I m gleichen Augenblick bereitete sich Leopold Hunyadi im Konzentrationslager Flossenbürg darauf vor, seinem Schöpfer gegenüberzutreten.
Hunyadi war von mittlerer Größe, er hatte schütteres blondes Haar, ein rundes, freundliches Gesicht und besaß die Angewohnheit, den Kopf zurückzuneigen, wenn er mit anderen sprach. Gleichzeitig kniff er dabei leicht die Augen zu, als wollte er keinesfalls seine Gefühle preisgeben. Da der Drang zur körperlichen Ertüchtigung bei ihm wenig ausgeprägt war, hatte er einen kleinen Bauch über seinen alten Reichswehrgürtel hängen, den er sonst immer trug. Der Gürtel, auf dessen Koppel die Worte »In Treue fest« eingraviert waren, stammte noch aus dem Ersten Weltkrieg, in dem Hunyadi als Feldwebel im 16 . Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment gedient hatte.
1917 , während der dritten Ypernschlacht, hatte er in der Nähe des Dorfes Zillebeke einem deutschen Meldegänger das Leben gerettet, der zu einer Artilleriestellung unterwegs gewesen war und sich dabei im Stacheldraht verheddert hatte. Aufgrund eines Kommunikationsfehlers hatte die Batterie das Feuer nämlich nicht auf die britischen Linien, sondern auf die deutschen Schützengräben eröffnet. Mehrere eigene Soldaten waren getötet und die Feldkabel durchtrennt worden. In seiner Verzweiflung hatte ein Offizier eine schriftliche Meldung aufgesetzt, mit der er der Batterie befahl, das Feuer weiter nach vorn zu verlegen, hatte sie dem nächststehenden Gefreiten in die Hand gedrückt und ihm befohlen, sie so schnell wie möglich zuzustellen.
Der Name dieses Gefreiten lautete Adolf Hitler. Kurz nachdem er den Graben verlassen hatte, wurde er von der Druckwelle eines Granattreffers von den Füßen geholt und verfing sich im Stacheldrahtverhau.
Im selben Augenblick kam Feldwebel Hunyadi aus dem Bunker, in dem er Schutz vor dem Artilleriefeuer gesucht hatte. Er entdeckte den Gefreiten, der wie ein Insekt im Spinnennetz gefangen war, und hörte dessen Hilferufe. Mit einer Zange befreite er den Soldaten aus den rostigen Stacheldrahtdornen.
Nach dem Krieg avancierte Hunyadi zu einem der erfolgreichsten Kriminalermittler in der Geschichte der Berliner Polizei.
Obwohl er sich weigerte, in Hitlers NSDAP einzutreten – ein Akt, der seiner weiteren Karriere normalerweise nicht gerade förderlich gewesen wäre –, vergaß Hitler nie, was er Hunyadi zu verdanken hatte. Natürlich war Hitler enttäuscht von Hunyadis Sturheit, aber er sorgte dafür, dass der Kriminalist ungehindert und unabhängig von der Parteimitgliedschaft weiterhin seiner Arbeit nachgehen konnte.
Hitlers Geduld mit seinem alten Freund hatte 1938 jedoch ein Ende, als er erfuhr, dass Hunyadis Frau Franziska, eine legendär schöne Frau, aus einer jüdischen Familie stammte, die Generationen zuvor aus Spanien zugewandert war.
Hunyadi wurde ins Reichssicherheitshauptamt zitiert, wo man ihn darüber in Kenntnis setzte, dass er umgehend die Scheidung von seiner Frau einzureichen habe. Die Gründe dafür würden von den Gerichten bereits ausgearbeitet, die notwendigen Formulare ausgestellt. In einer Woche wäre der Vorgang erledigt, worauf seine Frau die Erlaubnis erhalte, das Land zu verlassen.
Als Hunyadi protestierte und sagte, lieber wolle er mit seiner Frau emigrieren, als sich von ihr scheiden zu lassen und in Deutschland zu bleiben, wurde ihm unmissverständlich klargemacht, dass ihm diese Möglichkeit verwehrt sei. Seine Dienste würden hier in Berlin benötigt. Sollte er sich gegen Hitlers Wunsch stellen, würde das nur zur Verhaftung seiner Frau und deren Abtransport in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück führen.
Vor dieses Ultimatum gestellt, blieb Hunyadi nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Die Scheidungspapiere wurden ausgestellt, Hunyadi unterzeichnete, und Franziska reiste nach Spanien aus, wo sie von entfernten Verwandten aufgenommen wurde.
