A m Abend des 12 . April 1945 wurden Kirow, Pekkala und ihr Führer an die unbequemen Metallsitze im ungeheizten Laderaum einer Ju 52 geschnallt.
Pekkala betrachtete die gebogenen Streben an der nackten Wellblechbeplankung, die mit einem Mal den Eindruck erweckten, als wäre er von einem Wal verschluckt worden. Und plötzlich wusste er nicht mehr, ob sich die Geschichte von Jonas wirklich ereignet hatte oder irgendwann von einem seit Urzeiten toten Heiligen erfunden worden war, um seinen Zuhörern eine Pekkala nicht mehr geläufige höhere Wahrheit nahezubringen.
Die Maschine war zwei Jahre zuvor den russischen Truppen bei der Einnahme eines Flugfelds in der Nähe von Orel in die Hände gefallen. Seitdem wurde sie für mehrere Einsätze verwendet, bei denen von der Wehrmacht eingekesselte Soldaten der Roten Armee mit Ersatzteilen versorgt wurden.
Bei diesem Einsatz aber würde sie Lebendfracht transportieren.
Neben Pekkala saß Kirow. Der Major überprüfte zum fünften Mal seinen Fallschirm. Kirow schwirrten noch die Worte des Ausbilders durch den Kopf, der sie am Flugplatz empfangen und ihnen erläutert hatte, wie sie aus der Maschine abspringen mussten. Und dann hatte er noch angemerkt, falls sich ihr Schirm nicht öffnen sollte, würden sie, egal, ob sie nun aus zweihundert oder aus zweitausend Metern Höhe absprangen, mit einer Fallgeschwindigkeit von etwa hundertachtzig Stundenkilometern auf den Boden aufschlagen und sich beim Aufprall sämtliche Knochen im Leib brechen, sogar die ganz kleinen in den Ohren. Mit diesen sehr nüchtern vorgetragenen Informationen hatte er sie lediglich beruhigen wollen, schließlich wäre ja alles in einer Sekunde vorbei und sie hätten überhaupt keine Zeit mehr, noch irgendwelche Schmerzen zu spüren.
Kirow allerdings fiel es schwer, das so zu sehen. Als er die unterschiedlichen Gurte und Schnallen betrachtete, wurde ihm klar, dass er überhaupt nicht wusste, ob der Fallschirm richtig zusammengelegt war, außerdem hatte er Angst, irgendwas anzufassen, weil er auf keinen Fall etwas kaputt machen oder irgendetwas Wichtiges verstellen wollte, damit er nicht als ein Haufen Gelatine endete.
Er warf Pekkala, den es gar nicht zu stören schien, dass sie sich bald ins Nichts stürzen sollten, einen bösen Blick zu. Nach Pekkalas Miene zu schließen, schien er sich geradezu darauf zu freuen.
Mit murmelnden Flüchen, die, wie Kirow wusste, im Lärm der Junkers-Triebwerke keiner hören würde, machte sich Kirow ein weiteres Mal daran, seine Ausrüstung zu überprüfen.
Ihnen gegenüber saß ihr Führer, ein mürrisch dreinblickender Mann mit deutschem Akzent, der sich ihnen als Oberst Luther Strohmeyer vorgestellt hatte.
Zwei Jahre zuvor hatte Strohmeyer noch als Untersturmführer eine stark geschrumpfte Panzergrenadierkompanie der SS -Panzerdivision »Das Reich« befehligt. In der Schlacht, in der auch ihr gegenwärtiges Transportmittel erobert wurde, hatte Strohmeyer den Befehl gehabt, die Stadt Fatesch frontal anzugreifen, ohne vorherigen Artilleriebeschuss, was einem Selbstmordkommando gleichgekommen wäre, da sie dazu eine weite offene Fläche überqueren mussten. In der Annahme, es sei irgendwo in der Befehlskette zu einem Fehler gekommen, nahm Strohmeyer die Sache selbst in die Hand und forderte Mörserfeuer auf Fatesch an. Die überraschten und waffentechnisch unterlegenen sowjetischen Verteidiger ergriffen sofort die Flucht, sodass Strohmeyer mit seinen Männern die Stadt ohne Verluste einnehmen konnte.
