D ie Sonne ging gerade unter, als Hunyadi aus der U-Bahn-Station vor dem Bahnhof Zoo trat. Luftangriffe hatten die überirdischen Anlagen zerstört, die U-Bahn selbst aber fuhr noch. Nicht weit vom Bahnhof erhob sich ein riesiger Flakturm zur Luftverteidigung der Stadt.

Hunyadi ging zum Turm und fuhr, begleitet von einem Luftwaffenoffizier, in einem Kettenaufzug bis ganz nach oben. Dort, auf der breiten Gefechtsplattform, waren mehrere Geschütze in den Himmel gerichtet, direkt vor ihm stand eine 8 ,8 -cm-Flak, deren Lauf mit mehr als einem Dutzend weißer Ringe bemalt war, von denen jeder für den Abschuss eines alliierten Flugzeugs stand.

In einer zurückgesetzten Nische fand Hunyadi, wonach er gesucht hatte – eine Fernmeldeeinrichtung, stark genug, um mit allen anderen Flakstellungen in der Stadt zu kommunizieren.

Hunyadis Recherchen zu der Frage, wo er nicht nur den militärischen, sondern jeglichen Funkverkehr in der Stadt abhören könnte, hatten ihn an diesen Ort geführt.

Er reichte dem Funker einen Zettel, auf dem die bekannten Frequenzen aufgeführt waren, über die alliierte Agenten Meldungen nach England oder die Sowjetunion absetzten.

Nachdem er den Funker angewiesen hatte, ihn über jeden Verkehr auf diesen Frequenzen zu informieren, stieg Hunyadi hinunter in die im Erdgeschoss gelegene Munitionskammer, wo in Holzkisten die Geschosse für die Geschütze lagerten. Er verschob einige der Kisten, wofür er seine ganze Kraft aufwenden musste, und richtete sich einen Sitzplatz ein. Dann holte er ein in ein Taschentuch gewickeltes Stück Käse aus der einen Tasche, aus der anderen einen Kanten Roggenbrot, und ohne zu wissen, wie lange er zu warten hatte, machte er sich über sein Essen her.

Vier Stunden später, er schlief tief und fest, wurde er vom Fliegeralarm wach gerüttelt. Instinktiv wollte er sich zum nächsten Luftschutzbunker aufmachen, wie es jedem Bewohner der Stadt längst in Fleisch und Blut übergegangen war.

Er eilte zur Tür, taumelnd, da ihm auf den harten Kisten beide Beine eingeschlafen waren, und wurde dort von einem Dutzend Männer fast über den Haufen gerannt. Sie waren auf dem Weg nach oben, um die Geschütze zu besetzen, und erst jetzt wurde Hunyadi klar, dass er gar nicht nach draußen musste – im Bunker, der auch Luftschutzplätze für die Bevölkerung bereithielt, war er vollkommen sicher. Wie zur Bestätigung rief ihm der Letzte der Männer noch zu: »Wo willst du denn hin? Hier bist du besser aufgehoben als irgendwo sonst.«

Hunyadi kam gar nicht dazu, ihm zu antworten, in diesem Moment nämlich ertönte ein ohrenbetäubender Schlag, der den Polizisten zu Boden warf.

»Sind wir getroffen?«, rief er.

»Nein«, lachte der andere, streckte ihm die Hand hin und half ihm auf. »Das sind doch wir. Wir feuern auf sie. Da kannst du dich schon mal dran gewöhnen, alter Mann, das war erst der Anfang.«

Er war noch so betäubt von dem Schlag, dass die Bemerkung »alter Mann« alles war, was bei ihm hängen blieb. Er war doch erst fünfundvierzig, dachte er. Aber vielleicht gehörte man in diesem Alter heutzutage schon zum alten Eisen.

Dann gingen die Lichter aus.

Er tastete sich zurück zu seinen Munitionskisten, während ein weiterer Donnerschlag den Bunker erschütterte. Undeutlich, über dem hohen Pfeifen in seinen Ohren, nahm er das metallische Klappern der leeren Geschosshüllen wahr, die die Geschütze auf der Gefechtsplattform über ihm ausgeworfen hatten.

Hunyadi presste die Hände an die Ohren, achtete darauf, wegen des notwendigen Druckausgleichs den Mund offen zu lassen, und kauerte, den Kopf fast zwischen den Knien, auf den Kisten.

Er wusste nicht, wie lange er so dasaß. Das Geschützfeuer wurde zu einem unablässigen Tosen, ein Schlag übertönte den nächsten, bis die einzelnen Schüsse nicht mehr zu unterscheiden waren. Manchmal glaubte er das Dröhnen der feindlichen Flugzeuge über sich und die dumpfen Explosionen der Bombentreffer zu hören, dazu die lauten Befehle der Kanoniere und Ladeschützen, aber das alles prasselte auf ihn ein wie ein Stimmen- und Geräuschwirrwarr aus einem Albtraum.

