E inige Tage später fuhr ein Lkw vor den Toren des Propulsion Laboratory in der Nähe des King’s Dock in Swansea im Süden von Wales vor.
Die Hafenanlagen der Stadt waren durch die zumeist nächtlichen deutschen Luftangriffe im Sommer 1940 schwer beschädigt worden.
Das Propulsion Laboratory stellte in erster Linie Dampfturbinen für Schlachtschiffe her und gehörte zu den wenigen Betrieben, die die Angriffe unbeschadet überstanden hatten. Grund dafür war das große Dach, dessen taunasse Schindeln im Mondlicht schimmerten und den angreifenden Heinkel- und Dornier-Bombern als eine Art Leuchtfeuer für den Heimflug diente. Die Piloten der Maschinen hatten den strengen Befehl, das Dach nicht zu zerstören, weshalb das Laboratory seinen Betrieb fortführen konnte.
Soldaten hoben eine schwere Kiste von der Ladefläche des Lastwagens. Sie wurde auf einen Handkarren geladen und in das rote Backsteingebäude gezogen. Zwei Männer in Zivilkleidung traten hinzu. Sie hatten die Kiste begleitet, seitdem sie zwei Tage zuvor im Hafen von Harwich eingetroffen war.
Einer der Männer trug einen Trilby und einen braunen Gabardinemantel. Er war groß und drahtig und hatte ein Menjoubärtchen. Er machte keinen Hehl aus der Tatsache, dass er einen Revolver in seinem Schulterhalfter trug.
Der andere in einem dreiteiligen Harris-Tweedanzug hatte ein fliehendes Kinn und grau melierte Locken, seine weißen Bartstoppel ließen darauf schließen, dass er sich seit mehreren Tagen nicht rasiert hatte.
Der Mann mit dem Menjoubärtchen baute sich in der Mitte des großen Raums auf und gab den Arbeitern mit seiner lauten, nasalen Stimme bekannt, dass sie sich für den Rest des Tages freinehmen könnten.
Niemand widersprach. Niemand erkundigte sich nach dem Grund. Der Anblick der Waffe unter der Achsel des Mannes war Legitimation genug.
Nur eine Person wurde dabehalten: ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit fleischigen Lippen und freundlichen Augen. Statt eines ausgebleichten blauen Laborkittels, wie ihn die anderen Arbeiter trugen, hatte er sich eine große Kochschürze übergestreift, deren vordere Tasche von Stiften, Tüchern und mit mysteriösen Gleichungen vollgekritzelten Notizzetteln schwer nach unten gezogen wurde.
»Professor Greenidge?«, fragte der Mann mit dem Menjoubärtchen.
»Ja.«
»Ich bin Warsop vom Innenministerium.« Dabei zog er ein gefaltetes Blatt aus seiner Manteltasche. »Wenn Sie hier bitte unterzeichnen wollen.«
»Was ist das?«, fragte Greenidge.
Der Mann im Tweedanzug schaltete sich ein. »Die Geheimhaltungserklärung. Sobald Sie unterschrieben haben, können wir Ihnen zeigen, was wir hier haben.« Er stieß mit der Schuhspitze gegen die Kiste. »Ich denke, Sie werden es überaus lohnenswert finden, sich damit beschäftigen zu dürfen.« Er streckte dem Professor die Hand hin. »Ich bin Rufford und gehöre der Operation Crossbow an.«
Greenidge hatte von Crossbow gehört, bislang allerdings keinen getroffen, der daran arbeitete. Die Operation war als Gegenmaßnahme zum deutschen Raketenprogramm eingerichtet worden und unterlag der höchsten Geheimhaltungsstufe.
»Was hat das mit mir zu tun?«, fragte er. »Ich bin Dampfturbinentechniker. Ich baue keine Raketen.«
»Wir haben Sie zufällig ausgewählt«, murmelte Warsop. »Unterzeichnen Sie jetzt?«
»Ich würde Ihnen nahelegen, es zu tun«, sagte Rufford.