Dafür erwartete sich Strohmeyer mindestens das Eiserne Kreuz Erster Klasse, vielleicht sogar ein Ritterkreuz, das er sich um den Hals legen könnte.
Aber das geschah nicht.
Es stellte sich nämlich heraus, dass Strohmeyers Kompanie lediglich zur Ablenkung für einen sehr viel größeren Vorstoß weiter im Norden vorgesehen war. Er und seine Männer sollten geopfert werden. Keiner hatte erwartet, dass sie überleben würden. Als Ergebnis der erfolgreichen Einnahme von Fatesch wurde Strohmeyer beschuldigt, den ihm gegebenen Befehl nicht ordnungsgemäß ausgeführt zu haben. Er hatte zu diesem Zeitpunkt immer noch keine Ahnung, was das im Einzelnen zu bedeuten hatte, bis er zum SS -Fallschirmjäger-Bataillon 500 überstellt wurde, einem sogenannten Bewährungsbataillon. In ihm wurden straffällig gewordene SS -Soldaten auf Einsätze geschickt, bei denen von vornherein mit enormen Verlusten zu rechnen war.
Im Mai 1944 sollte das Bataillon den kommunistischen Partisanenführer Tito in seinem abgelegenen Bergversteck Drvar im westlichen Bosnien stellen. Der Einsatz schlug fehl, mehr als achthundert der insgesamt tausend eingesetzten Männer wurden getötet oder gerieten in Gefangenschaft – weil die Kommunisten von der bevorstehenden Operation unterrichtet wurden.
Der Mann, der ihnen den Tipp gegeben hatte, war kein anderer als Luther Strohmeyer. Über einen Informanten im Lager, in dem das Bataillon die Sprungausbildung absolvierte, ließ er ihnen eine Botschaft zukommen. Verbittert über die Behandlung, die ihm zuteilgeworden war, hatte sich seine fanatische Begeisterung für den Faschismus nahtlos in eine für den Kommunismus gewandelt.
Nur selten wurde er in den folgenden Monaten von Gewissensbissen geplagt. Die Bilder von den Männern, für deren Tod er verantwortlich war, blitzten hin und wieder auf und kamen aus den dunklen Winkeln seines Bewusstseins, und dann warf er den Kopf hin und her, so, als würde ihm jemand ein brennendes Holzscheit zu nah ans Gesicht halten.
Sobald er bei der Landung bosnischen Boden betreten hatte, war er desertiert, hatte sich zu den Partisanen durchgeschlagen und war anschließend über Umwege nach Moskau gebracht worden, wo man ihn als Helden willkommen hieß, der Tito das Leben gerettet hatte.
Seitdem arbeitete er für den sowjetischen Geheimdienst und hatte an mehreren Einsätzen im Deutschen Reich teilgenommen, bei denen er jedes Mal per Fallschirm abspringen musste. Dabei hatte er nicht nur gelernt, wie man sich in zweihundertfünfzig Metern Höhe aus einem Flugzeug wirft, sondern auch, dass er nie Angst hatte, wenn die Zeit zum Absprung gekommen war. Strohmeyer wusste nicht, woher diese Furchtlosigkeit rührte. Denn eigentlich hätte er doch Angst haben müssen. Bevor er an Bord ging und auch später, wenn er sicher gelandet war, kamen die Albträume über ihn wie Starenschwärme, die den gesamten Himmel verdunkelten. Aber sobald das Flugzeug abgehoben hatte, wurde er erfüllt von einer unendlichen Ruhe, und warum und wohin sich seine Ängste verflüchtigt hatten, wusste Strohmeyer nicht, und es kümmerte ihn auch nicht.