Mit Hitlers Segen und unter dessen persönlichem Schutz arbeitete Hunyadi weiter als Polizist und mehrte seinen Ruf durch eine ganze Reihe von aufgeklärten Fällen. Hitler selbst übertrug Hunyadi mehrere Ermittlungen, unter anderem den Fall eines britischen Majors, der an der spanischen Küste an Land gespült worden war und eine mit Handschellen ans Handgelenk gefesselte Aktentasche bei sich hatte. Es stellte sich heraus, dass der Tote, ein gewisser William Martin, bei einem Flugzeugabsturz vor der spanischen Küste ums Leben gekommen war. Martin hatte es zwar noch geschafft, sich auf ein beschädigtes Rettungsboot zu schleppen, war aber dort seinen Verletzungen erlegen und schließlich ertrunken. Fischer, die ihre Netze auslegen wollten, hatten ihn am Strand gefunden. Die mit den Deutschen freundschaftlich verbundenen spanischen Behörden hatten dem deutschen Geheimdienst erlaubt, die Aktentasche zu öffnen und den Inhalt zu fotografieren, bevor der Leichnam der britischen Botschaft übergeben wurde. Bei den Dokumenten, stellte sich heraus, handelte es sich um die ausgearbeiteten Pläne für eine Invasion auf Sardinien, die von mehreren Mitgliedern des alliierten Oberkommandos unterzeichnet waren. Obwohl Martin Eintrittskarten für eine Theateraufführung in London bei sich hatte sowie einen Brief von seiner Verlobten – Details, die das deutsche Oberkommando ebenso überzeugten wie der Inhalt der Aktentasche –, kam Hunyadi zu dem Schluss, dass das Ganze als Trick und Ablenkungsmanöver zu betrachten sei.
Ungeachtet Hunyadis Warnung ordnete Hitler die Verlegung von mehr als 20 000 Soldaten nach Sardinien an, um für die Landung der Alliierten gewappnet zu sein. Als man dahinterkam, dass Major Martin und seine Schlachtpläne tatsächlich ein Täuschungsmanöver waren, war die Landung in der Normandie bereits in vollem Gang.
Noch vor Hunyadis Rückkehr aus Spanien war Hitler von einem Informanten in der spanischen Regierung zugetragen worden, dass sich Hunyadi mit Franziska getroffen und sie bei einer heimlichen Zeremonie ein zweites Mal geheiratet hatte.
Hitler wertete das als persönlichen Verrat und befahl die Verhaftung des Kriminalisten, seine sofortige Entlassung aus dem Polizeidienst und Inhaftierung in Flossenbürg. Dort wartete er auf das Gerichtsurteil, das schon im Voraus feststand.
Im November 1944 wurde Leopold Hunyadi aus seiner Zelle im Arrestbau geholt und vor ein in der Häftlingsküche zusammengetretenes Gericht gestellt, das ihm eröffnete, dass er zum Tod durch den Strang verurteilt worden sei.
Seit diesem Tag lebte Hunyadi in einem Zustand erhöhter Anspannung. Nie wusste er, welcher Tag sein letzter sein würde. Anfangs, wenn er vor seiner Zelle Schritte hörte, krampfte sich sein Herz zusammen, und er dachte, jetzt würden sie ihn holen kommen. Das geschah so häufig, dass er taub dagegen wurde, als hätte sich ein Teil von ihm schon jetzt aus seinem Körper verabschiedet und wartete irgendwo außerhalb der Steinmauern darauf, dass der Rest nachkam.
Obwohl er von seinem Fenster aus nichts sehen konnte, hörte er manchmal die aufklappende Falltür des Galgens draußen im Hof. Das Geräusch jagte ihm aber keine Angst ein, sondern spendete ihm Trost, denn es bedeutete, dass er, wenn er in die Schlinge fiel, schnell getötet würde – anders als bei der ebenfalls gebräuchlichen Methode, den Delinquenten an einer Stange in die Höhe zu ziehen und ihn dort baumeln zu lassen, bis er qualvoll erstickte.
Um sich die Zeit zu vertreiben, nahm er Kontakt mit den Gefangenen zu beiden Seiten seiner Zelle auf. Da er sie nicht sehen und nicht mit ihnen reden konnte, kommunizierte er mit ihnen mittels des sogenannten Polybios-Codes. Dazu wird das Alphabet in fünf Reihen mit jeweils fünf Buchstaben eingeteilt, wobei sich I und J denselben Platz teilen. Klopft man gegen die Wand zum Nebenraum oder gegen ein Heizungsrohr, das sich durch das Gebäude zieht, wobei die erste Anzahl von Schlägen der horizontalen, die zweite Anzahl von Schlägen der vertikalen Position des Buchstabens entspricht, ist es möglich, Buchstaben und Wörter zu übermitteln.
Hunyadi hatte den Code schon früh in seiner Laufbahn als Polizist erlernt und mit dessen Hilfe die Unterhaltungen zwischen einzelnen Häftlingen belauscht, manchmal hatte er sogar selbst heimlich mit von ihm verhafteten Häftlingen kommuniziert, denen er auf diese Weise Informationen entlocken konnte, die sie ihm sonst nie mitgeteilt hätten.
Die Häftlinge in Flossenbürg kamen und gingen, es waren allesamt hochrangige Offiziere, Regierungsvertreter oder politische Gefangene. Der Arrestbau, nahm Hunyadi daher an, war die Endstation für all jene, die vom Führer höchstpersönlich aufs Schafott geschickt wurden.
