N achdem General Hagemann die Meldung an die Reichskanzlei durchgegeben hatte, begann er sofort mit den Vorbereitungen für die Fahrt nach Berlin. Er wollte Hitler persönlich von seinem Erfolg in Kenntnis setzen.

Aber noch bevor er sich um eine Transportmöglichkeit kümmern konnte, traf auf dem Flugfeld in Peenemünde eine Maschine ein mit dem Befehl, ihn umgehend zu Hitlers Hauptquartier zu bringen, wo er das Verschwinden seiner Testrakete erläutern sollte.

Hagemann war fassungslos. Es hatte den Anschein, als wären die guten Neuigkeiten über die erfolgreiche Funktion des Diamantstrahlgeräts vom Verschwinden der V2 in den Schatten gestellt worden. Gott steh mir bei, dachte Hagemann, wenn sich die Rakete irgendwo anders befindet als auf dem Grund des Meeres.

Eine Stunde nach Erhalt der Nachricht war der General unterwegs nach Berlin. Er hatte noch nicht einmal mehr Zeit gehabt, ein paar Sachen zu packen, und hatte aus seinem Büro, das unweit des Testgeländes in einem requirierten Bauernhof untergebracht war, lediglich eine große, lederbezogene Dokumentenrolle mit den Unterlagen zum Steuersystem der V2 mitgenommen. Die schematischen Konstruktionszeichnungen waren ein wichtiger Teil seiner Präsentation vor dem Oberkommando. Das Laienauge sah darauf nichts als ein unentzifferbares Gewirr von blauen Linien, über die im Zickzack rote Pfeile liefen mit den dazugehörigen Namen und Spezifikationen der diversen Einzelkomponenten.

Es war nicht das erste Mal, dass Hagemann den Zorn des OKW auf sich gezogen hatte und sich auf die Unverständlichkeit seiner Blaupausen verlassen musste, um die Generäle zu beeindrucken. Je weniger sie verstanden, desto mehr mussten sie sich auf Hagemanns optimistische Vorhersagen verlassen – und genau das hatte das V2 -Programm bisher am Laufen gehalten.

Hitler andererseits schien von der labyrinthischen Komplexität der Schaltpläne und Diagramme ganz begeistert zu sein. Fast liebevoll strich er bei diesen Treffen über die vor ihm ausgebreiteten Zeichnungen und verlangte nach Erklärungen für scheinbar kleinste Details, die Hagemann natürlich nur allzu gern lieferte.

Die außergewöhnlich hohen Kosten des V2 -Programms, ganz zu schweigen von den Verzögerungen aufgrund der alliierten Bombenangriffe und der vielen gescheiterten Testflüge, hatten Hagemann eine Menge Feinde eingetragen. Skeptische Stimmen im Generalstab erinnerten ihn immer wieder daran, dass die deutsche Rüstungsindustrie zu den Kosten einer einzigen V2 über 500 Panzerfäuste herstellen konnte. Diese Panzerabwehrwaffen waren so einfach und so wirkungsvoll, dass sie sogar an die Hitlerjugend ausgegeben wurden, die auf Fahrrädern an die Front radelte, um sich den russischen Kampfpanzern entgegenzustellen.

Ohne Hitlers Unterstützung wäre das Programm wahrscheinlich schon Jahre zuvor eingestellt worden. Aber so mühelos der Führer es am Leben erhielt, so mühelos konnte er es mit einem Federstrich beenden.

Hagemann drückte sich die lederne Dokumentenrolle an die Brust und fürchtete, dass ihn diesmal noch nicht einmal mehr seine magischen Konstruktionszeichnungen retten würden.

Als er nun in 3000 Metern Höhe zwischen den Wolkenschwaden auf die vorfrühlingshafte Landschaft hinunterblickte, war ihm für einen Augenblick, als gäbe es keinen Krieg, als habe es nie einen Krieg gegeben und als bildete er sich alles nur ein.

Doch als sie über Berlin tiefer gingen, brach die Illusion in sich zusammen. Die einst so gepflegten Ortsteile Heinersdorf und Pankow waren von den Folgen des Flächenbombardements gezeichnet. Je mehr sie sich dem Zentrum näherten, desto schlimmer waren die Schäden. Ganze Stadtteile waren ausgebombt und nur noch Trümmerlandschaften, zwischen denen sich lediglich einzelne Straßenzüge abhoben. In Gatow setzte die Transportmaschine schließlich zur Landung an. Während die Maschine ausrollte, fiel Hagemanns Blick auf ein zerstörtes Flugzeug am Rand des Rollfelds.

Ein Wagen wartete auf ihn. Bei seinem letzten Besuch, der schon einige Monate zurücklag, hatte ihn Hitlers Adjutant, Major Otto Günsche, empfangen. Der Chauffeur des Führers, Erich Kempka, hatte ihn anschließend auf der Fahrt in die Reichskanzlei mit Geschichten aus seiner Zeit als Motorradmechaniker, damals noch vor dem Krieg, unterhalten.

Diesmal waren seine Begleiter zwei grimmig dreinschauende Angehörige von SS -Gruppenführer Rattenhubers Sicherheitsleuten, die für die Bewachung des Führerbunkers zuständig waren.

Bei ihrem Anblick wurde Hagemann mulmig zumute. Stand er schon unter Arrest?

