G enau in diesem Augenblick saß Kriminalinspektor Hunyadi allein in einem Konferenzraum in der Reichskanzlei und wartete darauf, die erste von mehreren Befragungen durchzuführen. Er wollte Mitglieder des Oberkommandos der Wehrmacht zu der undichten Stelle im Bunker vernehmen, über die Informationen nach draußen gelangten.

Was den Ort der Vernehmung betraf, hatte Hunyadi nicht mehr viele Auswahlmöglichkeiten. Er befand sich in einem der wenigen Räume in der Reichskanzlei, deren Decke noch intakt war.

Hier hatten bis vor nicht allzu langer Zeit Hitlers Lagebesprechungen mit dem Oberkommando stattgefunden; eine um Mittag, die andere um Mitternacht. Es handelte sich um einen hohen Raum mit weißen Säulen in den Ecken sowie Landschaftsgemälden an den Wänden – Burg Drachenfels über dem Rhein, eine Münchner Straßenszene, ein bei Sonnenaufgang pflügender Bauer in einer flachen, fast konturlosen Landschaft an der Ostseeküste. Zwischen den Bildern hatte man durch große Fenster einen Blick auf den Garten der Reichskanzlei. In der Mitte des Raums stand ein langer Eichentisch, auf dem Generalstabskarten ausgerollt wurden und Feldmarschälle mit ihren zeremoniellen Marschallstäben dieses und jenes anzeigten. An der Rückwand standen bequeme, mit rotem Leder bezogene Sessel, in denen all jene, deren Anwesenheit am Tisch gerade nicht erforderlich war, Platz nehmen konnten.

So jedenfalls hatte es mal ausgesehen.

In einer Nacht Ende Oktober 1944 schlug eine 250 -Pfund-Bombe aus einer amerikanischen B-17 im Garten ein, kaum dreißig Meter vom Eingang zum Lageraum entfernt. Die Explosion brachte die Fensterscheiben zum Bersten und überzog die Wände mit Glas- und Schrapnellsplittern. Die Polstersessel und der Kartentisch, für den man sonst zehn Männer brauchte, um ihn anzuheben, wurden in die Luft geschleudert. Innerhalb weniger Sekunden wurde aus allen Möbeln Kleinholz, selbst in der Decke steckten Splitter und Holzteile.

Zunächst bestand Hitler darauf, die Besprechungen am üblichen Ort weiterzuführen. Die offenen Fenster wurden mit Sperrholz vernagelt. Die Überreste des Tisches ließ man entfernen, und die Arbeiter mussten sich zwingen, nicht ständig auf die gezackten Glasscherben zu starren, die wie Haizähne aus den Wänden ragten.

Die Karten wurden nun auf dem Boden ausgebreitet, und Männer kauerten davor und zeichneten mit dem Finger die Vormarsch- und Rückzugsrouten nach.

Zwei Tage nach der Detonation, kurz vor Beginn der mitternächtlichen Sitzung, löste sich ein in der Decke steckendes scharfkantiges Metallteil, das ursprünglich zur Heckflosse einer Bombe gehört hatte, und bohrte sich mitten in die Karte der Schnee-Eifel.

Das war sogar Hitler zu viel. Bevor er zu einem anderen Führerhauptquartier aufbrach, befahl er, einen anderen Ort zu finden. Als er im Januar des darauffolgenden Jahres zurückkehrte, blieb dafür nur noch der Führerbunker übrig.

Da es keinen Strom mehr gab und die Fenster zugenagelt waren, hatte Hunyadi eine Paraffinlampe aufgestellt. Öliger schwarzer Rauch stieg von der gelben Flamme auf, die hinter dem verdreckten Glasschirm flackerte. Die meisten ursprünglichen Möbel waren entfernt, ein neuer, kleinerer Tisch und zwei Stühle waren aufgestellt worden. Für Hunyadis Zwecke war das völlig ausreichend. Da auch die Gemälde abgehängt waren, starrte Hunyadi auf kahle beigefarbene Wände, an denen nur noch die Bilderhaken zu sehen waren.

Hunyadi hatte überlegt, jeden auf seiner Liste zur Polizeidienststelle kommen zu lassen, aber er wollte nicht den Anschein erwecken, als handelte es sich um offizielle Polizeiermittlungen. Nach deutschem Militärstrafrecht musste jeder Wehrmachtsangehörige von jemandem gleichen Ranges verhört werden. Nicht nur gehörte Hunyadi nicht zur Gehaltsstufe der zu befragenden Offiziere, er war ja noch nicht einmal Soldat.

