A ls das Geld zum ersten Mal auf ihrem Konto eintraf, damals im Sommer 1933 , hielt Lilja Simonowa es für einen Irrtum. Nachdem sie ihren Bankauszug per Post zugestellt bekam und sah, dass beträchtlich mehr auf ihrem Konto war, als dort eigentlich sein sollte, ging sie persönlich zur Bank und sprach mit dem Filialleiter.
»Das hat schon alles seine Richtigkeit«, versicherte er ihr. »Das Geld ist aus Moskau angewiesen worden.«
»Aber von wem?«
»Einer Rada Igorewna Obolenskaja«, erwiderte der Leiter. »Sagt der Namen Ihnen was?«
»Ja, natürlich«, antwortete Lilja, die immer noch verwirrt war. »Ja, aber …«
»So weit ich hier ersehen kann«, unterbrach der Leiter sie, »werden weitere Beträge monatlich eintreffen.«
»Und wie lange soll das so gehen?«
Der Leiter zuckte mit den Schultern. »Es ist kein Endtermin gesetzt.«
»Und gibt es dazu eine Mitteilung von Rada Igorewna?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Aber was soll ich jetzt damit tun?«, fragte sich Lilja laut.
»Ich werde Ihnen sagen, was Sie damit tun sollen. Nehmen Sie das Geld. Nehmen Sie es und werden Sie glücklich.«
Im nächsten Monat traf, wie vom Filialleiter angekündigt, die nächste Anweisung aus Moskau ein. Und auch weiterhin, ohne Ausnahme, die nächsten acht Jahre.
Lilja Simonowa versuchte den Kontakt mit ihrer ehemaligen Vorgesetzten herzustellen. Sie hatte keine Ahnung, wo die Schulrektorin leben könnte, so schrieb sie kurzerhand an die alte Adresse der Schule und hoffte, sie möge noch dort sein oder jemand würde sich an sie erinnern und den Brief vielleicht weiterleiten. Aber sie erhielt keine Antwort, und nach einigen weiteren Versuchen gab sie es auf.
1937 , im Café Dimitri, einem Lokal, wo sich die Exilrussen oft zum Tee trafen, begegnete Lilja eines Tages zufällig einer Frau, die sie aus Petrograd kannte. Sie hieß Olga Komarowa, und ihre Kinder besuchten die Schule, an der Lilja unterrichtete. Als Lilja von Rada Obolenskajas Großzügigkeit und dem überwiesenen Geld erzählte, huschte ein seltsamer Ausdruck über das Gesicht der anderen Frau.
»Aber das ist nicht möglich«, erwiderte Olga Komarowa darauf. »Die Schule ist doch niedergebrannt worden, gleich zu Beginn der Revolution. Das ist wahrscheinlich kaum einen Tag nach Ihrer Abreise geschehen.«
»Gut«, erwiderte Lilja, »das erklärt, warum niemand die Briefe bekam, die ich geschrieben habe. Aber Rada war eine wohlhabende Frau. Ich glaube nicht, dass sie die Schule und ihre Arbeit braucht, um finanziell über die Runden zu kommen. Selbst ohne die Schule dürfte sie eine Menge zur Seite gelegt haben.«
Olga Komarowa legte ihre Hand auf die von Lilja. »Nein«, sagte sie leise, »Sie verstehen nicht. Die arme Frau hat sich in der Schule aufgehalten, als die Rotgardisten alles niedergebrannt haben. Sie haben ihr gesagt, sie soll verschwinden, aber sie hat sich geweigert, sie haben das Schulhaus trotzdem in Brand gesteckt, obwohl sie noch drin war. Lilja, sie ist seit vielen Jahren tot.«
»Sie müssen sich irren«, beharrte Lilja.
»Nein. Ich habe selbst gesehen, wie sie ihren Leichnam aus den Trümmern gezogen haben. Sie hielt noch ihre Kamera umklammert. Neben Ihnen und der Schule war sie das Einzige auf der Welt, das ihr wichtig war.«
Am nächsten Tag suchte Lilja Simonowa erneut den Filialleiter auf und erzählte ihm, was sie erfahren hatte.
»Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung«, sagte er. »Sie muss es Ihnen in ihrem Testament vermacht haben. Der Testamentsvollstrecker muss dafür gesorgt haben, dass die Zahlungen an Sie getätigt werden.«
Lilja nahm ihn beim Wort, doch trotz dieser scheinbar einleuchtenden Erklärung konnte sie ihren Argwohn nie ganz ablegen. Dann, im Juni 1941 , als das Deutsche Reich die Sowjetunion überfiel, wurde jeglicher Bankverkehr zwischen Moskau und dem von den Deutschen besetzten Paris eingestellt, und der Geldfluss hörte so abrupt auf, wie er vor langer Zeit begonnen hatte.