Keiner der beiden Männer sagte etwas auf der Fahrt ins Stadtzentrum. Sie saßen vorn, er auf der Rückbank.

So also zerfällt ein Leben, dachte sich Hagemann.

Mit seinem kurzen Anfall von Selbstmitleid hatte es sich aber, als er sah, was von der Reichskanzlei noch übrig war. Es gab kaum noch ein Fenster, dessen Scheibe nicht zersplittert war, vor allem das Erdgeschoss war so von Schrapnell- und Einschusslöchern übersät, dass das gesamte Gebäude den Eindruck eines Rohbaus vermittelte.

Der Wagen hielt an. Der Beifahrer glitt nach draußen und öffnete dem General die Tür.

Hagemann stieg aus. »Wohin?«, fragte er.

Der andere wies die Treppe hoch zum Haupteingang.

»Da arbeitet noch jemand?«, entfuhr es Hagemann. »Aber das ist doch alles nur noch eine Ruine.«

»Wenn Sie drin sind, Herr General, wird Ihnen jemand den Weg zeigen.«

Vorsichtig stieg er die Treppe hinauf, darauf bedacht, auf den zerstörten Stufen nicht ins Stolpern zu geraten. Drinnen brachte man ihn zum Eingang des Führerbunkers. Er hatte zwar von dessen Existenz gewusst, ihn aber noch nie betreten.

Er zeigte einem Wachmann seinen Passierschein, worauf er durchgelassen wurde, nachdem man ihm seine persönliche Waffe abgenommen hatte, eine Mauser-Pistole, die er noch nie abgefeuert hatte. Anschließend wurde er zwei weitere Treppenfluchten hinuntergeleitet, wobei die Luft immer feuchter und dumpfer wurde.

Auf der dritten Ebene unter der Erde traf er auf weitere Wachleute, die ihn durch einen schmalen Gang zum Lageraum führten, in dem zweimal täglich das Treffen mit dem Oberkommando stattfand.

Hagemann traf zufällig zu dem Zeitpunkt ein, als die mittägliche Lagebesprechung beginnen sollte. Er fand sich in einem schmalen Raum wieder, der von einer einzelnen Glühbirne erhellt wurde.

Am einzigen Tisch und auf dem einzigen Stuhl im Raum saß Hitler. Ihm gegenüber, und zusammengedrängt wie eine Herde Pinguine auf einer Eisscholle, standen mehr hochrangige Politiker und Militärs, als er jemals in einem Raum versammelt gesehen hatte.

Albert Speer, der in einem langen Ledermantel vor sich hin schwitzte, begrüßte Hagemann mit einem Nicken. Martin Bormann, Hitlers Sekretär, beäugte ihn misstrauisch und unternahm keinerlei Anstalten, den Professor willkommen zu heißen. Neben ihm stand Joseph Goebbels in einer akkurat gebügelten karamellbraunen Uniform, sowie SS -Gruppenführer Hermann Fegelein, Verbindungsoffizier der Waffen-SS zum Führerhauptquartier. Mehrere andere waren Hagemann unbekannt, aber er erkannte Christa Schroeder, eine von Hitlers Sekretärinnen und die einzige anwesende Frau.

So unvorbereitet Hagemann auf diesen Abstieg in den Führerbunker gewesen war, so deplatziert fühlte er sich in Gesellschaft dieser nationalsozialistischen Berühmtheiten.

Was Hagemann aber am meisten beunruhigte, war der Anblick von Adolf Hitler.

Der Führer war seit ihrem letzten Treffen vor wenigen Monaten sichtlich gealtert. Auf seinen Augen lag ein glasiger Schleier, die schwammige Haut hing ihm schlaff von den Wangenknochen. Die Haare, noch ordentlich gekämmt, wirkten stumpf, und die Schultern seines doppelreihigen Uniformrocks waren mit Schuppen übersät.

Unverändert war nur sein durchdringender Blick, der, wie Hagemann spürte, jetzt auf ihn fiel.

»General Hagemann.« Hitler verschliff leicht die Worte. »Was haben Sie mit dieser Rakete gemacht?«

Hätte er gewusst, was der Führer ihn fragen würde – hätte er es nur wenige Sekunden vorher erfahren –, hätte Hagemann mit ziemlicher Sicherheit anders geantwortet. So platzte er mit dem heraus, was ihm gerade in den Sinn kam. »Ich habe sie zur Vollendung geführt.«

Hitler stutzte und atmete ganz langsam ein, als wollte er aus der Luft im Raum auch noch den letzten Sauerstoffpartikel herausziehen. Dann lehnte er sich auf seinem klapprigen Stuhl zurück und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »So nennen Sie das also, wenn Sie eine V2 verlieren, von deren Verbleib Sie nichts wissen und die möglicherweise dem Feind in die Hände gefallen ist?«

»Lächerlich«, blaffte Goebbels. »General Hagemann, Sie werden dafür vor den Volksgerichtshof gestellt.«

»Wenn Sie gestatten, möchte ich die Lage erläutern«, begann der General.

»Tun Sie das«, antwortete Hitler. »Wir alle sind außerordentlich neugierig, was Sie unter Vollendung verstehen.«

»Vor allem, wenn Sie keine Rakete haben, mit der Sie das belegen können«, rief Goebbels.

