W ährend sich Kirow und Pekkala auf den Weg nach Berlin machten, war Kriminalinspektor Leopold Hunyadi in der Stadt eingetroffen.
Nun stand er vor Adolf Hitler.
Das Treffen fand in dem von Geröll übersäten Garten der Reichskanzlei statt, wo Hitler mindestens einmal am Tag seine Schäferhündin Blondi ausführte. Er hatte die sonst anwesende Wachmannschaft fortgeschickt, damit die Begegnung mit Hunyadi so geheim wie möglich blieb.
»Hunyadi«, begann Hitler und zog den Namen wie ein Knurren in die Länge. »Womit habe ich das verdient?«
Hunyadi hatte nicht die geringste Ahnung, wovon Hitler redete. Wenn er aber auch nur danach fragte, dachte er sich, fand er sich möglicherweise sofort wieder auf dem Weg zurück nach Flossenbürg. Deshalb hielt er vorerst den Mund.
Hitler ging einen Weg entlang, der einst von Blumen gesäumt gewesen war, mittlerweile aber einem Bohlenweg durch ein von Kratern zerfurchtes Schlammfeld glich. Der Hund lief voraus und zerrte an der Leine.
»Da ist ein Spion«, fuhr Hitler fort.
Hunyadi ließ den Blick über die geborstenen Scheiben der Fenster schweifen. »Hier?«, fragte er. »Jetzt?«
Hitler schüttelte den Kopf, dann deutete er mit dem Kinn zum Boden. »Unten. Im Bunker.«
»Woher wissen Sie das?«
»Informationen sind nach draußen gelangt. Die Alliierten verbreiten sie im Radio. Ganz ungeniert. Als wollten sie mich wegen meiner Unwissenheit verspotten. Das kann ich unter keinen Umständen dulden. Unter keinen Umständen. Deswegen habe ich Sie kommen lassen.«
»Ich soll den Spion ausfindig machen?«
»Richtig.«
»Und was ist mit dem Reichssicherheitsdienst?«
Hitler atmete hörbar aus. »Hätten Rattenhuber und seine Leute ihre Arbeit getan, so wie es sich gehört, würden Sie jetzt nicht vor mir stehen.«
»Nein«, antwortete Hunyadi. »Dann wäre ich tot.«
Hitler sah ihn an, dann zuckte er mit den Schultern. »Keiner entgeht seinem Tod, Hunyadi.«
Hunyadi räusperte sich. »Wenn ich fragen darf: Warum ich? Ich verstehe nicht, wie Sie mir noch Vertrauen entgegenbringen können, nachdem Sie meine Hinrichtung befohlen haben wegen angeblicher Verbrechen gegen den Staat.«
»Ach«, seufzte Hitler und legte Hunyadi kurz die Hand auf die Schulter. »Die Liebe hat Sie zu Ihrem Verbrechen getrieben, eine fehlgeleitete Liebe freilich, aber unter den gegebenen Umständen verständlich. Wegen dieser Liebe weiß ich, dass ich Ihnen diese Aufgabe anvertrauen kann.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Hunyadi.
»Auf meine Bitte hin wurde Franziska von Freunden innerhalb der spanischen Behörden, die mir loyal verbunden sind, in Gewahrsam genommen.«
Hunyadi schnürte sich die Kehle zusammen. »Was wird ihr vorgeworfen?«, brachte er mühsam heraus.
»Meinen Freunden ist sicherlich etwas eingefallen.«
»Warum lassen Sie mich nicht einfach nach Flossenbürg zurückbringen und mich hinrichten? Warum müssen Sie mir das antun?«
»Weil, mein alter Freund, ich nicht mehr weiß, wem ich noch trauen kann.« Hitler bohrte die Ferse in den sandigen Boden, als wollte er ein Feuer austreten. »Da unten in den Eingeweiden des Reichs. Wenn ich meinen eigenen Reichssicherheitsdienst damit beauftrage, wer sagt mir dann, dass ich damit nicht die Leute mit Ermittlungen betraue, gegen die eigentlich ermittelt gehört? Nein, ich brauche jemanden von außen. Jemanden, der mir nicht ins Gesicht lächelt, während er mir gleichzeitig den Dolch in den Rücken stößt. Verstehen Sie, Hunyadi? Ihr Hass ist es, der mich überzeugt, den richtigen Mann für diese Aufgabe gefunden zu haben, und die Liebe zu Ihrer Frau garantiert mir Ihre Loyalität.« Er starrte Hunyadi an. »Wollen Sie mich allen Ernstes abweisen?«
»Unter den Umständen weiß ich nicht, wie das möglich wäre.«
Hitler nickte zufrieden. »Dann ist es abgemacht.« Er griff in seine Uniform und zog einen dicken Umschlag heraus, den er Hunyadi überreichte. »Hier ist alles, was Sie über den Fall wissen müssen.«
»Wenn es stimmt, was Sie sagen, werde ich möglicherweise sehr hochstehende Personen vernehmen müssen.«
»Ja.«
»Sie werden die Einmischung nicht gutheißen.«
»Nein, aber Sie haben mein Wort, sie werden sie über sich ergehen lassen. Im Umschlag finden Sie eine Telefonnummer, die verbindet Sie mit der Vermittlung im Bunker. Sollte irgendjemand versuchen, Sie in Ihrer Arbeit zu behindern, müssen Sie nur anrufen, und ich werde persönlich alles Notwendige in die Wege leiten.«
Sie hatten eine Stelle erreicht, an der es nicht mehr weiterging. Der Weg wurde von einem gewaltigen weggesprengten Stück Mauerwerk blockiert, der Boden war von Bombenkratern aufgerissen.