Von Neuankömmlingen erfuhr Hunyadi vom Vormarsch der alliierten Armeen. Er vermutete deshalb, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis wahrscheinlich die Amerikaner das Lager einnahmen. Während seine Mithäftlinge in den geklopften Nachrichten ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen, dass die Alliierten sie retten kamen, war Hunyadi klar, dass der Vormarsch des Feindes ihren Tod nur beschleunigen würde.
Die Sonne war schon untergegangen, als die Tür aufschwang und ein Wachmann namens Krol eintrat.
Hunyadi lag auf seiner Pritsche. Schlaftrunken richtete er sich auf. »Was ist los?«, fragte er.
»Zieh dich aus«, herrschte der Wachmann ihn an.
Hunyadi war so verwirrt über dieses Ansinnen, dass er erst mal nur dasaß und gar nichts tat.
Wütend über Hunyadis Untätigkeit, verpasste Krol ihm eine kräftige Ohrfeige. »Ausziehen!«, bellte er.
Hunyadi gehorchte.
Als er nackt vor Krol stand, drehte der Wachmann sich um und marschierte aus der Zelle. »Mitkommen«, befahl er.
Draußen vor der Zelle schloss sich ihnen ein weiterer Wachmann an, sodass er nun zwischen den beiden eingeschlossen war – es war das erste Mal seit Monaten, dass er seine Zelle verließ.
Erst als sie um eine Ecke bogen und der Hof vor ihnen lag, begriff er, was geschah.
Sein Herz begann so stark zu pochen, als wollte es ihm aus der Brust springen.
Jetzt sah er auch die Galgen mit den insgesamt drei Schlingen. Zwei Männer, ebenso nackt wie Hunyadi, die Hände auf dem Rücken gefesselt, standen jeweils hinter ihren Schlingen. Niemand stand hinter der dritten. Diese war für ihn bestimmt.
Er kannte die anderen nicht.
Warum müssen wir nackt sein?, fragte sich Hunyadi. Welch letzte Demütigung.
Sie hatten den Hof halb überquert. Kieselsteine bohrten sich ihm in die Fußsohlen.
Er dachte an Franziska. Was machte sie jetzt, in diesem Augenblick? Er kannte Geschichten von Menschen, die in dem Moment, in dem geliebte Angehörige verstarben, das Gefühl hatten, ein unsichtbares Band wäre gerissen. Was wird sie spüren?, dachte Hunyadi.
Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass die Angst, die ihn so lange im Griff gehabt hatte, sodass er gar nicht mehr wusste, wie sich das Leben ohne sie anfühlte, lediglich die Angst vor dem Sterben war und nicht die Angst vor dem Tod.
Sobald er das verstanden hatte, verlor auch die Angst vor dem Sterben ihren Schrecken und verflüchtigte sich in der reglosen Luft im Hof.
Krol drehte sich um, sah zu Hunyadi und wollte sich vergewissern, dass sein Gefangener keinen Schwächeanfall erlitt. Und der Wachmann, der in den vergangenen Monaten so viele in den Tod geführt hatte, musste erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass Hunyadi lächelte.
»Halt!«, rief eine Stimme.
Alle drei, die beiden Wachleute und Hunyadi, blieben abrupt stehen. Sie drehten sich alle gleichzeitig um und sahen den Lagerkommandanten in seiner maßgeschneiderten Uniform aus der Tür stürzen, die auch sie vor Kurzem passiert hatten.
»Was ist?«, fragte Krol.
»Bringt ihn zurück«, rief der Kommandant.
»Und die Befehle?«, brüllte Krol.
»Die sind geändert worden«, antwortete der Kommandant. »Oder willst du dich mit Rattenhuber in Berlin anlegen?«
Krol blinzelte, als würde er plötzlich von einem hellen Licht geblendet. Dann packte er den nackten Hunyadi am Arm und marschierte in Begleitung des zweiten Wachmanns, der ebenso verwirrt zu sein schien wie ihr Gefangener, mit ihm in den Arrestbau zurück.
Als die drei Männer in den Schatten der Zelle traten, hörten sie das schwere Aufklappen der Falltüren unter den Galgen.
»Was ist los?«, stammelte Hunyadi.
Krol schüttelte nur verwundert den Kopf.
»Was los ist?«, erklärte der Kommandant. »Dein Tod ist aufgeschoben worden.«
»Warum?«
»Du hast einen Freund ganz weit oben, Hunyadi. Ganz, ganz weit oben.«
»Hitler?«, entfuhr es Hunyadi.
Der Kommandant nickte.
»Aber er hat mich doch hierhergeschickt«, sagte Hunyadi. »Ich verlange eine Erklärung.« Noch im selben Moment wurde ihm klar, wie lächerlich er sich machte, wenn er, ein nacktes Häuflein Elend, meinte, hier Forderungen stellen zu müssen.
Der Kommandant warf Hunyadi nur seine stinkenden Klamotten vor die Füße. »Frag ihn doch selbst, wenn du ihn triffst.«