I n der Lubjanka stieg Kirow ins Kellergeschoss hinab, um sich dort mit dem Waffenmeister Lassarew zu beraten.

Lassarew gehörte zu den legendären Gestalten der Lubjanka. In seiner Kellerwerkstatt war er für die Pflege und Reparatur aller Waffen zuständig, die vom Moskauer NKWD ausgegeben wurden. Er war, von Felix Dserschinski noch persönlich ernannt, von Anfang an mit dabei gewesen. Dserschinski, der erste Leiter der Tscheka, hatte im beschlagnahmten Gebäude der Allgemeinen Russischen Versicherungsgesellschaft die Zentrale seiner Spezialkommission eingerichtet, und von da an diente das imposante Bauwerk als Verwaltungsgebäude, Gefängnis und Hinrichtungsort in einem. Die Tscheka hatte im Lauf der Zeit mehrmals ihren Namen gewechselt und war erst zur OGPU , dann zur GPU und schließlich zum NKWD geworden. Während dieser zermürbenden und oftmals blutigen Wandlungen, in deren Verlauf die Büros im Gebäude von zahlreichen Staatsdienern gesäubert, neu besetzt und abermals gesäubert wurden, hatte Lassarew immer treu die Stellung gehalten, so lange, bis von denen, die die gewaltige Maschinerie der Inneren Staatssicherheit ursprünglich in Gang gesetzt hatten, nur er allein übrig geblieben war. Was keineswegs am Zufall gelegen hatte oder an seiner Fähigkeit, die Minenfelder der politischen Säuberungen zu umgehen, sondern an der simplen Tatsache, dass ein Waffenschmied immer benötigt wurde – egal, wer in den Stockwerken über dem Kellergeschoss gerade für das Töten zuständig und wer zum Sterben ausersehen war. Einer musste schließlich dafür sorgen, dass die Waffen funktionierten.

Seine äußere Erscheinung allerdings entsprach kaum dem Bild, das man sich von jemandem machte, dem ein solch mythischer Ruf anhing. Er war klein, gebeugt, hatte pockennarbige und so blasse Wangen, dass man fast den Gerüchten Glauben schenken wollte, er würde niemals das Tageslicht erblicken, sondern sich ausschließlich wie ein Maulwurf durch geheime Gänge unter den Moskauer Straßen bewegen. Er trug einen hellbraunen Kittel, dessen ausgefranste Taschen unter dem Gewicht der Patronen, Schraubenzieher und Waffenteile tief nach unten hingen. Dieser Mantel war immer bis zum Kragen geschlossen, sodass sich darum ein weiteres Gerücht rankte: nämlich, dass er darunter nichts anhatte. Bestätigung erfuhr das anscheinend durch Lassarews nackte Beine, die unter dem knielangen Kittel herausragten. Daneben besaß er die Angewohnheit, die Füße beim Gehen kaum vom Boden zu heben, weshalb er in seiner Werkstatt vor sich hin schlurfte und schlitterte wie jemand, der zu einem Leben auf dem Eis verurteilt war. Er rasierte sich nur selten, sodass die Bartstoppel seinem Kinn das Gepräge eines Kaktus verliehen. Seine wässrig blauen Augen aber zeugten von einer Geduld mit einer Welt, die seine Leidenschaft für Waffen nicht verstand, und wer seine keuchende Reibeisenstimme jemals gehört hatte, würde sie nie mehr vergessen.

Sobald Lassarew Kirows glänzender Stiefel ansichtig wurde, griff er unter seine mit Waffenteilen, Ölkannen, Tüchern, Werg und Messingbürsten übersäte Werkbank und holte eine ungarische Femaru-M37 -Pistole in einem braunen Lederhalfter hervor. Die Waffe stammte von einem ungarischen, im Winter 1942 in Stalingrad gefallenen Panzeroffizier und war genau für solche Fälle an Lassarew geliefert worden. Lassarew hatte die Waffe gereinigt und das siebenschüssige Magazin mit frisch geölter 7 ,65 -mm-Munition bestückt.

Kirow betrachtete die Waffe, wobei sein Blick an der ungewöhnlichen geschwungenen Verlängerung des Magazins hängen blieb, an der der Schütze den kleinen Finger auflegt.