Leises Gelächter im Raum.

Hagemann musste schwer an sich halten. Am liebsten wäre er dem einen oder anderen der Anwesenden an die Gurgel gegangen. Statt seinen grandiosen Erfolg anzuerkennen, der für die gesamte Menschheit ein neues Zeitalter der Entdeckung einleiten könnte, waren die hier Versammelten ausschließlich daran interessiert, wie viel Schaden mit seiner Erfindung angerichtet werden konnte.

»Ruhe!«, blaffte Hitler. »Es gibt keinen Anlass zur Belustigung.« Dann wandte er sich an Hagemann. »Also, was haben Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen?«

Der General hatte einiges zu sagen.

In den nächsten Minuten erklärte er, wie in der Dampfturbine mittels Natriumpermanganat Wasserstoffperoxid katalytisch zersetzt und somit Dampf erzeugt wurde. Mit diesem Dampf wurde eine Doppelpumpe betrieben, die große Mengen an Ethanol und Flüssigsauerstoff in die Brennkammer, den Raketenofen, beförderte, was mittels mehr als zwölfhundert winziger Einspritzdüsen geschah.

»Durch eintausendzweihundertvierundzwanzig, um exakt zu sein«, sagte Hagemann.

Er beschrieb, wie sich in der Brennkammer das Treibstoffgemisch mit dem Flüssigsauerstoff verband, und er formte dabei mit beiden Händen den Luftstrom, als wollte er den Fluss der verbrennenden Teilchen nachzeichnen.

»Wenn die neu entwickelte Steuerung wie gewünscht funktioniert, bringt sie die Rakete auf eine ideale Flugbahn, die wiederum für ein optimales Treibstoff-Verbrennungs-Verhältnis sorgt. Sind Flugbahn und Treibstoffverbrauch auf diese Weise ausbalanciert, erzeugt das einen Abgasstrahl, der von der Erde aus gesehen wie ein Diamant funkelt. Daher der Name des Geräts. Dieses Phänomen, das wir Diamantstrahleffekt nennen, wurde von meinem Beobachter in der Ostsee bezeugt. Daher wissen wir, dass unsere Bemühungen von Erfolg gekrönt waren, auch wenn von der Rakete nichts mehr übrig ist.« Hagemann hielt kurz inne und ließ den Blick schweifen. Er sah lediglich die verständnislosen Mienen der versammelten Würdenträger.

Manchmal waren so komplizierte und verschlungene chemische und physikalische Ausführungen wie diese zu Hagemanns Vorteil gewesen, da seinen Zuhörern unabhängig von ihrem Dienstrang nichts weiter übrig blieb, als jedes seiner Worte für bare Münze zu nehmen.

Das war diesmal nicht der Fall. Diesmal hatte er eine etwa vierzehn Meter lange und mehr als zwölf Tonnen schwere Rakete verloren. Es war also entscheidend, dass sein Publikum exakt verstand, was geschehen war.

»Denken Sie an den Motor in Ihrem Wagen«, begann er, und die angestrengten Mienen der Generäle und Politiker entspannten sich umgehend. Selbst die technisch wenig bewanderten unter ihnen konnten sich vorstellen, was sie unter der Motorhaube eines Automobils erwartete, auch wenn sie keine Ahnung von der Funktionsweise eines Verbrennungsmotors hatten.

Hagemann bemühte sich nun, dass sich jeder Einzelne seiner Zuhörer persönlich angesprochen fühlte, obwohl es bei dem Vortrag natürlich nur auf einen ankam, nämlich auf Hitler. In den tattrigen Händen dieses Mannes, der von der unabwendbaren Tatsache seiner Niederlage innerlich aufgefressen wurde, lag nicht nur die Zukunft des V2 -Programms, sondern auch Hagemanns Existenz.

»Ist der Motor in Ihrem Wagen nicht richtig eingestellt«, erklärte er also, »wird am Ende viel Rauch aus dem Auspuff kommen.«

Manche nickten.

»Das passiert«, fuhr er fort, »weil der Treibstoff nicht so verbrennt, wie er soll. Ist der Motor aber richtig eingestellt, sehen Sie kaum Auspuffabgase.«

»Also«, sagte Goebbels vorsichtig, »statt bei Ihrer Rakete nichts zu sehen …«

»… sehen Sie Diamanten«, vollendete Hagemann den Satz.

Speer jedoch gab sich damit nicht zufrieden. »Und die Steuerung ist für die richtige Einstellung des Triebwerks zuständig?«, fragte er und hatte die Augen skeptisch zusammengekniffen.