Vom ersten Moment an, als er Hitler erblickte, hatte Hunyadi nur einen Gedanken gehabt: ihn zu töten – mit einem Stein, mit den bloßen Händen, mit den Zähnen – und anschließend zwischen den Ruinen zu verschwinden. Aber was Hitler über Franziska gesagt hatte, lähmte ihn. Er zweifelte nicht daran, dass immer noch einige bereit waren, den Wünschen des Führers zu entsprechen, obwohl die alliierten Armeen auf Berlin vorrückten und die Wehrmacht nur noch ein letztes Aufgebot aus alten Männern und Halbwüchsigen zusammenbrachte. Wenn die, die bis zum Schluss zum Führer standen, erfuhren, was er getan hatte, wäre Franziska in weniger als einer Stunde tot.
Er wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen, zurück zu dem Moment, als er aus dem Bunker gekommen war und den jungen Gefreiten im Stacheldrahtverhau gesehen hatte. Er wünschte, er könnte diesem Mann den Rücken kehren, zurück in die schlammige Erde hinabsteigen und ihn von der eigenen Artillerie zerfetzen lassen.
Und allein dass ihm dieser Gedanke gekommen war, ihm, der sich sonst an Fakten hielt, nicht an Träume, bewies nur, wie machtlos er jetzt war.
Hitler wusste es ebenfalls. Warum sonst hätte er es gewagt, sich allein mit Hunyadi zu treffen ohne die übliche Eskorte bewaffneter Wachmänner?
In einem letzten Versuch, vernünftig mit ihm zu reden, fasste Hunyadi Hitler am Arm.
Hitler fuhr zusammen. Nur wenige wagten es, ihn zu berühren.
Der Hund knurrte und fletschte die Zähne.
Hunyadi, der seinen Fehler bemerkte, zog schnell die Hand zurück. »Hören Sie. All die Jahre über waren wir durch die Schuld verbunden, in der Sie bei mir zu stehen meinen. Erlauben Sie mir, Sie jetzt davon zu entbinden. Lassen Sie uns einfach gehen, mich und meine Frau, und wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, dann lassen Sie wenigstens sie frei. Drohen Sie mir nicht damit. Wir sind vielleicht nicht mehr durch Freundschaft verbunden, aber zumindest gab es eine Zeit, in der wir keine Feinde waren. Ich bitte Sie, erinnern Sie sich daran.«
Hitler starrte ihn in höchster Neugier an.
Einen kurzen Augenblick war Hunyadi überzeugt, dass seinem Wunsch stattgegeben würde.
»Es steht völlig außer Frage, die Schuld, in der ich bei Ihnen stehe, zu begleichen«, erwiderte Hitler. »Ich werde entscheiden, wann wir quitt sind, und ich werde entscheiden, auf welche Weise das geschieht.« Er sah hinauf in den Himmel. »Es wird bald Nacht. Zeit für mich, nach unten zu gehen. Ich lasse Sie hier, Hunyadi. Sie finden selbst nach Hause.« Mit diesen Worten kehrte Hitler um und ging zurück zum Eingang der Reichskanzlei. Der Hund folgte dicht hinter ihm.
Als sich die Sonne hinter den Ruinen senkte und sich das diffuse Abendlicht mit gelbem Staub vermischte, machte sich Hunyadi auf den langen Weg zu seiner Wohnung in der Pradelstraße. Keiner schien ihn wahrzunehmen, als er durch die Straßen schlurfte. Er sah aus wie einer der unzähligen Flüchtlinge, die zu Tausenden in die Stadt gekommen waren.
Obwohl er seit Wochen nicht mehr zu Hause gewesen war, war die Wohnungstür nach wie vor abgesperrt, drinnen war alles unberührt.
Die Luft war stickig. Trotz der Kälte öffnete er die Fenster, wusch sich, zog sich um und setzte sich an seinen Schreibtisch, machte das Licht an und las den Bericht, den Hitler ihm gegeben hatte.
Als er damit fertig war, lehnte er sich zurück und verschränkte die Hände im Nacken. Lange starrte er zum offenen Fenster und sah zu, wie der nächtliche Wind die Vorhänge hin und her wehen ließ. Es musste einen Ausweg geben, dachte er und suchte nach einer Lösung, fand aber keine. Hunyadi saß in der Falle. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die ihm übertragene Aufgabe zu erledigen.
Am nächsten Morgen, nachdem er ein wenig gedöst hatte, steckte er den Umschlag mit den Dokumenten in die Innentasche seines Jacketts, atmete tief durch und verließ das Zimmer.
