H atte man seine Nachrichtenquelle erst einmal davon überzeugt, dass sie einem trauen konnte, würde sie dieses Vertrauen mit großer Loyalität vergelten – das gehörte zu den wertvollsten Lektionen, die Lilja Simonowa während ihrer überstürzten Ausbildung beim britischen Geheimdienst in Beaulieu gelernt hatte. Danach würde sich die Nachrichtenquelle durch hartnäckige Treue auszeichnen, nicht nur aufgrund der nun bestehenden Verbindung, sondern auch weil sie vieles zu verlieren hätte, falls sie sich täuschte. Nicht nur das Leben des Agenten, auch ihr eigenes Leben hing davon ab, dass der Anschein der Wahrheit aufrechterhalten wurde.
Das Band mit ihrem Feind zu schmieden, obwohl sie wusste, dass alles auf einer Lüge basierte, hatte manchmal sogar dazu geführt, dass sie selbst für ein Ungeheuer wie Fegelein so etwas wie Mitgefühl empfand.
Es war das Schwierigste, was sie jemals getan hatte. Es wäre ihr leichter gefallen, Fegelein umzubringen, als sich sein Vertrauen und seine Loyalität zu erwerben – etwas, was sie noch dazu zwangsläufig ständig selbst hinterging. Bevor sie in diese Sache hingeschlittert war, hätte sie es nie für möglich gehalten, zu so etwas fähig zu sein. Aber der Krieg hatte aus ihr eine Fremde gemacht, sie war sich selbst fremd geworden, und jetzt fragte sie sich, ob sie jemals wieder in der Lage sein könnte, in den Spiegel zu schauen und sich selbst zu erkennen.
Es hatte Monate gedauert, Fegeleins Vertrauen zu gewinnen. In dieser Zeit hatte sie sich jedem nur erdenklichen offiziellen wie inoffiziellen Test unterzogen. Gemäß dem Rat ihrer britischen Ausbilder hatte sie in dieser Zeit keinerlei Versuche unternommen, an Informationen zu gelangen. Kein Kontakt wurde zu Kurieren hergestellt, keine Meldung übermittelt. Damit wollte man vermeiden, dass ihr Falschinformationen zugespielt würden, um zu sehen, ob die alliierten Geheimdienste darauf reagierten. Wie Lilja herausfand, hatte Fegelein diese Taktik wiederholt angewandt.
In England war Lilja eingetrichtert worden, als Agentin erst dann aktiv zu werden, wenn sie sich absolut sicher war, das Vertrauen ihrer Quelle zu genießen. Ihr Leben hing davon ab. Das hatte sie von Anfang an gewusst. Was sie jedoch nicht gewusst hatte, war, dass sie sich dessen nie sicher sein konnte. Sie konnte immer nur mutmaßen und hoffen, dass sie richtiglag, und entsprechend handeln.
Es kam der Tag, an dem Fegelein sie zu seiner neuen Fahrerin und Nachfolgerin des schrecklich vernarbten Mannes ernannte, der die Stelle vor ihr gehabt hatte. Nach den mittäglichen Lagebesprechungen im Führerbunker verbrachte Fegelein den Nachmittag gewöhnlich in der Wohnung seiner Geliebten, während Lilja Simonowa draußen im Wagen wartete. Dort lag meistens auch die Aktentasche mit den für den Reichsführer SS bestimmten Unterlagen.
Fegelein ließ sie im Wagen, weil er sie dort für sicherer erachtete als in der Wohnung von Elsa Batz, die ihm zwar sehr am Herzen lag, der er aber nicht uneingeschränkt traute.
Simonowa ging in dieser Zeit den Inhalt der Aktentasche durch und leitete die Informationen sowie die Klatschgeschichten, die sie von Fegelein aufschnappte, an einen Kurier weiter, der alles nach England übermittelte.
Lilja wusste sehr wenig über diesen Kurier, außer dass er in der ungarischen Botschaft arbeitete.
