N ach einer halbstündigen holprigen Fahrt über den Waldweg bog der Lastwagen der Feldgendarmerie mit Kirow und Pekkala auf die Fernstraße nach Berlin ein. Die Straße war breit und leer, hin und wieder standen ausgebrannte Fahrzeuge auf der Fahrbahn, die ihr Fortkommen behinderten. In der Ferne waren mehrere Ortschaften auszumachen, deren schwarze Kirchtürme in den grau-weißen Himmel ragten.

Im Lauf des Vormittags erreichten sie die Berliner Vororte.

Hier sahen sie die ersten Spuren der alliierten Bombardierungen, die den Großteil der Stadt in Schutt und Asche gelegt hatten. Und sie konnten es riechen – der feucht-saure Geruch von gelöschten Bränden vermischte sich mit dem ätzenden Gestank verbrannten Gummis.

Pekkala sah Frauen und alte Männer, die gelbe Backsteine aus den Trümmern der zerstörten Häuser lasen, sie auf Schubkarren luden und davonrollten. Der Staub lag so schwer auf der Kleidung und den Gesichtern der Räummannschaften, dass sie die gleiche Farbe wie die Ziegel angenommen hatten. Ihr Treiben wirkte auf ihn, als würde sich ein riesiges, verwundetes Lebewesen ganz langsam, Stück für Stück, wieder zusammensetzen. Was aber gänzlich unmöglich schien, wie Pekkala meinte, als er den Blick über die Ruinen schweifen ließ, die sich, so weit das Auge reichte, in alle Richtungen erstreckten. Dabei hatte die auf Vergeltung sinnende Rote Armee die Stadt noch nicht mal erreicht. Und wenn die Verteidiger Berlins nur aus Jungen bestanden wie dem, der jetzt neben ihnen saß, würde von der Stadt am Ende nichts mehr übrig bleiben.

Der Lastwagen bog von der Straße ab in einen Hof, wo bereits mehrere Fahrzeuge vor einer hohen, oben mit einbetonierten Glasscherben gespickten Mauer abgestellt waren.

»Willkommen in der Friedrichsfelder Reformschule«, sagte Andreas. »Das ist jetzt das Hauptquartier von Major Rademacher.«

Sie stiegen vom Laster.

Berthold und Andreas führten die beiden Männer ins Gebäude.

Major Rademacher war gerade bei seinem Mittagessen, das aus einem eingelegten Ei und einer rohen Zwiebel bestand, die er klein gehackt, mit dem Ei vermischt und sich auf eine Scheibe Pumpernickel geschmiert hatte. Das alles spülte er mit Milch aus Milchpulver hinunter.

Es ärgerte den Major, dass er so wüst zusammengestellte Mahlzeiten zu sich nehmen musste. Verantwortlich dafür war sein Adjutant, Leutnant Krebs, der auch als Koch, Putzkraft und Diener fungierte. Für die Lebensmittel konnte er Krebs allerdings keine Schuld geben. Dass er noch eine Zwiebel aufgetrieben hatte, konnte er als großen Erfolg verbuchen, und das Ei, auch wenn es eingelegt war, kam nichts weniger als einem Wunder gleich.

Trotzdem hatte er deswegen schlechte Laune, und als die beiden wenig tauglichen Feldgendarmen mit ihren jüngsten Gefangenen aufkreuzten, kamen sie ihm gerade recht.

Rademacher schob seinen Teller zur Seite und griff sich die ungarischen Pässe, die Berthold ihm hinhielt. Er sah kurz darauf und warf sie auf den Tisch, wo Andreas bereits sorgfältig die Waffen ausgebreitet hatte, die sie Pekkala und Kirow abgenommen hatten. »Womit hab ich das bloß verdient?«, stöhnte er. »Ich schick euch los, damit ihr mir Deserteure und Volksfeinde schnappt, und was schleppt ihr mir an? Zwei ungarische Schuhhändler.«

»Der Hauptmann …«, begann Andreas.

»Halt den Mund. Dem gibst du immer die Schuld.«

»Aber es war seine Schuld. Er hat gesagt, wir sollen sie zu Ihnen bringen.«

»Alles, was ihr gemacht habt«, erklärte Rademacher, als spreche er mit Kindern, die noch jünger waren als die beiden vor ihm, »ihr habt diesen … diesen … gibt es, verdammte Scheiße, nicht irgendein Schimpfwort für Ungarn?«

»Ich kenne keins«, antwortete Andreas.

»Ist ja schon schlimm genug, wenn man Ungar ist«, sagte Berthold.

»Also, ihr habt … ihr habt den beiden hier eine kostenlose Taxifahrt in die Stadt spendiert und wertvollen Sprit verschwendet.« Er holte tief Luft, dabei blieb sein Blick an den Waffen hängen. Er griff sich den Webley und richtete ihn auf Kirow und auf Pekkala. »Was zum Teufel wollt ihr damit schießen? Elefanten?« Voller Abscheu warf er den Revolver auf den Tisch.

»Was sollen wir jetzt mit ihnen machen?«, fragte Berthold.

»Woher soll ich das wissen? Die sind doch nicht mein Problem.«

»Wir könnten sie hängen«, schlug Andreas vor.

»Nein, ihr Idioten«, brüllte Rademacher. »Schafft sie mir aus den Augen. Und euch selbst gleich mit dazu.« Wie ein Zauberer wedelte er mit beiden Händen über die auf dem Tisch liegenden Waffen, als könnte er sie damit verschwinden lassen. »Und nehmt die mit.«

Kirow und Pekkala nahmen ihre Papiere an sich, steckten ihre Waffen ein, und die vier Männer verabschiedeten sich eilig.

Rademacher zog wieder seinen Teller zu sich heran. Kurz starrte er auf die Ei-Zwiebel-Pampe auf dem Brot, dann schob er es grummelnd weg.

»Ich hab’s ja gesagt«, maulte Andreas auf dem Weg hinaus in den Hof. »Gesetz ist, was er sagt, und jedes Mal sagt er was anderes.«

»Mit dem Benzin hatten Sie auch recht«, sagte Pekkala.

Die beiden Jungen stiegen wieder in den Lastwagen. Als sie aus dem Hof steuerten, hielten sie noch mal bei Kirow und Pekkala an.

Andreas beugte sich aus der offenen Kabine. »Das nächste Mal«, sagte er bloß, lächelte sie dabei an und umklammerte mit der Hand seinen Hals.

Pekkala und Kirow verließen den Hof, kamen auf die Rummelsburger Straße und gingen nach Westen in Richtung Stadtmitte.

»Gut, Inspektor«, sagte Kirow, »es bleibt Ihnen noch ein Tag vor dem anberaumten Treffen. Geben Sie doch zu, es ist aussichtslos. Sie können sie nicht finden, schon gar nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden.«

»Ihr Vertrauen in mich wird mich beflügeln«, bemerkte Pekkala.

»Ich bin noch bei Ihnen, oder?«, erwiderte Kirow. »Also, würden Sie mir jetzt bitte sagen, was Sie vorhaben?«

»Wenn wir sie nicht finden können, dann finden wir eben den Mann, der sie für uns finden wird.«

Kirow brauchte etwas, bis der Groschen fiel. »Hunyadi?«

»Genau.«

»Und wie wollen Sie das anstellen?«

»Ich hab eine ziemlich gute Idee«, erwiderte Pekkala.