»In gewisser Weise, ja«, stimmte Hagemann zu. »Stellen Sie sich eine Uhr an der Wand vor. Hängt die Uhr nicht im richtigen Winkel, wird sie die falsche Uhrzeit anzeigen und vor- oder nachgehen. Das können Sie sogar hören, nämlich dann, wenn sie nicht richtig tickt.«

»Ich habe so eine Uhr«, murmelte Goebbels. »Egal, was ich mache, ich weiß nie, wie spät es wirklich ist. Und ihr Ticken treibt mich noch in den Wahnsinn, vor allem nachts.«

»Halten Sie den Mund!«, bellte Hitler. »Das hier hat nichts mit Ihrer Uhr zu tun.« Mit einem Nicken wies er zu Hagemann. »Fahren Sie fort, General.«

»Das Ticken der Uhr ist das Ergebnis einer schwingenden Feder, ähnlich sind die Abgase des V2 -Motors das Ergebnis des verbrennenden Treibstoffs. Läuft die Uhr perfekt, schwingt die Feder gleichmäßig bis zum Ende durch, und die Uhr zeigt die richtige Zeit an. Ist die Feder aber nicht richtig eingestellt, kommt es zu Gangabweichungen, und die Uhr bleibt stehen, bevor die Feder ganz ausgeschwungen ist. Bislang sind unsere Raketen mit Uhren vergleichbar, deren Federn nicht richtig eingestellt waren. Die Treibstoffverbrennung war nicht optimal, und die Raketen, ob nun gegen den Feind oder bei Versuchsstarts in die Ostsee abgefeuert, konnten ihr Potenzial nicht ausschöpfen. Das Diamantstrahlgerät wurde entworfen, um die Rakete vollkommen auszutarieren. Dieses Ziel war mit Ausnahme der letzten Versuchsstarts nicht erreicht worden. Als es aber schließlich funktionierte, konnten wir nicht nur das charakteristische Abgasmuster beobachten, die Rakete flog auch weiter als bei allen vorherigen Testflügen ohne zusätzliche Treibstoffzuladung. Seit vergangener Nacht ist der Diamantstrahl Wirklichkeit geworden.«

In den letzten Minuten hatte sich Hitlers Blick verändert. Er hatte sich nach vorn geneigt, und seine Worte waren jetzt nicht mehr von ätzendem Sarkasmus getränkt, mit dem er sonst auf alle einhackte, mit denen er nicht zufrieden war. »Warum hat diese Rakete funktioniert«, fragte er, »und die anderen nicht?«

Das war der Augenblick, den Hagemann herbeigesehnt hatte. Von jetzt an würde es nur noch ein Zwiegespräch zwischen ihm und Hitler sein. Alle anderen waren zu im Grunde unnötigen Statisten degradiert.

»Der Grund für das Versagen der bisherigen Raketen«, fuhr Hagemann fort, »waren die Vibrationen des Raketenmotors, die unsere Steuersysteme zunichtegemacht haben. Deshalb ging, wie Sie wissen, ein hoher Prozentsatz der Raketen nicht dort nieder, wo sie eigentlich niedergehen sollten. Dem Feind wurde nichtsdestotrotz beträchtlicher Schaden zugefügt, dennoch muss festgehalten werden, dass die vorgegebenen Ziele oftmals nicht getroffen wurden. Die Steuerung in dieser Rakete befand sich jedoch in einem eigens entworfenen, stoß- und erschütterungsfesten Gehäuse. Dadurch war es möglich, dass die Steuertechnik den Treibstoffverbrauch minimiert, weshalb die Rakete weiter flog als bisher. Das haben wir in unseren Berechnungen nicht berücksichtigt, weshalb wir die Flugbahn unterschätzt haben. Das ist allerdings leicht zu korrigieren, jedenfalls dürfte das Gerät von nun an so funktionieren wie beabsichtigt.«

Hitler sah der Reihe nach die anderen im Raum an. »So«, sagte er. »Leicht zu korrigieren. Haben Sie das gehört, Goebbels? Oder wollen Sie weiterhin Ihre Witze zum Besten geben?«

Es war vollkommen still im Raum. Goebbels starrte angestrengt in eine Ecke des Bunkerraums, als suchte er dort nach einer Fluchtmöglichkeit.

Hitler wandte sich wieder an Hagemann. »Und wo ist die Rakete jetzt?«

Hagemann setzte zu einer Antwort an. Er konnte die Wahrheit nicht verheimlichen, nicht jetzt. Würde er das Vertrauen, das er sich in den vergangenen Minuten aufgebaut hatte, gleich wieder verspielen, wenn er erklärte, dass er es nicht wusste?

Aber Hitler kam ihm mit der Antwort zuvor. »Wahrscheinlich ist sie ins Meer gefallen.«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach«, versicherte Hagemann eilig.

Hitler nickte zufrieden.

»Es gibt noch etwas.« Hagemann flüsterte fast.

Großmütig gab Hitler ihm mit erhobener Hand zu verstehen, dass er fortfahren möge.

Hagemann folgte der Aufforderung. »Aufgrund der nunmehr vorhandenen Zielgenauigkeit können wir höchst spezifische Objekte zerstören. Damit meine ich, dass wir die V2 jetzt nicht mehr gegen ganze Städte einsetzen müssen, sondern uns einzelne Ziele auswählen können, die innerhalb dieser Stadt liegen. Ein einzelnes Haus. Eine einzelne Fabrik. Zeigen Sie auf einen bestimmten Punkt auf der Karte und geben Sie den entsprechenden Befehl, und innerhalb einer Stunde wird die betreffende Stätte ausgelöscht sein.«

»Was ist mit Flakfeuer?«, fragte Fegelein. »Kann man die V2 nicht abschießen?«

»Nein. Am Endpunkt der Flugbahn erreicht sie Überschallgeschwindigkeit. Das heißt, alle, die im Zielgebiet stehen, erhalten keinerlei Warnung. Und diejenigen, die überleben, hören die Annäherung der Rakete erst nach der Explosion. Ist die V2 erst einmal abgefeuert, kann keine Macht der Welt sie noch aufhalten.«

