift und drückte seine Zigarette im pfirsichfarbenen Onyx-Aschenbecher auf dem Tisch aus. »Aber die Welt wäre um so vieles ärmer, wenn es nicht Menschen gäbe, die daran glauben. Und außerdem kommt uns das in diesem Fall sehr gelegen, wie Sie zugeben müssen.«

Er gab einen tiefen Seufzer von sich.

Der Sektionsleiter sah ihn an. »Liegt Ihnen was auf dem Herzen, Swift?«

»Ja, Sir, da ist was. Pekkala hat mich gefragt, warum diese Frau für uns arbeitet.«

»Was haben Sie ihm gesagt?«

»Ich habe geraten und gesagt, sie habe sich freiwillig gemeldet. Tatsächlich habe ich keine Ahnung.«

»Dennoch entspricht das ziemlich genau der Wahrheit.«

»Aber wie kam es dazu, Sir?«

»Na, kann ja nicht schaden, wenn ich es Ihnen erzähle. Sie wurde ursprünglich 1938 , als sie noch in Paris lebte, vom französischen Auslandsnachrichtendienst, dem Deuxième Bureau, angeworben. Zu dieser Zeit arbeitete sie als Lehrerin in einer kleinen Privatschule. Das Deuxième Bureau hatte bereits seit einiger Zeit ein Auge auf sie geworfen. Natürlich wussten die Franzosen, dass sie Russin war und ihre Eltern Anfang der Zwanzigerjahre von den Bolschewiken ermordet wurden. Zu der Zeit fürchtete das Deuxième Bureau, dass die gesamte französische Regierung von Sowjetspionen unterwandert wäre.«

»Und war sie es?«

»O ja«, erwiderte Hansard. »Die Befürchtungen waren völlig gerechtfertigt. Deshalb brauchten sie jemanden, der Russisch sprach, Stalin aber so sehr hasste, dass er möglicherweise dazu benutzt werden konnte, die Verräter aufzustöbern.«

»Und was sagte sie dazu?«

»Anscheinend sagte sie, dass sie lieber eine gute Lehrerin sein wolle als eine glamouröse Spionin.«

»Dennoch konnte sie irgendwie überzeugt werden.«

»Erst als der Krieg ausbrach und schnell klar wurde, dass die französische Armee den Deutschen nichts entgegenzusetzen hatte, trat das Bureau erneut an sie heran. Diesmal machte man ihr das Angebot, sie außer Landes zu bringen, zusammen mit anderen, von denen man glaubte, sie als Agenten einsetzen zu können, sobald Frankreich gefallen war. Und da Frankreich kurz vor dem Zusammenbruch stand, konnte das nur in die Tat umgesetzt werden, indem sie sie zu uns schickten.«

»Warum Simonowa? Sie hatte doch keinerlei Ausbildung und hatte das Bureau schon einmal abgewiesen.«

»Genau deshalb haben sie sich für sie entschieden«, erklärte Hansard. »Das Bureau musste davon ausgehen, dass die Liste mit den aktiven Agenten dem deutschen Geheimdienst längst in die Hände gefallen war, also wählten sie Leute, die noch nicht im Einsatz waren oder noch nicht auf der Namensliste des Bureau standen.«

»Aber das kann doch nicht der einzige Grund gewesen sein.«

»War es auch nicht. Neben Französisch und Russisch spricht sie auch fließend Deutsch. Ihr Vater, Gustav Seimann, war Reitlehrer am Hof des Großherzogs von Hessen, aus dem Zar Nikolaus’ Frau Alexandra stammte. Nach ihrer Heirat mit Nikolaus II . brachte sie eine Reihe von Bediensteten aus Deutschland mit nach Russland. Der Hauslehrer ihrer Kinder war zum Beispiel ein Engländer namens Gibbes. Daneben gehörte der französische Arzt Gilliard dem Haushalt an, und als es an der Zeit war, dass ihre Kinder reiten lernten, holte sie den großherzoglichen Reitlehrer. Gustav Seimann ließ sich in Sankt Petersburg nieder, baute sich dort ein neues Leben auf und änderte seinen Namen sogar zu Simonow.«

»Das zeugt von großer Loyalität«, bemerkte Swift.