Übergabeort war das ausgehöhlte Bein einer Parkbank in der Hasenheide, gleich gegenüber der gleichnamigen Straßenbahnstation. Gelegentlich wurden dort Botschaften für sie hinterlassen, in denen man sie aufforderte, ihren Führungsoffizier in England zu kontaktieren, den sie nur als »Major Clarke« kannte. Zu diesem Zweck war ihr ein Funkgerät gegeben worden, das sie nur in solchen Notfällen benutzen sollte.
Der letzte Kontakt zu Major Clarke lag nur einen Tag zurück. Er hatte sie angewiesen, so viel wir möglich über ein Diamantstrahlgerät herauszufinden.
Und dort lag es nun, kaum eine Armeslänge von ihr entfernt, auf dem Armaturenbrett des Wagens, mit dem sie zur Feldkommandostelle Heinrich Himmlers unterwegs waren.
»Halt«, rief Fegelein plötzlich. »Fahren Sie ran. Ich hab was vergessen.«
Lilja trat auf die Bremse, der Wagen kam zum Stehen. »Was ist?«, fragte sie.
»Elsas Geburtstag.« Fegelein sah sie hilflos an. »Wir müssen umdrehen!«
»Und Himmler warten lassen?«
»Lieber ihn als Elsa«, murmelte Fegelein.
Als sie den Wagen wendete, rollte die Dokumentenhülle auf Fegeleins Schoß.
»Es wird nicht lange dauern, Sie müssen im Wagen warten. Sie können ja so lange einen Blick darauf werfen«, sagte Fegelein und legte die Hülle zurück aufs Armaturenbrett.
»Natürlich«, antwortete sie leise.
»Wo wäre ich nur ohne Sie, Fräulein S.?«, wiederholte Fegelein. Als er ihre leuchtend blauen Augen sah, wurde sein Blick weich. Augen wie ihre hatte er noch nie zuvor gesehen, und ihre Wirkung hatte nie nachgelassen, seitdem er sie in Paris kennengelernt hatte. Damals hatte sie eingezwängt mit anderen Sekretärinnen in einem kahlen, verrauchten Raum gesessen und für die deutsche Stadtverwaltung Dokumente übersetzt. Trübes Licht war durch die moosbewachsenen Glaspaneelen im Dach gefallen. Wenn Fegelein an diesen Moment zurückdachte, hörte er wieder das ohrenbetäubende Klacken der unzähligen Schreibmaschinen, die wie die Schnäbel winziger Vögel gegen sein Gehirn hämmerten, und er erinnerte sich, als sie von ihrer Arbeit aufsah und er ihr Gesicht entdeckte. Von diesem Augenblick hatte er sich nie erholt und wollte es auch nicht.
»Ja, wo wären Sie dann?«, fragte sie. »Vermutlich auf der Suche nach der perfekten Formulierung für die Berichte an den Reichsführer. Da wären Sie dann.«
Ihre Worte waren wie ein Kübel kaltes Wasser. »Genau«, erwiderte er schroff und wandte den Blick zur Straße. In diesem Moment wusste er: Er hatte sich nicht schon längst auf diese Frau gestürzt, weil er sich in sie verliebt hatte und es nicht übers Herz bringen konnte, sie so wie die anderen und selbst wie seine eigene schmählich fremdgehende Frau zu behandeln.
»War das General Hagemann oben auf der Treppe der Reichskanzlei?«, fragte sie.