»Hören Sie!«, rief Hitler. »Die Rettung. Das ist unsere Rettung. Auf unser Leid wird das Licht eines ewig währenden Triumphes fallen.«

Goebbels mischte sich ein. »Solange der Herr Professor überzeugt ist, dass dieses Resultat regelmäßig zu erzielen ist.«

»Nicht nur regelmäßig, Herr Reichsminister«, sagte Hagemann. »Sondern auch unfehlbar.«

»Ha!« Hitler schlug die Hände zusammen. »Da haben Sie Ihre Antwort, Goebbels.«

»In der Tat«, entgegnete der Reichsminister und starrte Hagemann an. »Vorausgesetzt, er lässt auf seine Worte Taten folgen.«

»Sie können jetzt gehen, Herr Professor«, sagte Hitler. »Wir haben andere Dinge zu besprechen.«

Gehorsam begann Hagemann, seine Blaupausen einzusammeln.

»Lassen Sie sie hier.« Hitler deutete auf die Dokumente. »Ich möchte sie noch studieren.«

»Natürlich«, erwiderte Hagemann und trat einen Schritt vom Tisch zurück. »Aber ich muss darum bitten, sie nicht in unberechtigte Hände fallen zu lassen. Ich kann gar nicht deutlich genug sagen …«

»Danke, Herr General«, unterbrach ihn Speer. »Wir wissen um die entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen. Wir haben sie ja schließlich selbst festgelegt.«

Wieder leises Gelächter. Diesmal lächelte sogar Hitler.

Mit seiner leeren Dokumentenrolle verließ Hagemann den Raum, durchquerte den langen Korridor und stieg die Treppenfluchten hinauf ins Erdgeschoss der Reichskanzlei. Obwohl er das Treffen als einen Erfolg verbuchen konnte, musste er sich zwingen, nicht einfach loszulaufen. Wie sehr sehnte er sich nach frischer Luft.

»Herr Professor!«, hörte er eine Stimme hinter sich.

Hagemann drehte sich um. Fegelein, Himmlers Verbindungsoffizier, kam ihm im Korridor hinterher. Er hatte eine Hand erhoben, als wollte er ein Taxi rufen, während er in der anderen Hagemanns Pläne hatte. »Eine letzte Frage«, sagte er.

»Was machen Sie mit den Plänen?«, fragte Hagemann verwirrt. »Habe ich nicht klargestellt, dass die Daten auf diesen Plänen von höchster Vertraulichkeit sind?«

Fegelein grinste. »Genau aus diesem Grund wird es dem Reichsführer SS gefallen, einen Blick darauf zu werfen. Mit Hitlers Einverständnis bringe ich sie jetzt Himmler. Sie sollten mitkommen. Der Reichsführer SS verfügt über einen ausgezeichneten Wein.«

»Ich bin sehr beschäftigt«, sagte Hagemann. Instinktiv misstraute er Fegelein. Das weiche, runde Kinn, die vollen Wangen, die flache Stirn verliehen ihm etwas Unschuldiges und fast Kindliches. Aber das täuschte.

Dass Fegelein seine Karriere so weit hatte vorantreiben können, obwohl ihm so ziemlich alle mit Ablehnung gegenüberstanden, zeugte von seinem skrupellosen Ehrgeiz. Für Fegelein war der Preis seiner Loyalität immer Verhandlungssache, und Freundschaft hatte für ihn keinerlei Wert.

Damit war er nicht allein.

1941 wurde Fegelein verhaftet, weil er Geld und Luxusgüter aus einem Zug entwendet hatte, worauf die Todesstrafe hätte stehen können – wobei sein eigentlicher Fehler nicht der Diebstahl selbst war, sondern in dem Umstand begründet lag, dass diese Güter bereits aus polnischen Banksafes gestohlen waren, von Männern, die im Rang über Fegelein standen und zu dem Zeitpunkt auf dem Weg zu einem Lagerhaus waren, um die Beute unter sich aufzuteilen. Die Anklage gegen ihn wurde auf Befehl seines Vorgesetzten Heinrich Himmler fallen gelassen, was den Gerüchten, Fegelein sei ein Glückspilz, nur weiter Auftrieb gab. Die Gerüchte schienen sich zu bestätigen, als Himmler ihn zu seinem persönlichen Verbindungsoffizier ernannte. Das und die Heirat mit Gretl Braun, der Schwester von Hitlers Geliebten Eva Braun, trugen ihm eine nahezu unangreifbare Position im engsten Zirkel um den Führer ein. Die Hochzeit war hastig anberaumt worden, nachdem Gretl festgestellt hatte, dass sie schwanger war. Da nicht ganz klar schien, wer als Vater des ungeborenen Kindes zu gelten hatte, und Hitler über den Vorfall lautstark wütete, fühlte sich Fegelein dazu berufen, um Gretls Hand anzuhalten. In Hitlers Augen hatte diese ritterliche Tat nicht nur Gretls Ruf gerettet, sondern auch seinen als Eva Brauns Gefährten. Die Heirat hatte Fegeleins Appetit aber nicht im Mindesten geschmälert, und nachdem sich Gretl die meiste Zeit in ihrem heimischen Bayern aufhielt, bezog Fegelein mit seiner Geliebten Elsa Batz eine Wohnung, ironischerweise in der Bleibtreustraße. Hitler hatte davon entweder keine Kenntnis oder sah bewusst darüber hinweg, und Fegelein hatte so viel gesunden Selbsterhaltungstrieb, es dem Führer nicht unbedingt auf die Nase zu binden.

