M ajor Kirow betrat den Befragungsraum des ausschließlich für hochrangige Offiziere vorgesehenen Kriegsgefangenenlagers Alexejewska und traf dort auf einen groß gewachsenen Mann mit blasser Haut und grauen Haaren, der immer noch die zerschlissene Uniform eines Oberst der Wehrmacht trug. Der Oberst saß vornübergebeugt an einem Tisch und umklammerte eine grüne Emailletasse mit heißem Tee. Außer einem zweiten Stuhl am Tisch befanden sich keine Möbel im Raum.
Der Name des Soldaten lautete Hanno Wolfrum.
Er hatte einen Lkw-Konvoi befehligt, der auf der Flucht vor der Roten Armee in Königsberg aufgebrochen war und sich zu den deutschen Linien im Westen durchschlagen wollte. Da Wolfrum befürchtete, sie könnten auf ihrer vorhergesehenen Route auf russische Aufklärungseinheiten stoßen, schickte er eigene Leute voraus, um sicherzugehen, dass die Straßen noch passierbar waren. Seine Vorausabteilung meldete allerdings sowjetische Panzer. Da es keine weiteren Straßen in westliche Richtung gab und Wolfrum es nicht wagte, nach Norden zurückzukehren, war er zu einem Umweg nach Osten gezwungen, zurück zu den feindlichen Linien, in der Hoffnung, dort einen Weg nach Süden und schließlich nach Westen zu finden. Auf der gewundenen Straße aber geriet die Kolonne in sowjetisches Mörserfeuer. Das Führungs- und das Schlussfahrzeug wurden zerstört, sodass die Wagen dazwischen weder vor noch zurückkonnten. Die Fahrer und die Wachmannschaft flohen ins Gelände.
Die russischen Soldaten, die daraufhin die Lastwagen plünderten, hofften, Lebensmittel zu finden. Worauf sie stießen, waren allerdings Maschinenteile von V1 - und V2 -Raketen. Sobald das russische Oberkommando davon erfuhr, wurden Spezialisten des NKWD zur betreffenden Stelle geschickt. Die Raketenteile wurden umgehend inventarisiert und hinter die Front abtransportiert, gleichzeitig machte man sich auf die Suche nach den Männern, die den Transport begleitet hatten.
Die meisten von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt bereits von polnischen Partisanen getötet worden. Wolfrum wurde von plündernden Rotarmisten in einer Scheune gestellt, woraufhin er ins Gefangenenlager Alexejewska gebracht und wochenlang verhört wurde.
Wolfrum wurde weder gefoltert noch anderweitig misshandelt. Die, die ihn vernahmen, gehörten zu den erfahrensten Mitgliedern des russischen Geheimdienstes und wussten, dass Wolfrum ihnen im Lauf der Zeit, wenn sie es geschickt anstellten, nicht nur Antworten auf ihre Fragen liefern würde, sondern sogar auf Fragen, die zu stellen sie gar nicht auf die Idee gekommen wären.
Zunächst behauptete Wolfrum, über den Inhalt der Kisten auf den Lastwagen nichts zu wissen. Die unerwartet höfliche Behandlung allerdings unterhöhlte seine Entschlossenheit. Bald darauf gab er Details preis, aufgrund derer man annehmen konnte, dass er nicht nur um die Bedeutung der Maschinenteile wusste, sondern selbst zum zuständigen Entwicklerteam gehört hatte. Es stellte sich heraus, dass Wolfrum von General Hagemann, dem Leiter des Peenemünder Programms, zur Fabrik in Tilsit an der litauischen Grenze geschickt worden war, um die dort hergestellten Triebwerkskomponenten vor der Roten Armee in Sicherheit zu bringen. Wolfrum hatte darüber hinaus den Befehl, vor dem Abzug die Fabrik zu sprengen. Dafür wurde so viel Dynamit verwendet, dass nicht nur die Fabrikanlagen dem Erdboden gleichgemacht wurden, sondern in der halben Stadt die Fenster zersplitterten.