Er hatte keine Ahnung, ob der Funker oben auf der Gefechtsplattform immer noch die Frequenzen überwachte. Höchstwahrscheinlich, dachte Hunyadi, war er mit anderen Aufgaben beschäftigt. Hunyadi tröstete sich damit, dass der unbekannte Spion vermutlich mit der übrigen Bevölkerung in einem Luftschutzraum Zuflucht gesucht hatte, um nicht von jenen, denen er eigentlich helfen wollte, in die Luft gesprengt zu werden.

Von Zeit zu Zeit nahm er Männer in der Dunkelheit wahr, die frische Munitionskisten über den Kettenaufzug nach oben beförderten. Gelegentlich, wenn sie zwischen den Kisten etwas suchten, leuchtete ihm jemand mit einer Rotlicht-Taschenlampe ins Gesicht.

Während einer ruhigeren Phase erhob sich Hunyadi und stieg die Betontreppe zur Gefechtsplattform hinauf. Die Luft war erfüllt von den Rauchschwaden der Geschütze, die einen metallischen Geschmack auf der Zunge hinterließen. Hunyadi schob sich an den Männern und den ausgeworfenen Geschosshülsen vorbei zur brusthohen Plattformmauer. Von dort sah er die Suchscheinwerfer den Himmel abtasten. An manchen Einschlagstellen stiegen so dichte Staubwolken auf, dass sich die Lichtstrahlen darin brachen und zur Erde zurückgeworfen wurden. In der Ferne war das grelle Kreischen der fallenden Bomben zu hören, dann sah er Explosionen aufblitzen, die zu anbrandenden Rauchwellen aufstoben.

»Als ihr das Feuer eingestellt habt«, sagte Hunyadi zu dem Mann, der neben ihn gekommen war, »dachte ich, es sei vorbei.«

»Wir müssen bloß den Lauf abkühlen lassen«, erwiderte der Mann. Seine Gesichtszüge wurden so sehr von der Dunkelheit verschluckt, dass Hunyadi, der immer noch wie benommen in das Inferno starrte, den Eindruck hatte, die Nacht selbst hätte Gestalt angenommen und unterhielt sich jetzt mit ihm. »Ist das nicht schön?«, fragte er Mann.

»Schön?«

»Ja, ja, von schrecklicher Schönheit«, sagte die Dunkelheit, »trotzdem schön.« Der andere deutete zum Himmel. »Siehst du, dort?«

Hunyadi richtete den Blick nach oben. Ein Suchscheinwerfer hatte sich an ein Flugzeug geheftet, das nicht größer als ein Insekt aussah. Kaum vorstellbar, dass etwas so Kleines so viel Schaden anrichten konnte. Er hatte zahllose Luftangriffe miterlebt, hatte dabei aber immer in einem Luftschutzbunker gesessen. Er kannte lediglich die Panik, wenn man zum Schutzraum hastete, und die fernen, dröhnenden Erschütterungen der detonierenden Bomben. Und er kannte die Folgen, wenn er später durch die ausgebombten Straßen ging, an Feuerwehr- und Krankenwagen und den Zivilisten mit ihren gelben Armbändern vorbei, die diese Wagen steuerten. Aber er hatte nie die Luftangriffe selbst gesehen so wie jetzt, und er musste zugeben, dass der Mann nicht unrecht hatte. Die Apokalypse war von betörender Schönheit.

Jetzt hatten zwei weitere Scheinwerfer den Bomber erfasst, und es sah fast so aus, als würde die Maschine hilflos auf den hellen Lichterspitzen balancieren.

Hinter sich hörte Hunyadi einen lauten Befehl, und als er sich umdrehte, feuerte das Geschütz. Der Lärm und die Druckwelle rissen ihn von den Beinen. Er taumelte zurück und fiel gegen die Mauer. In seinen Ohren schrillte es, als wäre sein Kopf mit einer Stimmgabel aufgespießt worden. Trotzdem hörte er Gelächter, und aus der Dunkelheit kam eine Hand hervor, die ihm wieder aufhalf.

Das Letzte, was er sah, bevor er wieder in die Munitionskammer zurücktorkelte, war der von winzigen Funken umgebene Bomber, um den herum die Geschosse explodierten. Dann loderte kurz eine orangerote Flamme auf, und das Schrapnell riss den Bomber in Stücke. Der Nachthimmel war wieder leer, und die Suchscheinwerfer nahmen erneut ihre erratischen Wanderungen durch die Schwärze auf.