»Ich habe eine letzte Frage«, wiederholte Fegelein. »Dauert auch gar nicht lange, Herr Professor.«

»Ich wollte gerade gehen«, murmelte Hagemann.

Fegelein ignorierte den Einwand. »Dann begleite ich Sie nach oben. Ich kann eine Zigarette vertragen.« Er lachte. »Und das ist im Bunker ja verboten.«

Zusammen stiegen die beiden Männer zur Reichskanzlei hinauf.

Kurz verspürte Hagemann den Impuls, Fegelein einfach die Treppe hinunterzustoßen. Er misstraute nicht nur dem aalglatten SS -Offizier, er verachtete die gesamte Organisation. Seit den Anfängen der V2 hatte Himmler wiederholt versucht, das Projekt an sich zu reißen. Die SS war in ihren Erpressungsversuchen sogar so weit gegangen und hatte einen der wichtigsten Wissenschaftler des Programms, Wernher von Braun, aufgrund von derart hanebüchenen Beschuldigungen inhaftiert, dass sogar Hitler sie nicht akzeptieren mochte, obwohl er Himmler sonst stets mit »mein treuer Heinrich« ansprach.

Trotz Himmlers drängendem Wunsch, das Programm unter seine Kontrolle zu bringen, war es Hagemann bislang gelungen, die SS auf Abstand zu halten.

Das änderte sich im Juli 1944 nach dem gescheiterten Attentat durch Oberst Claus von Stauffenberg in der Wolfsschanze.

Noch während Stauffenberg und zahlreiche Mitverschwörer verhaftet und anschließend erschossen oder gehängt wurden, erhielt die SS aus Gründen der nationalen Sicherheit schließlich Hitlers Segen, das V2 -Programm zu übernehmen.

Seitdem wurden die Produktions- und Entwicklungsanlagen über ganz Deutschland verteilt, Zwangsarbeiter wurden zur Fabrikation eingesetzt, und so gut wie nichts geschah mehr ohne Himmlers Zustimmung.

Ohne diese Umstände hätte Hagemann dem SS -Gruppenführer Fegelein unumwunden die Meinung gegeigt.

Die beiden Männer erreichten das Erdgeschoss der Reichskanzlei, wo ihnen ihre persönlichen Waffen ausgehändigt wurden.

»Was wollen Sie wissen, Herr Gruppenführer?«, fragte Hagemann, während er seinen Gürtel löste und das Mauser-Holster wieder an seinen Platz schob.

Fegelein antwortete erst, als sie außer Hörweite der Wachmannschaft waren.

Draußen auf der von Schrapnellsplittern vernarbten Treppe zog Fegelein ein silbernes Zigarettenetui aus der Brusttasche, öffnete es und bot Hagemann vom ordentlich eingeschlichteten Inhalt an.

Hagemann schüttelte den Kopf. Im Moment lag ihm mehr daran, die Lungen mit frischer Luft zu füllen statt mit Tabakrauch.

Fegelein zündete seine Zigarette an, inhalierte tief und stieß einen langen Rauchfaden aus. »Was ich gern wissen möchte, Herr Professor: Über wie viele Raketen verfügen Sie noch? Was nützt Ihnen Ihr Steuerungssystem, wenn Sie nichts mehr zum Steuern haben?«

Selbst wenn die Frage von diesem Mann kam, konnte Hagemann ihr eine gewisse Berechtigung nicht absprechen. »Wir haben im Moment etwa achtzig fertige Raketen. Ist die Steuerung erst modifiziert, sind sie sofort einsatzbereit.«

»Und wie lange dauert die Modifizierung?«

»Nur einige Stunden pro Rakete.«

»Und wenn die achtzig Raketen abgeschossen sind, was dann?«

»Unsere Fertigungsanlage in Nordhausen ist voll funktionsfähig. Bei höchster Auslastung können wir über achthundert Raketen im Monat herstellen.« General Hagemann zögerte kurz. »Vorausgesetzt, es kommt zu keinen Behinderungen, weder durch die Alliierten noch durch Sie.«

Fegelein lächelte. »Mein lieber Herr Professor, meine Aufgabe ist es nicht, Sie zu behindern, sondern in jeder erdenklichen Weise zu unterstützen.«

»Ach ja?« Hagemann konnte seine Nervosität jetzt nicht mehr verbergen.

Fegelein lachte über das offensichtliche Unbehagen des Generals. Zum Spaß patschte er ihm mit den zusammengerollten Blaupausen auf die Schulter.