Dieser Einsatz schien anders zu sein als die vorherigen. Strohmeyer, in Berlin geboren, hatte sich freiwillig gemeldet, um die beiden Russen in die Stadt zu lotsen und sie sowie die Person, zu deren Rettung sie kamen, wieder fortzubringen. Vom Einsatz selbst wusste er nichts, er hatte keine Ahnung, wer die Männer waren, die hier vor ihm saßen, oder die Person, die sie rausholen sollten. Er kannte lediglich die Adresse des sicheren Hauses in der Heiligenberger Straße im Berliner Osten sowie den Zeitpunkt ihres Treffens, mittags in drei Tagen. Die Männer, die er begleitete, wussten zwar von dem Datum, die Adresse des sicheren Hauses aber kannte nur er. Swift, der britische Diplomat in seinem Tweetjackett, der ihn in die Aufgabe eingewiesen hatte, hatte sie ihm mitgeteilt. Bei Operationen wie dieser gehörte es zu den üblichen Vorsichtsmaßnahmen, Informationen aufzuteilen, sodass keiner der Beteiligten alles wusste. Sollte etwas schiefgehen und einer gefangen genommen werden, würde dadurch nicht die gesamte Operation gefährdet sein.
Die Befehle, die man ihm diesmal gegeben hatte, unterschieden sich aber in einem wichtigen Punkt von den früheren. Auf dem Weg zum Flugplatz hatte ihn der zuständige NKWD -Offizier angewiesen, die beiden Männer, die er nach Berlin brachte, zu erschießen, sollten sie vor Ort einen gewissen Widerwillen zeigen, zu den sowjetischen Linien zurückzukehren. Was genau er dabei unter »Widerwillen« verstand, hatte der Offizier nicht weiter ausgeführt. Strohmeyer hatte den Eindruck, dass es dem Kreml lieber wäre, wenn die beiden Männer nicht überlebten, obwohl sie für den Einsatz ganz offensichtlich unumgänglich waren. Daneben hatte der NKWD -Offizier klargestellt, dass der Person, die sie aus der Stadt herausholten, unter keinen Umständen etwas zustoßen dürfe. Strohmeyer musste nicht erst nachfragen, um zu wissen, dass sein eigenes Überleben von dieser Bedingung abhing.
Es war eiskalt in der Maschine. Neben der Kleidung, die sie in der Stadt tragen würden, waren ihnen nur braune Baumwolloveralls ausgehändigt worden, über die das schwere Fallschirmgeschirr geschnallt wurde. Eingelullt vom Dröhnen der Motoren und der kalten Luft, schien jeder in einen traumartigen Stupor versunken zu sein.
Nach über sieben Stunden in der Luft und einem Zwischenstopp zum Auftanken schreckten sie hoch, mit einem Mal prasselte es lautstark gegen den Rumpf, fast gleichzeitig ertönten Windgeräusche und ein hoher Pfeifton.
Die Junkers-Motoren heulten auf, als der Pilot Gas gab.
Pekkala wurde von einem unsichtbaren Gewicht niedergedrückt, als die Maschine zu steigen begann.
Kirow sah zu dem Fremden, der ihr Führer war, und hoffte auf eine Erklärung.
Strohmeyer deutete auf eine Stelle im Rumpf direkt über Kirows Kopf.
Kirow drehte sich um. Um ihn herum pfiff der Wind durch gut ein Dutzend Löcher im Wellblech.
Kurz darauf ging die Tür zum Cockpit auf, und ein Mann in einer mit Schaffell gefütterten Fliegermontur erschien. »Wir haben gerade die sowjetischen Linien überquert«, schrie er ihnen zu. »Wir wurden von unseren eigenen Leuten beschossen, aber das hat uns nicht aufgehalten. Wir sind jetzt über deutschem Gebiet. Macht euch bereit, wenn die Lichter angehen.«
Neidvoll starrte Kirow auf die Fliegermontur des Mannes, dann sah er zu den beiden Lichtern, von denen eines rot, das andere grün war.