»Sie waren loyal, keine Frage. Einige unter ihnen gehörten zu den treuesten Angehörigen ihres Gefolges. Simonow soll getötet worden sein, als er einem plündernden Kosakentrupp entgegenritt, der auf das Anwesen Zarskoje Selo vorgedrungen war. Sein mutiges Handeln hatte ihn das Leben gekostet, aber es zeigt auch, wie ergeben er der Zarenfamilie war, bis zum bitteren Ende. So weit ich weiß, war er damit bei Weitem nicht allein.«

»Das Deuxième Bureau dürfte erwartet haben, dass sich seine Tochter ähnlich loyal verhält.«

»Genau«, erwiderte Hansard. »Als sie von ihnen angesprochen wurde, war die Lage in Paris äußerst prekär. Paris war zur offenen Stadt erklärt, und wer fliehen konnte, floh. Unter diesen Umständen war sie bereit, für sie zu arbeiten.«

»Und wie hat man sie rausgeschafft?«

»Man hat sie direkt nach Le Bourget außerhalb von Paris gefahren, dort in eine Lysander verfrachtet – eine von diesen schwerfälligen Maschinen mit verkleideten Rädern, die so ziemlich überall starten und landen können –, und zwei Stunden später war sie in England. Ihre Ausbildung erfolgte im SOE -Lager in Arisaig oben in Schottland. Von dort ging es nach Beaulieu, wo Lord Montagu sein Anwesen hat, drüben in New Forest. Kaum einen Monat später wurde sie nach Frankreich geschickt, diesmal auf einem umgebauten Fischerboot, mit dem Agenten von und zum Kontinent transportiert wurden. Sie wurde in der Nähe von Boulogne-sur-Mer an Land gesetzt und ging von dort nach Paris.«

»Und es wurde niemand misstrauisch, dass sie so lange weg war?«, fragte Swift.

»So viele hatten die Stadt verlassen, nachdem die Deutschen die französischen Linien bei Sedan durchbrochen hatten, dass ihre Abwesenheit nicht weiter auffiel. Die Schule hatte in der Zeit geschlossen, die Schüler waren nach Hause geschickt worden. Die Stadtbevölkerung hatte sich über das ganze Land zerstreut. Als sich alles wieder beruhigt hatte und das Leben in Paris zur Normalität zurückkehrte, soweit das unter der deutschen Besatzung überhaupt möglich war, begannen die Geflohenen zurückzukehren. Simonowa schloss sich ihnen einfach an. Die kleine Schule, an der sie beschäftigt war, öffnete wieder ihre Pforten, und nachdem sie sich bei den deutschen Behörden hatte registrieren lassen, arbeitete sie weiter als Lehrerin.«

»Und dann? Wie hat sie im Krieg mitgeholfen? Hat sie mitten in der Nacht Leute um die Ecke gebracht?«

»Kaum. Vergessen Sie nicht, sie spricht Deutsch. Uns war von Anfang an klar, dass die Besatzungsmacht Leute braucht, die beide Sprachen fließend beherrschen. Sie hat sich freiwillig gemeldet und wurde dann natürlich eingesetzt.«

»In welcher Funktion?«

»Nichts Aufsehenerregendes. Übersetzungen von öffentlichen Bekanntmachungen und solchen Dingen.«

»Klingt so, als hätte sich der ganz Aufwand kaum gelohnt.«

»Na, wenn man Übersetzer ist, landet früher oder später ein wichtiges Dokument auf deinem Schreibtisch. Den Leuten, die es dir geben, ist oftmals gar nicht klar, dass es entscheidende Informationen enthält. Aber auch die geringfügigsten Informationen können sich im Lauf der Zeit als etwas Großes entpuppen. Bevor sie Beaulieu verließ, war ihr ein Funkgerät überreicht worden, mit dem sie ihre Informationen nach England übermitteln konnte.«

»Und wie haben wir sie nach Berlin bekommen?«

»Wir mussten da gar nichts weiter unternehmen. Das haben die Deutschen von sich aus getan. Besonders einem müssen wir in dieser Hinsicht sehr dankbar ein. Er heißt Hermann Fegelein. Vor dem Krieg betrieb seine Familie eine Reitschule in Bayern. Anfang der Dreißigerjahre trat Fegelein der NSDAP bei und befehligte später eine SS -Totenkopf-Reiterstandarte an der Ostfront. Anfang 1944 wurde er als Verbindungsoffizier Himmlers Stab zugeteilt. Und Himmler schickte ihn als Erstes nach Paris. Dort angekommen, verlangte er nach einer zweisprachigen Sekretärin.«