»Das ist kein Spielzeug«, blaffte Hagemann. Verärgert drückte er Fegelein die Lederhülle in die Hand. »Wenn Sie sie schon in der Gegend herumschleppen, dann können Sie sie auch darin aufbewahren.«

»Ich weiß, was Sie von mir halten«, sagte Fegelein, öffnete die Hülle und schob die Blaupausen hinein. »Abgesehen von der Tatsache, dass es mir scheißegal sein kann, verstehen Sie sicherlich, warum ich die Entwicklung einer Waffe unterstütze, die unsere einzige Hoffnung ist, noch aus dieser Misere rauszukommen.« Er deutete mit der glühenden Zigarette auf die Ruinen. »Ich mache keinen Hehl daraus, dass es nicht nur dem Lande zugutekommt, sondern auch mir persönlich.«

Du egoistischer Dreckskerl, dachte Hagemann.

»Sie verachten mich vielleicht für meine Denkweise, aber das beweist nur, dass mein Angebot, Sie zu unterstützen, ernst gemeint ist. Wenn ich überzeugt wäre, dass Ihr Gerät nicht funktioniert, würden wir diese Unterhaltung jetzt nicht führen.«

Ein schwarzer Mercedes fuhr vor.

Hagemann entgingen nicht die SS -Nummernschilder.

»Ah, mein Fahrzeug.« Fegelein wandte sich an Hagemann. »Ich muss jetzt los, Herr Professor, aber Ihnen sei eines versichert: Wenn Himmler diese Pläne gesehen hat, wird er Sie unverzüglich sprechen wollen. Persönlich, versteht sich.«

Hagemanns Magen zog sich zusammen.

»Kein Grund zur Besorgnis«, versicherte Fegelein ihm. »Außer er wünscht, dass Sie seine Freunde kennenlernen.«

»Was soll daran so falsch sein?«, fragte Hagemann vorsichtig.

»Der Reichsführer hat keine Freunde«, rief Fegelein ihm über die Schulter noch zu, während er schon zum wartenden Fahrzeug nach unten eilte.

Zu Hagemanns Überraschung stieg an der Fahrerseite eine Frau aus. Sie trug eine kurze grün-braune Wolljacke mit Taschen auf Hüfthöhe und verzierten Lederknöpfen, die aussahen wie Miniaturfußbälle. Ihre blonden Haare waren auf Schulterlänge gekürzt, der Schnitt, der im Winter populär geworden war, spiegelte die Strenge und Genügsamkeit wider, die längst sämtliche Facetten des Zivillebens durchdrungen hatte.

Das also, dachte Hagemann, ist seine berühmte Fahrerin, die nur als »Fräulein S.« bekannt war. Wer sie war und woher sie kam, schien nur Fegelein zu wissen. Angeblich war sie die Einzige, die er, der sich einen ganzen Harem an Geliebten hielt, bislang nicht in sein Bett hatte lotsen können. Hagemann hatte von ihr gehört, sie bislang aber nie gesehen.

Als die Frau vorn am Wagen herumging, sah sie hinauf zum Professor.

Hagemann fiel sofort das tiefe Blau ihrer Augen auf. Die Gerüchte über ihre Schönheit waren nicht übertrieben.

Die Frau öffnete die Beifahrertür, und Fegelein stieg ein.

General Hagemann ging die Treppe hinunter. Früher hätte er sich einfach ein Taxi gerufen, das ihn zum Flugplatz Gatow gebracht hätte, aber es schien keine Taxis mehr zu geben. Er fragte sich, ob die Straßenbahnen noch fuhren oder ob sie ebenfalls durch die Bombardierungen außer Betrieb gesetzt waren. So machte er sich zu Fuß auf den Weg zum Flugplatz. Es würde ein langer Marsch werden, aber je größer die Entfernung zwischen ihm und dem Bunker wurde, desto erleichterter würde er sein.

Während Fegeleins Mercedes vorbei an den Schutthügeln der letzten Bombenangriffe zu Himmlers Feldkommandostelle in Hohenlychen nordwestlich von Berlin unterwegs war, verfasste der SS -Gruppenführer bereits seinen Bericht über die Unterredung im Führerbunker.

In diesen Tagen gab es meist wenig Erfreuliches mitzuteilen. Gewöhnlich begnügte sich Fegelein damit, die Einzelheiten der Lagebesprechungen per Fernschreiber aus dem SS -Hauptquartier in der Prinz-Albrecht-Straße zu übermitteln. Aber gute Neuigkeiten, wie er sie heute gehört hatte, verlangten ein persönliches Erscheinen, besonders dann, wenn er ein Geschenk in Form von Hagemanns Blaupausen zum Diamantstrahlgerät mitbrachte.

Außerdem gab ihm das die Möglichkeit, mehr Zeit mit Fräulein S. zu verbringen.

Ihr richtiger Name lautete Lilja Simonowa, den er allerdings nur selten gebrauchte, selbst wenn er mit ihr rein privat zu tun hatte. Viele in den östlichen Gebieten des Deutschen Reichs hatten zwar russisch klingende Namen, aber Fegelein wollte nicht viel Aufhebens darum machen, dass seine eigene Fahrerin ebenfalls zu ihnen gehörte. Außerdem verlieh ihr das etwas Geheimnisvolles, was er sich nur allzu gern zunutze machte, weil es das Getratsche bremste, das hinter seinem Rücken stattfand.