Und noch während er dorthin sah, ging die Lampe an, die ihnen anzeigte, dass sie sich zum Sprung bereit machen sollten.
Eilig, mit pochendem Herzen schnallte sich Kirow vom Sitz los.
Die anderen Männer taten dasselbe.
Sie erhoben sich und klickten ihre Aufziehleinen in der Stange ein, die sich am Dach durch das gesamte Flugzeug zog.
Der Co-Pilot öffnete die Seitentür, eisige Luft rauschte in den Laderaum und übertönte noch das unablässige Wummern der Triebwerke.
Strohmeyer, der Erste in der Reihe, trat nach vorn zur Öffnung. Draußen in der frühmorgendlichen Dämmerung sah er Wolken vorbeiziehen, tief unten war die Landschaft zu erkennen.
Die rote Lampe erlosch, im selben Moment blinkte im gesamten Laderaum das smaragdgrüne Sprunglicht.
Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, nahm Strohmeyer zwei Schritte Anlauf und warf sich kopfüber durch die Öffnung. Er streckte Arme und Beine aus, wie es deutschen Fallschirmjägern in der Ausbildung beigebracht wurde. Die auf dem Rücken befestigte Aufziehleine spannte sich, und dann wurde er so heftig nach oben gerissen, dass er fast glaubte, ohnmächtig zu werden. Der Fallschirm öffnete sich, seine Beine schwangen nach unten, und er hing wie eine Marionette an den Leinen und trudelte dem Boden entgegen.
Als er eine Wolke durchquerte, war seine Kleidung sofort durchnässt. Das Flugzeug war jetzt kaum mehr zu hören.
Direkt unter ihm lag ein Dorf. Es schien von den Kriegsereignissen unberührt, obwohl es noch zu dunkel war, um das mit Gewissheit sagen zu können.
Was ihn an diesen Sprüngen immer wieder aufs Neue faszinierte, war die Stille und wie langsam er scheinbar zunächst zum Boden schwebte. Aber je mehr er sich dem Boden näherte, desto schneller schien alles zu werden, und jetzt erkannte er, dass er unmittelbar auf eine Reihe von Bäumen zusteuerte, zwischen denen er einen Kirchturm ausmachen konnte.
Wie er es von seinem Sprunglehrer in Ungarn gelernt hatte, presste Strohmeyer die Beine zusammen, damit er sich nicht in einem Ast verfing. Bei der Geschwindigkeit, mit der er auftraf, wäre eine solche Verletzung tödlich gewesen.
Darüber hinaus konnte er wenig tun, außer sich auf die Landung gefasst zu machen und zu hoffen, dass sein Fallschirm sich nicht in den Zweigen verhedderte.
Er zog die Beine an die Brust, während die Baumwipfel an ihm vorüberstrichen, dann trieb er über den größten der Bäume hinweg und lachte laut auf, als er sah, dass er das Hindernis hinter sich gelassen hatte. Er ging auf einem gepflügten Acker nieder, dem besten Landeplatz überhaupt. Aber ihm blieb kaum noch Zeit, sich darüber zu freuen, denn jetzt sah er die schwarzen Drähte, die sich horizontal vor ihm spannten.
Die Fangleinen des Fallschirms gaben ein lautes zischendes Geräusch von sich, als sie auf die Stromkabel trafen, der Seidenschirm knisterte, während er sich um den Strommasten wickelte.
Die elektrische Spannung fuhr ihm durch den Rücken und explodierte in seinen Stiefelsohlen, und Strohmeyer spürte nicht mehr, dass er die Erde erreicht hatte. Der letzte Gedanke, der ihm noch durch den Kopf ging, bevor sein Körper zu explodieren schien, war, dass keiner der beiden Männer, die er hier anführte, auch nur ansatzweise wusste, wohin sie sich wenden sollten.