Egal, wo er die Befragung durchführen würde, er musste in jedem Fall mit einem frostigen Empfang rechnen. Immerhin wussten die meisten – wenngleich nicht alle –, weshalb sie hierherzitiert wurden. Allein die Befragung bedeutete, dass ihre Treue zu Führer und Vaterland in Zweifel gezogen wurde.

Die Stille des Raums legte sich wie Staub auf seine Schultern – so erschien es Hunyadi, während die Minuten verstrichen. So sehr er sich auch einredete, dass er nicht mehr in einer Zelle saß, er fühlte sich trotzdem in dem fensterlosen Raum gefangen und wäre am liebsten hinaus auf die Straße gelaufen. Er musste an die vielen denken, die er im Lauf der Zeit ins Gefängnis gebracht hatte. Selten hatte er Mitgefühl für jene aufgebracht, die durch sein Zutun verurteilt wurden, erst jetzt begriff er das ganze Ausmaß ihres Leidens. Seltsam, dass ihm das erst nach seiner Entlassung aus Flossenbürg bewusst geworden war. In den Wochen seiner Gefangenschaft hatte er sich völlig abgekapselt, jedes Gefühl, mochte es noch so extrem gewesen sein, wurde so weit gedämpft, dass er fast so gut wie nichts mehr gespürt hatte.

Vielleicht war das die wahre Strafe, die einen im Gefängnis ereilte – nicht die verlorene Zeit, sondern die Unfähigkeit, ihr Vergehen überhaupt wahrzunehmen.

Einige Minuten darauf ging die Tür auf, und vor ihm stand Feldmarschall Keitel. Seine Wangen waren fast so rot wie die karmesinroten Aufschläge an seiner Uniform. Wortlos kam er hereingestapft, nahm seine Mütze ab und warf sie auf den Tisch. Dann lehnte er sich mit den behandschuhten Fingerknöcheln auf die polierte Tischoberfläche und beugte sich so weit vor, dass sich ihre beiden Gesichter fast berührten. »Sie erbärmlicher Wicht«, zischte er. »Ist Ihnen klar, wie unabkömmlich ich für das Kriegsgeschehen bin?«

Keitel, Anfang sechzig, hatte grau werdende Haare, eine hohe Stirn und fleischige Ohren. Wenn er den Mund schloss, klackten seine Zähne aufeinander, woraufhin das leicht ausgeprägte Doppelkinn kurz zitterte.

»Ich habe nur ein paar Fragen«, sagte Hunyadi und zog einen Notizblock sowie einen Bleistiftstummel aus der Brusttasche. »Bitte nehmen Sie Platz.« Er deutete auf den Stuhl gegenüber.

»Ich habe nicht viel Zeit«, antwortete Keitel. »Machen Sie voran, fragen Sie, was Sie zu fragen haben, damit Sie dem Führer vermelden können, dass ich keine Informationen weitergebe.«

»Dann wissen Sie von der undichten Stelle?«

»Natürlich! Seit Monaten kursieren Gerüchte.«

»Welche Gerüchte?«

Keitel sog scharf die Luft durch die Nase ein. »Gewisse Dinge finden ihren Weg zu den Rundfunkübertragungen der Alliierten.«

»Was für Dinge?«

Keitel zuckte wütend mit den Schultern. »Sinnloser Klatsch, meistenteils. Geschmacklose Belanglosigkeiten aus dem Leben anderer.«

»Der Führer hält es für gravierender.«

Langsam wich Keitel von Hunyadi zurück. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, seine Finger zuckten in den graugrünen Lederhandschuhen. »Dafür gibt es keine Beweise, zumindest ist mir nichts untergekommen. Wenn Sie mich fragen, jagt der Führer einem Gespenst hinterher, außerdem sollten wir uns mit anderen, wichtigeren Dingen beschäftigen. Es lenkt uns nur ab, genau darum geht es den Alliierten doch.«

»Sie geben also zu, dass es eine undichte Stelle gibt?«

Der Feldmarschall zuckte mit den Schultern. »Möglich.«

»Und wo, wenn Sie raten müssten, sitzt diese undichte Stelle?«

»Wenn Sie mich fragen, handelt es sich um Dinge, über die sich normalerweise Sekretärinnen unterhalten. Von denen arbeiten einige im Bunker.«

»Sie meinen, es ist eine von ihnen?«

»Ich beschuldige niemanden. Es ist nur so ein Gefühl, aber eines mit Gewicht, wenn man die Sache vom Standpunkt der Alliierten aus betrachtet.«