Lassarew hielt ihm die Femaru hin. Im grellen Licht der über ihnen angebrachten Glühbirne schimmerte das Metall bläulich. »Sie wird Ihnen nicht so elegant vorkommen wie Ihre gewohnte Tokarew«, erklärte er, »aber in ihrer Wirkung ist sie unter den Gegebenheiten, mit denen Sie es zu tun haben werden, ebenso tödlich. Wichtiger ist, man wird, falls man Sie durchsuchen sollte, keine andere Waffe erwarten. Allerdings wäre es angeraten, die Waffe überhaupt nicht einzusetzen, wenn das möglich wäre.«

Kirow löste seinen Offiziersgürtel mit der schweren Messingschnalle und dem aufgesetzten Sowjetstern, schob das Halfter mitsamt der Dienstpistole vom Gürtel und legte sie auf den Tisch. Dann ersetzte er sie durch die ungarische Pistole. »Wo muss ich unterschreiben?«

»Nicht nötig.« Lassarew winkte ab.

Kirow kniff die Augen zusammen. »Aber wir müssen immer unterschreiben, wenn wir Waffen in Empfang nehmen. Ich weiß doch, wie sehr Sie auf die Vorschriften pochen.«

Lassarew wirkte verlegen. »Ich bin von oben angerufen worden. Man sagte mir, es ist nicht nötig, dass Sie unterschreiben.«

»Wer hat angerufen?«

Lassarew ließ die Schultern kreisen, als hätte er einen Krampf im Nacken. »Jemand von oben«, wiederholte er leise.

»Warum ist die Unterschrift nicht nötig?«

Lassarew legte Kirow die Hand auf die Schulter. »Sie können ja unterschreiben, wenn Sie sie zurückbringen«, sagte er mit betrübter Miene. »Wie wär’s damit?«

Verwundert über diese Verletzung der Vorschriften ging Kirow zur Tür, blieb stehen und drehte sich noch einmal um. »Fast hätte ich es vergessen«, sagte er. »Was ist mit der Waffe für Pekkala?«

Lassarew lächelte. »Glauben Sie im Ernst, Sie können ihn dazu überreden, seinen Webley abzulegen?«

Kirow war sofort klar, dass das eine unmögliche Aufgabe wäre.

Auf dem Weg zu seiner Frau im Archiv machte er einen Zwischenstopp im zweiten Stock, wo er einen umfangreichen, doppelten Satz an Ausweispapieren abholte. Sie bestanden jeweils aus einem ungarischen Pass, einem sandfarbenen Büchlein mit der aufgeprägten ungarischen Krone und dem Staatswappen mit den Worten »Magyar Királyság« sowie einem Reisepass mit diversen Passierscheinen, Stempeln und handgeschriebenen Bestätigungen. Dann gab es Führerscheine, Lebensmittelkarten und Mitgliedsausweise der Faschistischen Partei in Ungarn. Kirow staunte über die Gewissenhaftigkeit, mit der die Ausweise gefertigt waren. Mindestens ein halbes Dutzend unterschiedliche Tinten musste bei den Unterschriften auf den blassgrünen Seiten benutzt worden sein, dazu waren die Büchlein so abgenutzt, dass sie sogar entsprechende Konturen aufwiesen, als wären sie in der Brusttasche eines Männerjacketts getragen worden. Sollten diese Dokumente jemals einem anderen gehört haben, so konnte Kirow nichts feststellen, was auf einen Austausch der Bilder hingewiesen hätte.

»Das nehmen Sie auch noch mit«, sagte der Angestellte und legte ihm einen Stapel Deutsche Reichsmark hin. »Geben Sie sie schnell aus. Bald sind sie das Papier nicht mehr wert, auf dem sie gedruckt sind.«

Kirow nahm den Geldscheinziegel an sich und wollte schon gehen.

Aber der Angestellte hielt ihn zurück. »Wir sind noch nicht fertig. Sie brauchen ja auch noch die richtige Kleidung.«

Kirow wurde durch das Büro in ein Hinterzimmer geführt, das voll war mit gebrauchten Kleidungsstücken. Hier wurde ihm von einem älteren Mitarbeiter, den er nie zuvor gesehen hatte, seine Garderobe ausgehändigt.

Der andere hatte ein Maßband um den Hals hängen, das er allerdings kein einziges Mal gebrauchte. Er kniff lediglich eines seiner wässrigen Augen zu, schätzte die Länge von Kirows Armen und Beinen ab sowie den zu Kirows Leidwesen recht geringen Brustumfang.

Während der Major die Arme von sich streckte, schlichtete der Mitarbeiter Hemden und Hosen und einen zerschlissenen Mantel zum Anprobieren auf.