Als Pekkala auf dem Acker zur Landung ansetzte, begann er wild zu strampeln wie ein Radfahrer, bis er den Boden unter den Füßen spürte und schließlich mit den Knien auf die weiche Erde fiel. Gleich darauf war er wieder auf den Beinen und holte die Leinen seines grünen Seidenschirms ein. Es dauerte nicht lange, bis er ihn zu einem unförmigen Bündel zusammengerafft hatte. Er schälte sich aus den Gurten, trug alles zu einer nahen Hecke und stopfte es unter die Sträucher, damit es nicht mehr zu sehen war.
Nachdem er stundenlang die ölig riechende, dünne Luft im Frachtraum der Maschine eingeatmet hatte, genoss er den feuchten, erdigen Geruch der Landschaft.
Er sah sich um. Der Wind hatte ihn ein gutes Stück abgetrieben, aber er konnte den Kirchturm zwischen den Bäumen erkennen. Aber weder von Kirow noch von ihrem Führer war irgendetwas zu sehen. Bei der Vorstellung, völlig auf sich allein gestellt zu sein, musste er einen Anflug von Panik unterdrücken.
Er zog den Webley aus dem um die Brust geschlungenen Holster und stapfte über den Acker, bis er eine Wiese erreichte. Von dort machte er sich auf in Richtung Kirche.
Bald darauf entdeckte er die Silhouette eines Mannes – er stand an der Kirchenmauer und winkte ihm zu.
Kirow.
Beide waren sie sichtlich erleichtert, den anderen zu sehen.
Sie brauchten eine Weile, bis sie ihren Führer entdeckten.
Sobald sie den Schirm sahen, der sich wie eine Qualle in der Brise bauschte, rannte Kirow los, um dem bewegungslos auf dem Boden liegenden Mann zu helfen.
»Halt!«, rief Pekkala.
Kirow blieb stehen.
»Kommen Sie ihm nicht zu nah. Er ist in eine Stromleitung geflogen, die jetzt über seinen Körper geerdet ist.«
Kirow wich zurück. Er sah noch, wie ein Rauchfaden – vielleicht war es auch Dampf – aus dem Mund des Toten aufstieg.
Da sie nicht wussten, wo sie sich befanden, und es auch nicht möglich war, ihren Führer auf Landkarten oder andere Dokumente zu untersuchen, die ihnen vielleicht verrieten, wo sie sich in Berlin zu melden hatten, stapften die beiden Männer kurz entschlossen zur Kirche und näherten sich zwischen den Grabsteinen dem Eingang. Aber die Tür war zugesperrt, also zogen sie sich zu einer Ansammlung von Bäumen in einer Ecke des Friedhofs zurück. Ihre Kleidung war durchnässt, weshalb sie ein kleines Feuer entfachten, dessen spärliche Flammen sie durch mehrere, mit dreckverkrusteten Fingern aus dem Boden gewühlten Steinen verdeckten.
Ein kalter Wind strich über die Felder außerhalb des Friedhofs und raschelte in den Ästen der Bäume.
Die zwei Männer kauerten über den brennenden Zweigen und hielten die Hände in den Rauch, als wollten sie sie im Duft der brennenden Erlen waschen.
Mit eingezogenem Kopf, das Kinn im Kragen des dreckverschmierten Mantels verborgen, glich Pekkala den Landstreichern im Bitza-Wald im Süden von Moskau.
»Es hat keinen Sinn, weiterzugehen«, sagte Kirow, dem das Sprechen schwerfiel, da er am ganzen Leib zitterte.
Pekkala sah vom Feuer auf. »Was?«, fragte er überrascht.
»Ohne Führer«, erklärte Kirow, »finden wir das sichere Haus nie.«
»Wir haben ein paar Anhaltspunkte.«
Kirow sah ihn skeptisch an. »Die da wären?«
»Wir wissen, dass es eine ungarische Kontaktperson gibt, und wir kennen das Datum, zu dem wir ihn im sicheren Haus treffen sollen.«
»Das reicht nicht. Nie und nimmer. Das Treffen soll in drei Tagen stattfinden. Selbst wenn wir es noch rechtzeitig nach Berlin schaffen sollten – was hilft uns das in der Stadt, in der bestimmt Abertausende von Ungarn leben, ganz zu schweigen von den vielen Flüchtlingen aus dem Osten? Finden Sie sich mit der Tatsache ab, Inspektor, dass wir nicht die geringste Chance haben, uns mit Genossin Simonowa zu treffen.«
»Man hat immer eine Chance«, sagte Pekkala.