»Und die deutsche Militärverwaltung gab ihm Simonowa?«

»Nicht sofort«, antwortete Hansard. »Die ersten beiden, die ihm angeboten wurden, schickte er zum Teufel, wahrscheinlich weil ihm ihr Äußeres nicht zusagte. Fegelein betrachtet sich nämlich als Frauenheld, und erst, als man ihm Simonowa vorschlug, war er zufrieden. Als Fegelein zwei Monate später Paris verließ, begleitete sie ihn.«

»Als seine Geliebte?«

Hansard schüttelte den Kopf. »Nur als seine Privatsekretärin, obwohl ich zu behaupten wage, dass er andere Pläne mit ihr gehabt haben dürfte. Fegelein war inzwischen zum Mittelsmann zwischen Hitler und Himmler aufgestiegen, den beiden mächtigsten Männern im Dritten Reich. Er nahm und nimmt nach wie vor an Hitlers täglichen Besprechungen mit dem Oberkommando der Wehrmacht teil. Was immer dort erörtert wird, er weiß davon.«

»Und damit auch Simonowa, wie es klingt.«

»Fegelein ist nicht dumm. Selbst wenn er Simonowa trauen würde, hätte er ihr niemals Zugang zu Geheimnissen von nationaler Bedeutung gewährt. Es ist jedoch anzunehmen, dass er mit ihr über dieses und jenes aus Hitlers Umgebung plaudert. Aber auch Klatsch hat seinen Wert, und nachdem wir die Operation Black Boomerang aufgebaut haben, beglücken wir die Deutschen durch Rundfunkübertragungen mit diesen Geschichten.«

»Sie sprechen von diesem Radiosender? Der, der angeblich aus Calais gesendet hat?«

»Ja«, sagte Hansard. »Und danach aus Paris, und jetzt überträgt er als Sender Elbe. Natürlich hat der Sender nie seinen Standort verlassen. Er sitzt, so weit ich weiß, in einem Herrenhaus irgendwo in Hampshire – die Operation ist so geheim, dass noch nicht einmal ich den genauen Ort kenne. Tausende deutsche Soldaten und Zivilisten hören jeden Tag diesen Sender. Er ist der verlässlichste Rundfunksender, den sie haben, und wenn man ihnen erzählen würde, dass wir ihn leiten, würden sie es nicht glauben. Indem wir die Klatschgeschichten aus Hitlers engster Umgebung öffentlich machen, untergraben wir nicht nur die Moral unserer Zuhörer, sondern sorgen auch für Unruhe. Jeder ist für Klatsch zu haben, vor allem für den, den wir ihnen servieren. Der Wert dessen aber liegt in Folgendem: Auch wenn das OKW öffentlich alles abstreitet, wissen die Deutschen doch, dass die Geschichten stimmen. Und das heißt, sie wissen, dass wir irgendwo einen Informanten sitzen haben, und zwar …« Hansard legte Daumen und Zeigefinger aneinander. »… so nah an Hitler dran.«

»Das ist mir durchaus klar«, sagte Swift. »Es bleibt trotzdem die Frage, warum wir einen so großen Aufwand betreiben, um eine Agentin herauszuholen, die, seien wir doch ehrlich, nichts anderes betreibt als eine Berliner Klatschspalte. Bei meinem Treffen mit Stalin und Pekkala habe ich gesagt, was Sie mir aufgetragen haben – dass uns das Leben aller unserer Agenten im Feld wichtig ist. Aber wir wissen beide, dass wir schon oft genug Agenten über die Klinge springen ließen, und oft genug welche, die wichtiger waren als sie.«

»Das hätten wir auch bei Simonowa gemacht, wenn nicht das Hauptquartier in England der Meinung wäre, dass sie eventuell Zugriff auf eine extrem wichtige Sache haben könnte.«

»Und die wäre?«

Hansard seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich möchte verdammt sein, wenn ich es wüsste. Es muss für uns jedenfalls so wichtig sein, dass wir vor Stalin auf die Knie fallen und die Russen um Hilfe bitten.« Damit zog er eine Taschenuhr aus seiner Weste.

Swift verstand es ganz richtig als Aufforderung, sich zu verabschieden. Er erhob sich und knöpfte sein Jackett zu. »Ich gebe Bescheid, wenn wir von Pekkala hören.«

Hansard nickte. »Drücken Sie uns die Daumen.«