K irow und Pekkala waren auf dem unbefestigten Weg etwa dreißig Kilometer von Berlin entfernt und sahen die Straßensperre erst, als es schon zu spät war.
Das windumtoste Ackerland war von einer niedrigen Hügellandschaft abgelöst worden, in der dichte Kiefernwälder immer wieder den weiteren Verlauf der gewundenen Straße verdeckten.
Klappernd rollten sie einen Hang hinunter, gingen in eine Rechts- und gleich darauf in eine scharfe Linkskurve und hatten zu tun, sich am Lenker festzuhalten. Unten am Hügel wurde die Straße wieder gerade, und genau diesen Punkt hatte sich die Feldgendarmerie ausgesucht, um eine Sperre zu errichten. Gefällte Bäume blockierten erst die eine und dann die andere Fahrspur, sodass jeder, der sie passieren wollte, im Zickzack durch die Hindernisse hindurchsteuern musste.
Pekkala und Kirow konnten nichts mehr tun. Sie hatten keine Zeit mehr, ihre Waffen zu ziehen oder umzukehren. Sie hatten kaum noch Zeit, anzuhalten.
Zwei Männer in langen Gummimänteln und mit MPs standen vor der ersten Sperre. Um den Hals trugen sie die halbmondförmige Metallplakette mit der Aufschrift »Feldgendarmerie«, über der sich ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen und dem Hakenkreuzemblem unter den Krallen befand.
Die beiden grinsten und waren sichtlich zufrieden über ihren Fang, als Kirow und Pekkala schlitternd vor ihnen zum Halt kamen.
Zunächst sah es aus, als wären die beiden Kettenhunde die einzigen an der Straßensperre, aber dann schien der Wald erwacht. Mindestens ein halbes Dutzend weitere Soldaten kam aus Bunkern zu beiden Seiten der Straße.
»Papiere!«, bellte einer der Männer und streckte ihnen die Hand hin.
Pekkala und Kirow wühlten in ihren Taschen und zogen ihre jeweiligen Dokumente hervor. Dabei entdeckte einer der Soldaten Pekkalas Webley im Schulterholster. Sofort nahm er seine MP in Anschlag. »Langsam«, sagte er.
Pekkala zog den Revolver aus dem Holster, hielt ihn am Messinggriff fest, sodass der Lauf zu Boden zeigte, und überreichte ihn. Erst jetzt fiel ihm auf, wie jung die Soldaten waren.
Sie konnten nicht älter als sechzehn sein, ausgemergelte, pickelige Gesichter unter den Stahlhelmen musterten ihn. Sie waren hager und unterernährt, in ihren Regenmänteln sahen sie aus wie zum Leben erweckte Vogelscheuchen.
Dennoch wusste Pekkala, zu welchen Gewalttaten sie in aller Beiläufigkeit fähig waren. Durch ihre Jugend kannten sie keinen Bezugsrahmen außer den, dem sie seit ihrer Geburt ausgesetzt waren. Sie waren die Kinder des jüngsten Krieges, und wenn sich ihre Wege mit der Roten Armee kreuzten, wären diese Jungen die Letzten, die sich ergaben, selbst wenn ihnen die Möglichkeit dazu angeboten wurde.
Pekkala und Kirow wurden durchsucht, und Kirows Waffe wurde ebenfalls konfisziert.
»Herr Hauptmann«, rief der Junge, der ihre Papiere hatte sehen wollen.
Ein weiterer Mann erschien aus dem Bunker zu ihrer Linken. Er trug die Dienstgradabzeichen eines Hauptmanns, sein Kragenspiegel hatte die orange Farbe der Feldgendarmerie. Er war beträchtlich älter als seine Untergebenen, das unrasierte Kinn war mit grauen Stoppeln überzogen. Er hätte ihr Vater oder vielleicht sogar ihr Großvater sein können. Bei sich hatte er eine kurzstielige Pfeife, die er, als er kurz stehen blieb, anzündete. Im Unterschied zu seinen Männern trug er weder einen langen Mantel noch die halbmondförmige Plakette ihrer Truppe. Stattdessen steckte er in einem abgetragenen feldgrauen Uniformrock. Auf dem Rücken und an den Unterarmen war der Stoff so ausgebleicht, dass er fast weiß schien. An der linken Brusttasche steckte das Eiserne Kreuz Erster Klasse, im Knopfloch waren zwei Ordensbänder befestigt, eines für das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse und eines in Anerkennung seiner Dienste an der Ostfront.