»Ich habe neben meiner Uniform auch noch Sachen zu Hause«, beschwerte sich Kirow und rümpfte die Nase, als er fremden Schweißgeruch, den Geruch von Hunden und Zigaretten wahrnahm, der sich in der Kleidung festgesetzt hatte.

»Aber nicht solche«, antwortete der andere. »Sobald Sie in Berlin sind, würde man Sie als einen Russen erkennen.«

»Aber wie? Kleidung ist doch Kleidung, oder?«

»Nein.« Der Mitarbeiter schüttelte den Kopf. »Ich werde es Ihnen zeigen. Sehen Sie hier«, sagte er und hielt ihm die Kragen eines Hemdes hin, das laut Etikett von einem Budapester Schneider stammte. »Der Kragen ungarischer Hemden läuft spitzer zu als der von russischen, und die Ärmel sind anders angesetzt als bei deutschen Hemden. Sogar die Knöpfe sind anders angenäht, zwei parallele Stiche und nicht kreuzförmig, wie Sie es zum Beispiel bei englischen Hemden finden.« Mit dem Daumen hob er einen der kleinen Perlmuttknöpfe an, bis er im Licht schimmerte und die Stiche zu sehen waren. »Selbst wenn sich die Leute in Ihrer Umgebung dessen nicht bewusst sind, werden Sie trotzdem irgendwie spüren, dass etwas nicht stimmt. Diese Kleidungsstücke wurden sorgfältig aufbewahrt und stammen von Leuten, die vor dem Krieg nach Ungarn gereist sind.«

»Gibt es nichts Neueres?«, fragte Kirow. »Oder Sauberes, wenn wir schon dabei sind?«

Der Angestellte lachte. »Das gehört zur Verkleidung. Keiner in Berlin oder in Budapest hat noch neue Kleidung, schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Und es fehlt auch an Gelegenheiten, sie so oft zu reinigen, wie es nötig wäre. Glauben Sie mir, Major, es mag Ihnen nicht gefallen, wie Sie aussehen, aber wenn wir hier fertig sind, werden Sie dort, wo Sie hingehen, überhaupt nicht mehr auffallen.«

»Und Sie haben die entsprechende Garderobe auch für andere Länder?«

»Natürlich«, rief der Alte und deutete in den Raum. »Dort drüben ist England. Da Spanien, dort Frankreich, die Türkei. Egal, wohin Sie gehen, Major, meine Aufgabe ist es, Sie unsichtbar zu machen.«

»Inspektor Pekkala ist auch …«, begann Kirow.

Der Mann hielt die Hand hoch und brachte ihn zum Schweigen. »Sprechen Sie nicht von diesem Barbaren. Was er trägt, gehört weder zu Russland noch zu Deutschland noch zu irgendeinem anderen Land der Welt. Seinen Schneider sollte man erschießen. Und selbst wenn er sich bereit erklären würde, sich von mir für die Reise ausstatten zu lassen – was er nie tun würde –, wäre das ein hoffnungsloses Unterfangen. Pekkala passt nirgends rein. Nirgends! Und das liegt daran, wer er ist. Für einen wie ihn gibt es keine Tarnung.«

Schließlich traf Kirow im Archiv im dritten Stock ein, um seiner Frau die Neuigkeiten seiner Beförderung mitzuteilen.

Elisaweta war Mitte zwanzig und einen Kopf kleiner als Kirow. Sie hatte ein rundes Gesicht mit einigen Sommersprossen, ein kleines Kinn und dunkle, neugierige Augen.

Nur wenige Außenstehende wurden jemals durch die mit einem Eisengitter versehene Tür gelassen, die den Eingang zum Archiv markierte. Kirow aber kam in den Genuss dieses Privilegs. Wegen Elisaweta hatte er Zugang zu dem eingeschworenen Zirkel.

Sie zogen sich in einen kleinen Raum zurück, in dem früher einmal das Reinigungspersonal seine Putzmittel aufbewahrt hatte. Die drei Frauen, die das Archiv betrieben, angeführt von der einschüchternden Feldwebelin Gatkina, hatten diese Kammer in einen Rückzugsort verwandelt, in dem sie ungestört rauchen und ihren Tee trinken konnten.

Elisaweta, bekleidet mit einem dunklen Rock, einer Gymnastiorka mit eng anliegendem Kragen und einem marineblauen Barett, saß auf einem an die Wand gestellten Aktenschrank.