Kirow sah sie beide schon vor sich, wie sie von Haus zu Haus trotteten und an jede Tür klopften. Damit hätten sie bis an ihr Lebensende zu tun. Es überraschte ihn kaum, dass Pekkala nicht aufgeben wollte, vor allem wenn man bedachte, was auf dem Spiel stand. Er musste seine Worte also mit Bedacht wählen, wenn er den Inspektor davon überzeugen wollte, den Weg nach Osten einzuschlagen. »Inspektor«, begann er, »ziehen Sie bitte die Möglichkeit in Betracht, dass Ihre Urteilsfähigkeit in dieser Sache getrübt sein könnte.«
»Das kann gut sein«, gestand Pekkala.
Ermutigt durch diese Antwort, fuhr Kirow fort.
»Sobald die Sonne aufgegangen ist«, sagte er entschieden, »werden wir uns in Richtung sowjetische Linien auf den Weg machen.«
»Egal, was Sie von meiner Urteilsfähigkeit halten«, antwortete Pekkala, »bin ich viel zu weit gekommen, um jetzt noch umzukehren.«
»Aber es ist doch nicht weit«, versuchte Kirow zu argumentieren. »Unsere Truppen können nicht mehr als ein oder zwei Tagesmärsche entfernt sein. Wir müssen nur nach Osten gehen. Die Rote Armee zieht starke Kräfte auf den Seelower Höhen zusammen. Wenn wir die Oder erreichen, sind wir in Sicherheit.«
»Sicherheit?«, wiederholte Pekkala. »Wie, meinen Sie, sieht es mit Ihrer Sicherheit aus, wenn wir mit leeren Händen im Kreml auftauchen?«
»Aber das werden wir doch nicht. Sobald wir hinter den sowjetischen Linien sind, nehmen wir Kontakt mit den Besonderen Operationen in Moskau auf. Sie können das Treffen im sicheren Haus neu planen und uns einen neuen Führer schicken. Wir schaffen es nach Berlin, Inspektor. Es wird nur ein wenig länger dauern, als wir gedacht haben.«
»Genau das ist das Problem, Major Kirow.« Pekkala griff sich einen Stock und stocherte damit in der Glut herum. »Es ist vielleicht nur eine Frage von Stunden, bis Hunyadi sie findet. Wir können es uns vielleicht leisten, noch ein wenig zu warten, aber Lilja Simonowa kann es nicht.«
Kirow wurde klar, dass er, nachdem er so nicht weiterkam, nur noch eine Karte ausspielen konnte. »Inspektor, ermächtigt durch den Genossen Stalin erteile ich Ihnen hiermit einen Befehl.«
Kurz war nur der Wind in den Bäumen zu hören.
»Selbst wenn Stalin jetzt bei uns wäre«, sagte Pekkala und deutete mit seinem Stecken auf eine Stelle neben dem Feuer, »glauben Sie im Ernst, das würde meine Meinung in irgendeiner Weise ändern?«
Kirow starrte auf die Stelle, auf die Pekkala zeigte, und erwartete fast, dass Stalin dort vor ihnen aus dem Boden wuchs wie ein giftiger Pilz aus dem toten Laub. »Was sollen wir Ihrer Meinung nach also tun, Inspektor?«
»Geben Sie mir Zeit, bis der Termin für unser Treffen rum ist. Mehr brauche ich nicht.«
»Wie um alles in der Welt wollen Sie sie in drei Tagen finden, wenn Sie keine Ahnung haben, wo sie sich versteckt hält?«
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, erwiderte Pekkala.