»Und der ist?«

»Ganz egal, wer für die Alliierten arbeitet – wenn überhaupt jemand für sie arbeitet –, es muss jemand sein, der für sie ganz und gar entbehrlich ist.«

»Warum?«

»Wie lange können die Alliierten davon ausgehen, dass sie über Radio Geheimnisse aus dem Bunker verbreiten können, bevor Hitler jemanden wie Sie schickt, um die undichte Stelle ausfindig zu machen? Haben Sie jetzt genug Fragen gestellt, oder wollen Sie mich den ganzen Tag aufhalten?«

»Nein, Feldmarschall«, sagte Hunyadi und klappte sein Notizbuch zu. »Sie können gehen.«

Der Nächste, der durch die Tür kam, war Hitlers Adjutant, SS -Sturmbannführer Otto Günsche. Er kam direkt aus dem Führerbunker und trug über seiner Ausgehuniform einen braunen, doppelreihigen, knielangen Ledermantel. Günsche war sehr groß, hatte einen traurigen, geduldigen Blick und sah aus wie jemand, der es gewohnt war, den Mund zu halten.

Hunyadi war sofort klar, dass er aus ihm nicht viel herausbekommen würde. Nach einigen oberflächlichen Fragen über das Leben im Bunker, die Günsche mit träger, leiser Stimme beantwortete, als fürchtete er, belauscht zu werden, schickte Hunyadi ihn fort.

Es folgte eine Reihe von Sekretärinnen – Johanna Wolf, Christa Schroeder, Gerda Christian und Traudl Junge. Diese Frauen waren aus einem anderen Holz geschnitzt als der Feldmarschall. Sie gaben so gut wie nichts preis, aber von ihren kleinen unbewussten Gesten – wenn sie leicht die Augen verdrehten, wenn ihre Mundwinkel zuckten – wusste Hunyadi aufgrund seiner Erfahrung aus unzähligen Verhören, dass sie einiges zu erzählen hätten. Die Frage war nur: Hatten sie es getan? Hunyadi glaubte es nicht. Ihre Loyalität war so unanfechtbar, dass sie für politische Machenschaften, die hochrangige Personen aus dem Umfeld des Führers vielleicht verlockend empfunden hätten, völlig unempfänglich waren.

Nach den Sekretärinnen befragte Hunyadi Hitlers Chauffeur Erich Kempka, einen raubeinigen, sarkastischen Mann, der selbst zu den Opfern der über Rundfunk verbreiteten Gerüchte gehörte. Seine Seitensprünge waren mehr als einmal vom »Chef« genüsslich beschrieben worden.

Dann kam Heinz Linge, einer von Hitlers Kammerdienern, der überaus nervös und besorgt war, im Schlaf irgendwelche Belanglosigkeiten ausgeplaudert und so den Untergang des Reichs herbeigeführt zu haben. Sein rechtes Auge begann unkontrolliert zu zucken, worauf Hunyadi ihn früher als geplant entließ, aus Furcht, er könnte noch einen Herzinfarkt erleiden.

Nach Linges Abgang sah Hunyadi auf die Uhr. Der Tag war fast vorbei.

Sein letzter Besucher war SS -Gruppenführer Hermann Fegelein, Himmlers Verbindungsoffizier zum Führerhauptquartier und jemand – dieser Ruf eilte ihm voraus –, den keiner recht mochte.

Im Unterschied zu allen anderen wirkte Fegelein völlig entspannt, ein Umstand, der ihn für Hunyadi verdächtig machte.

»Warum bin ich hier?«, fragte Fegelein.

»Der Führer glaubt, dass es im Bunker eine undichte Stelle gibt, über die vertrauliche Informationen nach außen dringen. Manches davon gelangt zu den Alliierten, die es über ihre Radiostationen im Reich verbreiten.«

»Sie reden vom ›Chef‹?«

»Sie haben von ihm gehört?«

»Jeder hat von ihm gehört. Aber wenn Sie mich deswegen haben holen lassen, kann ich Ihnen gleich sagen, dass Sie Ihre Zeit vergeuden.«

»Vielleicht haben Sie recht, aber ich muss mit allen reden, die im Bunker Zugang zu vertraulichen Unterlagen haben. Und das schließt Sie mit ein, Herr Gruppenführer. Schließlich nehmen Sie jeden Tag an den Besprechungen des Führers teil.«

»Das ist meine Aufgabe.«

»Nichtsdestotrotz ist es unsere Aufgabe, die Neugier des Führers zu befriedigen.«