Kirow schritt vor ihr auf und ab und erzählte ihr in aller Lebhaftigkeit von seiner Beförderung. Er erwartete, dass Elisaweta jeden Moment von ihrer provisorischen Sitzgelegenheit aufspringen und ihn umarmen würde.

Aber das geschah nicht.

Alles, was sie zunächst sagte, war: »Stalin ist kein Dummkopf.«

»Seltsam«, bemerkte Kirow. »Das hat mir der Inspektor auch schon gesagt.«

»Stalin befördert dich nicht«, sagte sie, beugte sich vor und senkte ihre Stimme, wie es die Leute oft taten, wenn sie von Stalin sprachen. »Eigentlich hätte er dich auch gleich zum Tod verurteilen können.«

»Was erzählst du da?«, brauste Kirow auf. »Ich bin doch befördert worden.«

»Um was zu tun? Pekkala Befehle zu erteilen? Das ist nicht möglich. Sobald ihr die Grenze überquert und auf feindlichem Gebiet seid, wird der Finne das tun, was er immer schon getan hat.«

»Und das wäre?«

»Er tut, was er will. Und wenn er beschließt, aus der Welt zu verschwinden wie ein Geist im Märchen, dann wirst du dafür verantwortlich gemacht werden.« Sie zog die Augenbrauen hoch und wartete auf die Antwort, die sie beide schon kannten.

»Das wird er nicht tun«, sagte Kirow. »Er weiß, welche Probleme er mir damit macht.«

»Natürlich weiß er das. Und genau darauf setzt Stalin. Du bist seine Versicherungspolice gegen Pekkalas Verschwinden, aber glaube nicht eine Sekunde daran, dass du den Einsatz leitest.«

»Na, dann mach dich vielleicht auf eine Überraschung gefasst«, antwortete Kirow empört.

»Vielleicht. Es gibt da aber noch etwas, was ich nicht verstehe.«

»Was?«

»Auch wenn ihr diese Frau findet, meint Pekkala wirklich, sie hätten irgendeine Chance, zusammen zurückzukehren?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er ehrlich. »Ich weiß nur, dass er sie immer noch liebt.«

»Und woher weißt du das? Hat er es dir erzählt?«

»Nicht direkt.«

»Woher willst du es dann wissen?«

»Pekkala hat ihr früher Monat für Monat Geld geschickt«, erklärte Kirow. »Er wusste also genau, wo in Paris sie gelebt hat, jedenfalls bis zum Kriegsausbruch. Danach hat er sie aus den Augen verloren.«

»Sie hatten bis zu diesem Zeitpunkt Kontakt?«

»Nein. Er hat ihr nie gesagt, woher das Geld wirklich kommt.«

»Na ja, was meint sie denn, woher das Geld kam?«

»Es wurde von einer Moskauer Bank überwiesen, von einem Konto auf den Namen Rada Obolenskaja, der Rektorin der Schule, an der Lilja vor der Revolution gearbeitet hat. Laut Pekkala hatte die Rektorin Lilja sehr ins Herz geschlossen, und so gebe es keinen Grund, daran zu zweifeln, dass das Geld von ihr stammt.«

»Aber warum um alles in der Welt wollte er es ihr nicht sagen?«, rief Elisaweta ungläubig aus.

»Weil Pekkala bis zum heutigen Tag fälschlicherweise davon ausging, dass Lilja verheiratet wäre und eine Familie hätte. Erst heute hat Stalin ihn darüber aufgeklärt. Pekkala wollte Liljas neues Leben, das sie sich vermeintlich aufgebaut hatte, nicht zerstören. Aber seine Liebe zu ihr stand nie infrage, und ich denke, sie wird auch nie infrage stehen, egal, was in Berlin passiert.«

»Wenn er meint, er kann einfach dort weitermachen, wo sie vor ihrer Trennung waren, dann ist er ein Träumer«, sagte Elisaweta.

»Es gibt Schlimmeres«, wich Kirow aus. »Und vielleicht will er ihr auch nur das Leben retten. Das würde ich jedenfalls für dich tun.«

Erst jetzt erhob sie sich und umarmte ihn. »Ich will, dass du mir was versprichst«, sagte sie.

»Was?«

»Wenn es heißen sollte, du oder Pekkala«, sagte sie mit dem Gesicht an seine gebügelte Uniform gedrückt, »dann versprich mir, dass du die richtige Entscheidung triffst.«

»Gut«, antwortete Kirow leise. »Das werde ich.«