»Gut«, sagte Greenidge. Er vermutete, dass ihm keine andere Wahl blieb. Mit einigen schwungvollen Kringeln seines Parker-Füllers setzte er seine Unterschrift unter das Dokument.
»Ist Ihnen bei Ihrer Arbeit«, fragte Rufford, »zufällig einmal ein Projekt namens ›Diamantstrahl‹ untergekommen?«
»Nein. Was soll das sein?«
»Nun, wir hoffen, dass es sich in dieser Kiste befindet.«
Warsop öffnete die Kiste. Der Geruch von Erde und Kuhfladen verbreitete sich im Raum. Warsop fasste hinein und zog ein verbogenes Maschinenteil heraus, an dem noch Dreck und Stroh hingen. Dass es mit ungeheurer Gewalt aus seiner Verankerung gerissen worden war, konnte man am zerschredderten Stahl sehen.
Warsop reichte es Greenidge. »Sehen Sie zu, was Sie daraus machen können.«
Greenidge hielt einige Sekunden lang das Metallteil in der Hand, aber es war viel zu schwer, sodass er es auf einer Arbeitsbank absetzen musste. Dann zog er einen seiner vielen Stifte aus der Schürze und begann damit zwischen den Drähten herumzustochern, die aus dem Teil herausragten wie die Wurzeln eines aus dem Boden gerissenen Baums. Nach mehreren Minuten hielt er inne und tippte sich nachdenklich mit dem Stift gegen den Daumennagel. »Das kommt mir vor, als wäre es eine Art Gyroskop, wahrscheinlich zur Stabilisierung des Körpers während des Flugs. Jedenfalls keines von unseren Geräten, sonst würde ich es kennen. Wo haben Sie das her?«
»Von einer Absturzstelle auf einer Insel in der Ostsee«, erwiderte Rufford. »Mehr können wir Ihnen vorerst nicht sagen.«
»Können Sie mir wenigstens verraten, von welchem Flugkörper es stammt?«
»Wir gehen davon aus, dass es eine Testrakete war. Wahrscheinlich wurde sie von der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde abgefeuert.«
»Also entweder eine V1 oder eine V2 «, sagte Greenidge.
Warsop sah zu Rufford. »Dann können wir es ihm genauso gut sagen.«
»Das Letztere«, bestätigte Rufford.
»Ich dachte, wir hätten Peenemünde bombardiert«, sagte Professor Greenidge.
»Haben wir«, antwortete Warsop. »Aber wohl nicht genug.«
»Jedenfalls scheint dieser Mechanismus nicht funktioniert zu haben.«
»Möglich«, erwiderte Rufford. »Es ist uns gelungen, einige Raketenteile aus den Trümmern der letzten Einschläge in Antwerpen und London zu bergen …«
»London!«, rief Greenidge aus. »Darüber stand nichts in den Zeitungen.«
»Ah.« Rufford kratzte sich an der Stirn. »Na ja, wissen Sie, wir haben die Raketentreffer in der Öffentlichkeit als Gasexplosionen ausgegeben, damit in der Stadt keine Panik ausbricht. Da die Raketen mit Überschallgeschwindigkeit anfliegen, geht die Detonation dem Lärm voraus, und der Raketenlärm wird dann meistens von der Explosion übertönt.«
»Wie lange meinen Sie, das noch aufrechterhalten zu können?«, fragte der Professor ungläubig.
»So lange, wie es nötig ist«, antwortete Warsop. »Aber deshalb sind wir nicht hier.«
»Ja«, schaltete sich Rufford ein. Er schien darauf bedacht zu sein, jede Animosität zwischen den beiden Männern von Anfang an zu unterbinden. »Wir haben Ihnen diese Teile gebracht, weil uns so etwas noch nie untergekommen ist. Wir haben Grund zu der Annahme, dass der Feind kurz vor der Fertigstellung einer Funkfernsteuerung für diese Raketen steht.«
»Funkfernsteuerung?«, fragte Greenidge, und plötzlich verstand er, warum sie zu ihm gekommen waren.