Kirow musterte Wolfrum. Die Uniform des Oberst, obwohl auf der Flucht schwer in Mitleidenschaft gezogen, bestand aus grauem Kammgarn von höchster Qualität, der Kragenspiegel war dunkelgrün abgesetzt. Sämtliche Rangabzeichen waren von der Lagerverwaltung entfernt worden, sodass am Kragen und auf den Schultern nur noch dunkle Schatten zu erkennen waren, Gleiches galt für den Adler über der linken Brusttasche.
Wolfrum selbst, von kräftiger Statur, wirkte ängstlich und so mitgenommen wie seine Kleidung. Die Wangen waren eingefallen, die blutleeren Lippen aufgerissen. Kirow musste man nicht sagen, dass nicht die Gegenwart diesem Offizier solche Angst einjagte, sondern die Zukunft. Wolfrum war seit mehreren Monaten in Gefangenschaft und sich nur allzu bewusst, dass sein Nutzen unweigerlich dem Ende zuging. Die Versprechen, die man ihm für die kommenden Wochen, Monate oder gar Jahre gemacht hatte, waren nur dazu bestimmt, um an die gewünschten Informationen zu kommen. Jede Illusion eines würdevollen Umgangs konnte mit jedem Tag zunichtegemacht werden. Ob man ihn an die Wand stellte oder nach Sibirien schickte, lag nicht mehr in seinen Händen. Bis dahin aber beantwortete Wolfrum ihre Fragen. Es war ihm egal, wer sie waren. Der Eid, den er vor langer Zeit geleistet hatte, galt dem Führer eines Landes, das am Rand der Auslöschung stand. Außerdem war nichts von dem, was er wusste, es wert, geheim gehalten zu werden. »Sie sind neu hier«, sagte Wolfrum an den Major gewandt. »Sind die anderen meiner überdrüssig geworden?« Dann nippte er an seinem Tee und wartete auf den Beginn der Befragung. Sie gaben ihm immer Tee vor solchen Sitzungen, und er hatte fast Angst, ihnen zu sagen, wie sehr er diese kleine Geste der Freundlichkeit zu schätzen gelernt hatte.
»Ich hab bloß eine Frage«, sagte Kirow. »Man sagte mir, Sie hätten vielleicht eine Antwort darauf.«
Wolfrum seufzte. »Ich habe bereits alles erklärt. Alles. Aber es ist ja egal.« Er stellte die Tasse ab und drehte die offenen, von der Wärme rosigen Handflächen nach oben. »Fragen Sie, Genosse. Ich hab alle Zeit der Welt.«
Kirow nahm auf dem Stuhl gegenüber dem Gefangenen Platz.
»Was wissen Sie über ›Diamantstrahl‹?«
Wolfrum ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Gut«, sagte er schließlich, »vielleicht wissen Sie doch nicht alles über mich.«
»Was wissen wir nicht?«
»Ich habe am Diamantstrahlprojekt mitgearbeitet.«
»Worum ging es dabei?«
Wieder zögerte der Oberst. Mit jedem Informationsbrocken, so kam es ihm vor, näherte er sich einen weiteren Schritt der Linie, hinter der es kein Zurück mehr gab. Allerdings war ihm in letzter Zeit klar geworden, dass er diese Linie eigentlich schon vor geraumer Weile überschritten hatte. »Diamantstrahl ist die Bezeichnung für das Steuerungssystem der V2 . Falls es je funktioniert hätte, hätten wir die Rakete über ungeheure Entfernungen in jeden x-beliebigen Kamin hineinsteuern können.«
»Falls?«
»Richtig. Eine wunderbare Idee, mehr war es aber nie. Ich weiß nicht, wie viele Erprobungsraketen in den Monaten vor meiner Gefangennahme abgefeuert wurden, ich kann Ihnen nur eins sagen: Jede Einzelne von ihnen war ein Fehlschlag. Die von uns entwickelte Technik hielt den Vibrationen der Rakete während des Flugs nicht stand.«
»Halten Sie es für möglich, dass es funktionieren könnte, zumindest in der Theorie?«
Wolfrum lächelte. »Unsere Theorien haben immer funktioniert, Genosse Major. Deshalb haben wir ihnen so schöne Namen verpasst. Aber leider waren sie nie mehr als bloße Theorien. Und mehr werden sie wahrscheinlich auch nie sein.«