S ie müssen sich keine Sorgen machen«, sagte Hermann Fegelein, als Lilja vor der Polizeiwache anhielt.
»Ich mach mir keine Sorgen«, antwortete sie leise und sah mit starrem Blick auf die regennasse Windschutzscheibe.
Fegelein wusste, dass sie log. Es machte ihn wütend, dass ein ungehobelter Berliner Polizist diese Frau in Unruhe versetzte. Er selbst war aufgrund seines Dienstgrades und Himmlers Unterstützung ja unantastbar, aber diese arme Frau war bloß eine Sekretärin, die sich gegen ernsthafte Anschuldigungen wie diese nicht zur Wehr setzen konnte, vor allem dann nicht, wenn der Kriminalinspektor anscheinend sonst keine Verdächtigen hatte. Dass Hunyadi Fräulein S. vorlud, war für Fegelein nur ein offensichtliches Zeichen von Verzweiflung.
Fast tat ihm Hunyadi schon wieder leid. Er hatte den Befehl, ein Hirngespinst zu verfolgen, das nur in Hitlers Kopf existierte. Selbst wenn die Alliierten Kenntnis von pikanten Klatschgeschichten erlangt haben sollten, würde das kaum kriegsentscheidend sein. Während die aufgeriebene Kriegsmaschinerie des Führers den tatsächlichen Gefahren – achtzig Kilometer weiter östlich wurde gerade eine Million russische Soldaten an der Oder zusammengezogen – nichts mehr entgegenzusetzen hatte.
»Er macht nur seine Arbeit«, versuchte Fegelein sie zu beruhigen. »Er hat mich befragt, und mein Gott, ich bin noch da.« Fegelein lachte und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich weiß, wie diese Leute ticken. Antworten Sie nur auf seine Fragen. Erzählen Sie ihm nichts, wonach er nicht gefragt hat. Antworten Sie kurz und bündig, und Sie sind in null Komma nichts wieder draußen.«
Lilja stieg aus, schloss die Fahrertür und ging die Betontreppe zur Polizeiwache hinauf.
Der diensthabende Beamte am Empfang begleitete sie zu Hunyadis Büro. Auf dem Weg dorthin erwähnte er, dass er bald dienstfrei habe – und ob sie nicht Lust habe, mit ihm etwas trinken zu gehen.
Sie lächelte ihn nur unverbindlich an. »Ich weiß nicht, ob das möglich sein wird«, antwortete sie ausweichend.
Ermutigt durch den Umstand, sich keine glatte Abfuhr geholt zu haben, klopfte er an Hunyadis Tür, öffnete sie, ohne auf eine Antwort zu warten, und bedeutete ihr, einzutreten. »Ich weiß, wo wir Champagner bekommen«, raunte er Lilja zu.
Was Hunyadi nicht entging. »Schließen Sie bitte die Tür von außen«, wies er den Beamten an.
Nachdem Lilja und Hunyadi allein waren, bat er sie, Platz zu nehmen.
Sie setzte sich.
Hunyadi sagte zunächst nichts, sondern musterte seine Besucherin nur. Fegelein mochte ein hinterhältiger Dreckskerl sein, aber er hatte einen guten Geschmack. »Wie lange arbeiten Sie schon für den Gruppenführer?«, fragte er schließlich.
»Fast zwei Jahre.«
»Und wo hat er Sie angestellt?«
»In Paris. Ich habe dort für die Verwaltung Dokumente übersetzt.«
»Vom Deutschen ins Französische?«
»Und umgekehrt. Ja.«
»Er hat Sie vom Fleck weg engagiert?«
»Mehr oder weniger.«
Hunyadi spürte den durchdringenden Blick der Frau. Die rechte Hand, fiel ihm auf, hatte sie leicht zu einer Faust geballt, als wollte sie sofort zuschlagen, falls sie provoziert würde. »Der Gruppenführer ist ein angenehmer Dienstherr?«, fragte er und betonte die Worte so, damit klar wurde, was er eigentlich meinte.
»Ich bin seine Fahrerin. Mehr nicht«, antwortete sie kühl. »Für alles Übrige gibt es andere.«
»Zum Beispiel Elsa Batz?«
»Ja.«
Hunyadi lehnte sich zurück und verschränkte die Hände. »Wissen Sie, warum ich Sie hierherbestellt habe?«
Sie nickte. »Informationen werden an die Alliierten weitergeleitet. Im Führerhauptquartier soll es eine undichte Stelle geben.«
»Wer sagt das?«
Lilja atmete scharf aus. »Man weiß nicht, wer die undichte Stelle ist, aber jeder, der im Führerbunker ein und aus geht, weiß, warum Sie da sind.«
»Gehen Sie im Führerbunker ein und aus?«
»Nein. Ich habe noch nie einen Fuß hineingesetzt.«
»Aber Ihnen muss das eine oder andere zu Ohren gekommen sein. Klatsch und so.«
»Ich höre nur, was Gruppenführer Fegelein will, dass ich höre. Er hat die höchste Geheimhaltungsstufe und genießt das volle Vertrauen von Heinrich Himmler. Genauso gut könnten Sie den Führer selbst beschuldigen – verzeihen Sie, wenn ich das sage, Herr Kriminalinspektor.«
»Und wen würden Sie, Fräulein Simonowa, an meiner Stelle beschuldigen?«
Sie dachte kurz nach. »Jemanden wie mich. Einen Außenstehenden. Jemanden, den man nicht weiter vermissen würde.«
Bei diesen Worten schweiften Hunyadis Gedanken ab. Er dachte nicht mehr an die schöne Frau, die vor ihm saß, oder an den Grund, warum sie hier war, sondern an seine eigene Frau. Er erhob sich und stützte sich mit den Fingern auf dem Schreibtisch ab, als fiele es ihm schwer, das Gleichgewicht zu halten. »Danke«, sagte er mit heiserer Stimme. »Sie können gehen.«
Lilja Simonowa verließ das Gebäude über den Hinterausgang, um nicht erneut dem diensthabenden Beamten über den Weg zu laufen. Die Tür führte hinaus in eine schmale Straße, auf deren anderen Seite ein verlassener Wohnblock lag.
Der Regen war stärker geworden. Die Luft roch nach feuchter Asche.
Eine Minute lang lehnte sie mit dem Rücken an der Hauswand und spürte, wie sich ihr Herzschlag allmählich beruhigte. Langsam löste sie die Faust und brachte damit eine kleine Kapsel in einem dünnen braunen Gummiüberzug zum Vorschein. Sie war mit Zyankali gefüllt. Man hatte sie ihr vor ihrer Abreise aus England gegeben, seitdem hatte sie sie immer bei sich. Beim Betreten der Polizeiwache hatte sie nicht gewusst, ob sie jemals wieder herauskommen würde. Eine Frage zu viel vom Kriminalinspektor, und sie hätte sich die Kapsel in den Mund gesteckt und zerbissen, und die schimmernde Flüssigkeit hätte sie in wenigen Sekunden getötet. Aber Hunyadi hatte sich als freundlich erwiesen. Als zu freundlich vielleicht. Die Gefahr war noch nicht gebannt. Die Zeit für die Kapsel könnte noch kommen. Sie steckte sie in die kleine Lasche am Kragen ihrer Lederjacke und trat hinaus auf die Straße, wo Fegelein im Wagen wartete.
»Na, sehen Sie«, begrüßte er sie lächelnd, nachdem sie hinter dem Steuer Platz genommen hatte. »Es gab überhaupt keinen Grund zur Sorge, oder?«
»Nein«, antwortete sie leise und legte den Gang ein. »Es war genau so, wie Sie gesagt haben.«