Er brauchte nicht lange, um von seiner Wohnung zur Polizeiwache Pankow zu kommen, wo er bis zu seiner Verhaftung seine gesamte Dienstzeit verbracht hatte.
Der diensthabende Wachtmeister war überrascht, ihn zu sehen. »Kriminalinspektor Hunyadi, ich dachte …« Er zögerte. »Na ja, ich dachte, Sie wären …«
»Ich war«, erwiderte Hunyadi.
Der Wachtmeister nickte heftig. »Und was kann ich für Sie tun, Herr Kriminalinspektor?«
»Ich brauche mein altes Büro.«
»Aber das dürfte nicht verfügbar sein«, stammelte der Mann. »Es gehört jetzt Kriminalinspektor Hossbach.«
»Hossbach«, murmelte Hunyadi. Er sah den kleinen Mann mit dem rosigen Gesicht vor sich, dessen Lächeln immer eine Spur zu breit wirkte. »Und wie lange hat er gewartet«, fragte Hunyadi, »bis er in mein Büro gezogen ist?«
Das taktvolle Schweigen des Wachtmeisters war Antwort genug.
Hunyadi stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf und ging über den ausgetretenen Teppichboden zu seinem Büro.
Er machte sich nicht die Mühe, anzuklopfen.
Hossbach hatte die Beine auf dem Schreibtisch liegen und las eine Monatszeitschrift mit dem Namen Jugend, die sich selbst als Bildjournal zur »Verherrlichung des menschlichen Körpers und Geistes« bezeichnete, im Grund aber nichts anderes als Pornografie war.
Sobald Hunyadi die Tür öffnete, warf Hossbach die Zeitschrift über die Schulter nach hinten und schwang die Füße vom Tisch. Er griff zum Telefonhörer und versuchte den Eindruck zu vermitteln, mitten in einem wichtigen Gespräch begriffen zu sein. »Verdammt«, schrie er. »Hat Ihnen keiner beigebracht, dass man anklopft?« Dann stutzte er, den schweren schwarzen Bakelithörer reglos in der Hand. »Sie!«, entfuhr es ihm.
»Hossbach.« Kurz hatte es den Anschein, als wollte Hunyadi mehr sagen, aber dann ließ er den Namen nur im Raum schweben wie den Ton einer sacht angeschlagenen Glocke.
»Was machen Sie hier?«, fragte Hossbach und legte den Hörer auf. »Ich dachte, man hätte Sie weggebracht.«
»Ich bin freigekommen.«
»Also«, sagte Hossbach und kniff verwirrt die Augen zusammen, »sind Sie wieder im Dienst?«
»Nicht ganz. Ich erledige nur einen Auftrag für einen alten Bekannten.«
»Und Sie wollen meine Hilfe?«
»Ich will Sie aus meinem Büro haben.«
Jetzt begann sich das unangenehme Lächeln über Hossbachs ganzes Gesicht zu erstrecken. »Nun ja, Hunyadi, ich bin mir nicht sicher, ob das möglich ist.«
Hunyadi zog den Umschlag aus seinem Mantel und durchsuchte den Inhalt.
»Was machen Sie da?«, fragte Hossbach.
»Es muss hier irgendwo sein.«
»Ich will verdammt sein, wenn ich dieses Büro wieder hergebe«, zischte Hossbach immer noch mit diesem Lächeln im Gesicht.
»Richtig, genau das sind Sie dann«, erwiderte Hunyadi. »Ah, hier haben wir es ja.« Er zog eine Visitenkarte mit den zu einem kunstvollen Monogramm verknüpften Initialen AH heraus. Darunter war mit schwarzer Tinte eine Telefonnummer geschrieben. Hunyadi legte die Karte auf den Tisch und schob sie mit einem Finger Hossbach hin. Dann griff er zum Hörer und hielt ihn dem Polizisten hin. »Rufen Sie an«, sagte er. »Ich warte so lange draußen.«
Hunyadi trat hinaus in den Gang, schloss die Tür hinter sich und atmete den vertrauten Geruch der Dienststelle ein: den kalten Zigarettenrauch, das Haarwasser, den Schweiß, die scharfe Hektografietinte, die einem Tränen in die Augen trieb, sowie den stundenlang vor sich hin kochenden Kaffee, auch wenn Hunyadi davon ausging, dass hier schon lange kein richtiger Bohnenkaffee mehr getrunken wurde. Die Luft war erfüllt vom Klappern der Schreibmaschinen und den Stimmen von Männern, die zu viel rauchten. Niemand war eindeutig zu verstehen, weshalb alles zu einem heiseren Stimmengewirr verschwamm, dessen Vertrautheit Hunyadi beruhigend fand.
Nach wenigen Minuten ging die Tür auf, und Hossbach kam in den Gang. Im Arm hatte er einen Topf mit einer kleinen Orchidee, sein Gesicht war aschfahl. Wortlos ging er an Hunyadi vorbei. Die Orchidee wippte über seiner Schulter hin und her, als wollte sie Hunyadi zum Abschied zuwinken.