»Sie hatten recht, Herr Hauptmann«, rief der Junge. »Wenn wir noch ein bisschen warten, könnten wir noch ein paar schnappen. Schauen Sie, wen wir hier haben!« Er schob die beiden Männer vor ihn.
»Danke, Andreas«, antwortete der Hauptmann und klang eher wie ein Schuldirektor und nicht wie der befehlshabende Offizier.
Der Junge reichte ihm Pekkalas und Kirows Papiere, salutierte und trat einen Schritt zurück.
Der Hauptmann sog nachdenklich an seiner Pfeife, blätterte die ungarischen Pässe durch, entfaltete das beiliegende Blatt, das beide als Kaufleute eines Unternehmens namens Matra mit Sitz in der ungarischen Stadt Eger auswies, das für die Wehrmacht Stiefel herstellte.
Seitdem Kirow und Pekkala in Sichtweite der Straßensperre kamen, hatten sie nicht ein Wort gesprochen. Pekkala spürte, wie sein Herz gegen das leere Holster an seiner Brust pochte. Er hatte das Holster selbst entworfen, um den unterhalb des Solarplexus links am Brustkorb befestigten Webley mühelos erreichen zu können.
Ihnen war beiden klar, dass sie den Feldgendarmen vollkommen ausgeliefert waren. Es gab keinerlei Fluchtmöglichkeit, sie hatten keine Chance, sich ihren Weg freizuschießen. Sofern der Hauptmann nicht zu ihren Gunsten eingriff, würden die Jungen sie am nächsten Baum aufknöpfen.
»Das sind Ungarn«, sagte der Offizier mehr zu sich als zu den anderen.
»Sollen wir sie hängen?«, fragte Andreas und konnte die Erregung in seiner Stimme kaum verbergen.
Müde sah der Offizier auf. »Die Papiere sind in Ordnung, und falls du es vergessen hast, Ungarn gehört zu den wenigen Verbündeten, die wir noch haben. Außerdem arbeiten die beiden laut ihren Papieren für die Firma, die wahrscheinlich deine Stiefel hergestellt hat.«
»Allein das wäre schon ein Grund, sie aufzuhängen«, kam es von einem anderen. Er deutete auf sein schlammbedecktes Schuhwerk. »Ich hab sie erst seit drei Wochen, und sie fallen schon auseinander.«
Der Offizier schüttelte den Kopf. »Ja, das tun sie, Berthold, aber vielleicht sind sie einfach nicht für die Ewigkeit gemacht.«
Verwirrt blinzelte der Junge den Offizier an und verstand nicht, was der andere ihm damit sagen wollte.
»Und was ist mit ihren Waffen, Herr Hauptmann?« Andreas hielt sie ihm hin.
»Warum sollten sie keine bei sich haben?«, fragte der Hauptmann. »Es hat doch jeder welche.«
»Und was haben sie hier draußen verloren?«, fragte Berthold. »Das kommt mir doch alles sehr verdächtig vor, wenn Sie mich fragen.«
»Dich fragt aber keiner«, erwiderte der Offizier. »Schaff sie für die Nacht in den Laster. Morgen früh bringen wir sie zu Major Rademacher. Der kann dann entscheiden, was mit ihnen geschehen soll.«
Grummelnd machten Berthold und Andreas kehrt und schoben ihre Gefangenen an der zweiten Sperre vorbei.
»Und passt auf, dass sie nicht abhauen«, rief der Offizier ihnen noch nach, bevor er wieder in seinem Bunker verschwand.
Der Lastwagen, den der Hauptmann erwähnt hatte, stand nur ein kurzes Stück weiter zwischen den Bäumen verborgen. Er war mit einem seltsamen Tarnmuster bemalt. Zweige mit Laub waren dazu auf die Motorhaube gelegt und mit einem helleren Grün als dem originalen Grünton übermalt worden, sodass nach dem Trocknen der Farbe die Umrisse der Zweige und Blätter zurückgeblieben waren.
Andreas stieg auf die mit einer Plane geschlossene Ladefläche. »Los!«, blaffte er Kirow und Pekkala an und befahl ihnen, aufzusitzen.
Kirow und Pekkala nahmen jeweils gegenüber auf den harten Holzbänken Platz und wurden mit Handschellen an die Metallstange unter der Bank gefesselt.
Sacht patschte Andreas Kirow auf die Wange, bevor er nach unten sprang. »Gute Nacht, meine Herren«, sagte er und stapfte ins Unterholz hinein.