Lilja hatte kurze Zeit als seine Sekretärin gearbeitet und dann den Posten des Chauffeurs übernommen, nachdem sein Fahrer, als er ihn abholen sollte, betrunken einen Laternenpfahl gerammt hatte. Der Fahrer, Schmoekel, hatte wie Fegelein zur Kavallerie gehört und war als Teilinvalide in die Heimat verlegt worden, nachdem er mit seinem Pferd auf eine Mine geraten war. Schmoekel war dadurch eine hässliche Narbe auf einer Gesichtshälfte geblieben, leider der Fegelein zugewandten Seite, sodass der SS -Gruppenführer sie unweigerlich sehen musste, wenn er als Beifahrer in dem Zweisitzer mitfuhr, den die SS ihm als Dienstfahrzeug zur Verfügung gestellt hatte. Fegelein, der den tagtäglichen Anblick eines so entstellten Gesichts als äußerst unangenehm empfand, war daher mehr erleichtert als wütend gewesen, als Schmoekel den Wagen zu Schrott gefahren und ihm damit einen Anlass geliefert hatte, ihn auf einen fernen Innendienstposten versetzen zu lassen.

Schmoekel durch Fräulein S. zu ersetzen war ein Geniestreich gewesen. Auf ihren täglichen Fahrten zwischen der Reichskanzlei, der Wohnung von Elsa Batz in der Bleibtreustraße und Himmlers Feldkommandostelle in Hohenlychen bemerkte Fegelein, dass Fräulein S. nicht nur eine bessere Fahrerin war als Schmoekel, sondern auch ein angenehmerer Anblick.

Natürlich war sich Fegelein der von eifersüchtigen Rivalen in Umlauf gebrachten Gerüchte über sein Unvermögen, die Frau in sein Bett zu kriegen, bewusst. Besonders verletzend empfand er es, wenn er hören musste, dass Fräulein S. für ihn schlichtweg »zu schön« sei, so, als wäre die Frau außerhalb seiner Liga und als wäre für ihn überhaupt kein Drandenken, bei ihr das zu erreichen, was ihm bei den zahllosen Sekretärinnen davor so mühelos gelungen war.

Aber das, protestierte Fegelein in seinen imaginären Gesprächen mit jenen, die diese Gerüchte in die Welt setzten, war nun mal genau der Punkt. Er hatte so viele andere Frauen gehabt, buchstäblich Dutzende nach seiner Zählung, und jede einzelne war weitergezogen, entweder weil er sie gefeuert hatte oder weil sie aus freien Stücken um eine Versetzung gebeten hatten, die er ihnen unter den Umständen gern gewährte.

So war er an den Punkt gelangt, an dem er tatsächlich eine gute Sekretärin brauchte, und eine, die eine Weile lang bei ihm blieb – mehr jedenfalls als jemanden zur Befriedigung seiner Bedürfnisse.

So unbestreitbar schön sie auch war, aber wenn er einen kompetenten Verbindungsoffizier abgeben wollte, war er gezwungen, auf jede Tändelei mit Fräulein Simonowa zu verzichten. Und so demütigend es auch sein mochte, dass seine Männlichkeit infrage gestellt würde, so tröstete er sich damit, dass die Klatschmäuler nur eifersüchtig waren auf seine Ehe, seine Stellung beim Führer und auf das Vertrauen, das Himmler in ihn und, ja, auch in die Frau setzte, die nun neben ihm saß.

»Ich bin mir nicht sicher, ob das Benzin noch bis Hohenlychen reicht«, sagte Lilja. »Ich wusste nicht, dass wir aus der Stadt wollen.«

»In Henningsdorf gibt es ein Treibstofflager«, antwortete Fegelein. »Dort können wir anhalten.«

Lilja sah zur Lederhülle mit den Blaupausen, die auf dem Armaturenbrett lag. »Das muss wichtig sein, wenn Sie sie persönlich abliefern.«

»Die besten Neuigkeiten seit Monaten«, erwiderte Fegelein. Dann sah er auf den Notizblock in seinem Schoß, in dem er sich Notizen für seinen Bericht an Himmler gemacht hatte. Wie klingt das?«, fragte er. »Der Erfolg der Steuerung mit dem Namen Diamantstrahl …« Er hielt inne. »Soll ich es einfach nur Steuerung nennen? Irgendwie klingt das nicht richtig.«

Sie antwortete nicht gleich. Als sie das Wort »Diamantstrahl« hörte, war ihr Mund mit einem Schlag wie ausgedörrt. »Wie wäre es mit ›Steuerungssystem‹?«

»Viel besser!« Fegelein strich das alte Wort durch und schrieb das neue darüber. »Der Erfolg des Steuerungssystems mit dem Namen Diamantstrahl hat das V2 -Programm so weit verbessert, dass wir zum einen dem deutschen Volk die Überlegenheit der deutschen Waffen garantieren und zum anderen unseren Feinden unmissverständlich klarmachen können, dass wir militärisch noch lange nicht besiegt sind. Nein«, murmelte er. »Warten Sie.«

»Geht es um das Wort ›besiegt‹?«, fragte Lilja.

»Genau. Das kann ich nicht benutzen. Ich kann eine mögliche Niederlage noch nicht einmal erwähnen.«

»Wie wäre es mit: ›unseren Feinden klarmachen, dass wir nach wie vor die Herren des Schlachtfelds sind‹?«

»Ausgezeichnet!« Er sah zu Fräulein S. und lächelte. »Wo wäre ich nur ohne Sie?«