Fegelein fläzte sich auf den Stuhl und atmete tief ein. »Also, schießen Sie los.«

»Ich habe nur eine Frage.«

Fegelein blinzelte verwirrt. »Mehr nicht?«

»Wenn es eine undichte Stelle gibt, wo könnte Sie Ihrer Meinung nach liegen?«

Fegelein dachte kurz nach, bevor er zu einer Antwort ansetzte. »Es muss jemand weit unten in der Befehlskette sein.«

»Unten in der Befehlskette?«

»Jemand, der es gelernt hat, sich unsichtbar zu machen«, erklärte Fegelein. »Jemand, den man ständig sieht, aber nie recht wahrnimmt. Aber Sie verschwenden Ihre Zeit, wenn Sie sich auf mich oder andere wie mich konzentrieren. Leute wie ich setzen nicht ihr Leben aufs Spiel, um trivialen Klatsch weiterzugeben. Dafür haben wir viel zu viel zu verlieren.«

»Danke«, sagte Hunyadi. »Sie können gehen.«

Fegelein erhob sich, wollte sich schon verabschieden, drehte sich aber noch einmal um. »Warum nur eine Frage?«

Hunyadi lächelte. »Wenn Sie tatsächlich die undichte Stelle wären, hätten Sie es dann zugegeben?«

»Natürlich nicht«, schnaubte Fegelein.

»Genau.«

»Warum lassen Sie uns dann überhaupt antanzen?«

»Erstens, weil der Führer es so will. Und zweitens, damit bei der Person, um die es hier geht, kein Zweifel besteht, dass man hinter ihr her ist.«

Fegelein nickte beeindruckt. »Eine Taktik, durch die Sie Freunde verlieren könnten, noch bevor die Ermittlungen zu Ende sind.«

»Ich habe keine Freunde. Es gibt nur die Feinde, die ich sowieso schon habe, und jene, die nur noch nicht genug wissen, um mich zu hassen. In meinem Gewerbe gehört das zum Berufsrisiko.«

»Wäre doch nicht schlecht, wenn Sie jemanden hätten, den Sie um Hilfe bitten könnten.«

Hunyadi starrte ihn an. »Was soll das heißen?«

»So jemand, denke ich mir, wäre doch sehr wertvoll.« Fegelein streckte ihm die Arme entgegen und ließ sie dann fallen. »Meinen Sie nicht auch?«

»Wenn Sie mir damit sagen wollen, dass ich die Unterstützung der SS anfordern könnte, dann kann ich Sie beruhigen. Ich bin mir dessen durchaus bewusst.«

»Die SS ist eine große Organisation, die es nicht gern sieht, wenn sich Fremde in ihre Angelegenheiten einmischen«, sagte Fegelein nur. »Sie brauchen jemanden, der die Arbeit macht und dabei absolute Diskretion wahrt.«

Misstrauisch kniff Hunyadi die Augen zusammen. »Und dieser jemand könnten Sie sein? Wollen Sie mir das sagen?«

»Möglich.«

Jetzt, dachte sich Hunyadi, weiß ich, warum du so verhasst bist. »Und warum sollte man mir ein solches Angebot unterbreiten?«

»Weil ich weiß, in wessen Auftrag Sie handeln, und ich in letzter Zeit leider feststellen musste, dass diese Person mir ihre Gunst etwas entzieht. Wenn ich dem Abhilfe schaffen kann, bin ich gern dazu bereit. Sie verstehen also, wenn ich Ihnen helfe, helfe ich auch mir. Ich bitte Sie nur, dass Sie sich dann, wenn es so weit ist, daran erinnern, wer Ihre Freunde sind.«

»Ich werde es im Kopf behalten«, antwortete Hunyadi.

Fegelein reichte ihm eine Visitenkarte. Auf der einen Seite waren in erhabenen Lettern seine Initialen HF aufgedruckt, auf der anderen eine Berliner Telefonnummer. »Da können Sie mich erreichen, Tag und Nacht.«

Nachdem Fegelein gegangen war, ließ sich Hunyadi alles noch einmal durch den Kopf gehen. Die nützlichsten Informationen zog er nicht aus dem, was gesagt, sondern aus dem, was verschwiegen worden war. Morgen würde er den Führerbunker aufsuchen und Hitler persönlich Bericht erstatten. Die Neuigkeiten würden, fürchtete Hunyadi, nicht gut aufgenommen werden, und vielleicht war der Überbringer der schlechten Nachricht der Erste, der dran glauben musste.