»Er zieht es vor, Professor genannt zu werden«, bestätigte Fegelein. »Aber er war es, ja, und da ihm soeben eine sehr wertvolle Rakete abhandengekommen ist, war es möglicherweise auch das letzte Mal, dass Sie ihn gesehen haben.«
»Ihm ist eine Rakete abhandengekommen?«
Fegelein erzählte, was er erfahren hatte. »Wahrscheinlich liegt sie auf dem Grund der Ostsee, aber ich gehe davon aus, dass der General ein bisschen ruhiger schlafen würde, wenn das bestätigt würde. Und ich würde auch ein wenig besser schlafen, wenn Sie endlich meinen Rat annehmen und eine Pistole tragen würden. Ich gebe Ihnen gern eine. Es sind gefährliche Zeiten, und es wird nicht besser. Ich habe Elsa eine gegeben, wissen Sie, und sie scheint damit ganz zufrieden zu sein.«
»Vielleicht, weil sie eine braucht, um sich gegen Sie zur Wehr zu setzen.«
Fegelein lachte. »Selbst wenn es so sein sollte, hätte ich wenig zu befürchten. Denn was Elsa noch mehr bräuchte, wäre etwas Schießunterricht. Glauben Sie mir, ich hab versucht, es ihr beizubringen, aber sie ist ein hoffnungsloser Fall.«
»Na, ich jedenfalls will keine Waffe«, sagte Lilja. »Wie oft hab ich Ihnen das schon gesagt?«
»Ich zähle nicht mehr mit. Aber das heißt nicht, dass ich es aufgebe, Sie zur Vernunft zu bringen.«
In Wahrheit trug Lilja eine Waffe. Es handelte sich um ein kleines Klappstilett, das sich einhändig, nur durch Druck auf einen kleinen Knopf, öffnen ließ.
Es war das Geschenk des Mannes, den sie vor langer Zeit fast geheiratet hätte. An einem Spätsommertag hatten sie bei einem Picknick am Newa-Ufer außerhalb von Sankt Petersburg gesessen, und er hatte mit diesem Messer einen Apfel geschält und dabei die Schale in einem Stück, als ein einziges saftig grünes Band abgenommen. Vor ihnen hatten langbeinige weiße Vögel zwischen Seerosen im Wasser gestochert.
»Was sind das für Vögel?«, hatte sie gefragt.
»Kraniche«, hatte er geantwortet. »Bald beginnen sie ihren Flug in den Süden.«
»Wie weit fliegen sie?«
»Bis nach Afrika.«
Sie war verblüfft über die lange Reise und versuchte sich vorzustellen, wie sie auf ihren kreidebleichen Beinen im Wasser einer Oase standen.
Später, als sie nach Hause kam, hatte sie das Messer im Weidekorb entdeckt, in dem sie den Proviant mitgebracht hatte. Als sie das Messer zurückgeben wollte, sagte er ihr nur: »Denk an die Vögel.«
Erst sehr viel später bemerkte sie das auf der Klinge eingravierte Zeichen des Messerherstellers – zwei Kraniche, deren lange, schmale Schnäbel sich berührten.
Von allem, was sie auf ihrer Reise aus Russland mitgenommen hatte, war ihr nur dieses Messer geblieben. Der Diamant-Saphir-Verlobungsring, den sie bei ihrer Ankunft in England getragen hatte, war ihr abgenommen und verwahrt worden, als sie mit der Ausbildung für jene Aufgaben begonnen hatte, die seitdem ihr Leben bestimmten. Sie fragte sich, wo der Ring jetzt war, aber auch, wo der Mann war, der ihr diesen Ring auf der Insel im Lamskie-Teich in Zarskoje Selo an den Finger gesteckt hatte, damals, vor unendlichen Zeiten.
Hermann Fegeleins Stimme brach in ihre Erinnerungen ein wie ein Stein, den man durch eine Fensterscheibe geschleudert hatte. »Ich werde nicht immer Ihr befehlshabender Offizier sein«, sagte er, streckte die Hand aus und streifte dabei ihr Knie.
»Ich weiß«, erwiderte sie sanft und sah auf seinen Arm.
Hätte Fegelein gewusst, was ihr in diesem Moment durch den Kopf ging, wäre ihm das Herz vor Angst stehen geblieben.
Speichenarterie – die Mitte des Handgelenks. Ein ein Zentimeter tiefer Schnitt. Bewusstseinsverlust in dreißig Sekunden. Tod in zwei Minuten.
Oberarmarterie – innerhalb und kurz oberhalb des Ellbogens. Ein ein Zentimeter tiefer Schnitt. Bewusstseinsverlust in vierzehn Sekunden. Tod in eineinhalb Minuten.
Unterschlüsselbeinarterie – unter dem Schlüsselbein. Ein sechs Zentimeter tiefer Schnitt. Bewusstseinsverlust in fünf Sekunden. Tod in dreieinhalb Minuten.