Vor dem Krieg hatte er mit Funksteuerungen für Waffen experimentiert, hatte aber nie einen funktionierenden Prototyp fertigstellen können. Irgendwann waren dann die Regierungsgelder gestrichen worden, und er war gezwungen gewesen, als Turbinentechniker im Propulsion Laboratory zu arbeiten. Jetzt schien der Feind den Traum wahr gemacht zu haben, der einst sein eigener gewesen war.
»Besteht die Möglichkeit, dass Sie das rekonstruieren können?«, fragte Rufford.
Greenidge schüttelte den Kopf. »Nicht anhand dessen, was Sie mir gebracht haben. Das ist nur ein Teil des Mechanismus. Wenn ich die Pläne hätte, selbst wenn sie nur teilweise erhalten wären, könnte ich wohl relativ schnell Ergebnisse vorlegen.«
»Wir arbeiten daran«, sagte Warsop.
»Bis dahin«, sagte Greenidge, »kann ich ja zerlegen, was wir hier haben, dann kann ich Ihnen auch sagen, was noch fehlt.«
»Dann werden wir uns vorerst damit begnügen müssen«, sagte Rufford. »Haben Sie einen Arbeitsplatz, an dem Ihnen keiner über die Schulter schaut?«
»Ja. Hinten im Lager gibt es einen entsprechenden Raum.«
»Versehen Sie die Tür mit einem Schloss«, befahl Warsop.
»Ein Schloss ist schon dran.«
»Von drinnen. Damit kein ungebetener Gast Sie überraschen kann.«
Greenidge nickte. »Ich werde mich umgehend darum kümmern.« Er gab Rufford die Hand. Warsop verabschiedete sich nur mit einem Nicken.
»Eine letzte Frage noch«, sagte Greenidge, als die beiden Männer schon zur Tür unterwegs waren.
Sie drehten sich um.
»Können Sie mit Bestimmtheit sagen, dass keiner auf der anderen Seite weiß, dass wir im Besitz dieser Teile sind?«
Nervös sah Rufford zu Warsop.
»Warum wollen Sie das wissen?«, fragte Warsop.
»Wenn ich das Ding hier rekonstruieren kann, dann könnte ich eventuell auch etwas entwickeln, was seine Wirkung zunichtemacht. Und genau das wollen Sie doch, oder? Die Tatsache, dass wir diese Technologie nachbauen können, hält den Feind ja nicht davon ab, sie gegen uns einzusetzen.«
Zum ersten Mal legte Warsop seinen finsteren Blick ab.
»Wir sind uns so sicher wie irgend möglich, dass der Feind nicht die geringste Ahnung hat, wo sich diese Raketenteile jetzt befinden«, erklärte Rufford. »Aber hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Die Männer, die uns die Wrackteile gebracht haben, haben außerordentliche Risiken auf sich genommen, aber wer weiß schon, ob jemand sie nicht doch gesehen hat oder die lokalen Behörden an der Absturzstelle herausgefunden haben, dass vom Wrack etwas fehlt. Aber unter den gegenwärtigen Zuständen dürften sie im Deutschen Reich momentan andere Sorgen haben. Hoffen wir, dass keine Aufmerksamkeit erregt wurde.«
»Je früher Sie mir die Pläne bringen …«
»Wie gesagt, Professor, man arbeitet daran, aber das ist leichter gesagt als getan, wie Sie sich sicherlich vorstellen können.«
Als die beiden Männer fort waren, wandte Greenidge seine Aufmerksamkeit den Wrackteilen zu. Mit einem Finger schob er die in sich verhedderten bunten Drähte weg und war überrascht, als dabei etwas herausfiel. Es flog auf den Boden und kullerte laut klackend über den Beton. Greenidge hob es auf. Es handelte sich um eine Messingscheibe, die den Einschlag unversehrt überstanden hatte. Etwas schien darauf geschrieben zu sein, halb verdeckt von der Erde, die sich auf dem Mechanismus festgesetzt hatte. Mit dem Daumen wischte er den Dreck weg, betrachtete blinzelnd die zum Vorschein gekommenen Worte und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen. »Lotti«, las er laut für sich. »Beste Kuh.«