F egelein suchte keinen Luftschutzraum auf.

Als am westlichen Stadtrand die ersten Bomben fielen, befand er sich bereits im Salon Kitty. Das Etablissement hatte gerade seine Pforten geöffnet, als die Sirenen die Tänzerinnen und ihre Klientel aus hochrangigen Offizieren in die Luftschutzräume trieben. Nur Fegelein und ein anderer Gast blieben an der Bar sitzen und tranken jeweils ein Glas Bier.

Der Fremde hieß Thomas Hauer und war ein ehemaliger Agent der Abwehr. Sein einstiger Vorgesetzter, Admiral Canaris, war im Moment im Sondertrakt des KZ Flossenbürg inhaftiert, in dem vor nicht allzu langer Zeit auch Hunyadi eingesessen hatte.

Canaris’ Weg nach Flossenbürg war dabei keineswegs so geradlinig verlaufen wie der von Hunyadi.

Der deutsche Geheimdienst bestand aus zwei Sparten, dem militärischen Geheimdienst, der sogenannten Abwehr, die zuletzt unter Leitung von Admiral Canaris gestanden hatte, sowie dem Sicherheitsdienst des Reichsführers SS , kurz SD genannt, der von Heinrich Himmlers SS kontrolliert wurde.

Von Anfang an hatten beide Organisationen in einem starken Konkurrenzverhältnis zueinander gestanden, was dazu geführt hatte, dass Himmler persönlich darauf hinarbeitete, die Abwehr zu zerstören. 1944 hatte er es schließlich geschafft.

An einem kalten Februarnachmittag trafen Feldmarschall Keitel und General Jodl in Zossen ein, dem Hauptquartier des Oberkommandos des Heeres, wo auch das Amt Ausland/Abwehr untergebracht war. Die beiden Offiziere betraten inmitten hoher Kiefern einen getarnten Bunker. Dort informierten sie Canaris über Hitlers Entscheidung, die Abwehr und den SD zusammenzuschließen. Bis dahin solle sich Canaris auf der Burg Lauenstein im Frankenwald »in Bereitschaft« halten.

Canaris gab sich keinen Illusionen hin: Obwohl es nicht ausdrücklich gesagt wurde, war er damit unter Hausarrest gestellt. Vorgeworfen wurden ihm angebliche Kontakte zu britischen Agenten, außerdem sollte er Vatikanvertretern Informationen übergeben haben, der wahre Grund für seine Kaltstellung waren aber Heinrich Himmlers Intrigen.

Wenige Stunden später hatte Canaris sein Büro geräumt und wurde von seinem Fahrer in einem Mercedes-Stabswagen in den Süden chauffiert.

In den folgenden Wochen konnte sich Canaris auf dem Gelände der Burg frei bewegen, auf seinen Spaziergängen wurde er von zwei Dackeln begleitet, aber er war von allen Nachrichten so gut wie abgeschnitten.

Ende Juni dieses Jahres wurde Canaris zu seiner eigenen Überraschung freigelassen und durfte in sein Haus in der Betazeile 14 in Berlin zurückkehren. Dort erfuhr er, dass seine Gegner während seiner De-facto-Internierung auf Burg Lauenstein nicht untätig gewesen waren. Die Abwehr, die er unter so großen Mühen aufgebaut hatte, existierte nicht mehr. Sämtliche Abteilungen der Abwehr waren in den entsprechenden Abteilungen des SD aufgegangen, alle Abwehragenten waren von ihren Posten abberufen, und man hatte ihnen, je nach ihrer Bedeutung für Himmlers zukünftige Unternehmungen, neue Aufgaben zugewiesen oder sie ganz entlassen.

Das endgültige Aus für Canaris kam einige Monate später, als in Zossen ein Safe entdeckt wurde, in dem sich unwiderlegbare Beweise für Canaris’ Beteiligung am Anschlag auf Hitler im Juli 1944 befanden. Das fehlgeschlagene Attentat hatte zur Verhaftung und Hinrichtung zahlreicher hoher deutscher Offiziere geführt.

Canaris, wegen Hochverrats verurteilt, wurde nach Flossenbürg gebracht, wo er auf seine Hinrichtung wartete. Anders als Hunyadi sollte er das Konzentrationslager nicht mehr lebend verlassen.

Noch während Canaris’ Aufenthalt auf Burg Lauenstein war Fegelein von Himmler mit der Aufgabe betraut worden, den noch verbliebenen Abwehr-Agenten neue Posten zuzuweisen.

Im Zuge dieser Arbeit ging er die privaten Papiere des Admirals durch, in der Hoffnung, auf belastendes Material zu stoßen, mit dem er hohe Beamte und Offiziere erpressen könnte. Dabei fiel Fegelein eine Namensliste von Agenten in die Hände, die Canaris nie offiziell für die Abwehr eingesetzt hatte. Die jungen Männer und Frauen waren von ihm persönlich ausgebildet worden und dienten als Reserve für Missionen, die aus welchen Gründen auch immer nirgends offiziell auftauchen sollten.

Statt die Liste Himmler zu übergeben, suchte Fegelein die Agenten persönlich auf. Er witterte eine Gelegenheit, die ihm lukrativer erschien als der halbherzige Dank seines Vorgesetzten. Einige der Dutzend Agenten waren bereits offiziell als tot verzeichnet, andere waren von ihren Einsätzen nicht zurückgekehrt und galten als vermisst, zwei hatten Selbstmord begangen, als sie hörten, dass Fegelein ihnen auf der Spur war. Nur einer, Thomas Hauer, hatte so viel praktischen Sachverstand gezeigt, um am Leben zu bleiben. Und Fegelein versicherte ihm, so könne es auch bleiben, ja, sein Leben könne sich sogar noch verbessern, solange er sich als nützlich erweisen würde. Hauer hatte das in der kurzen Zeitspanne, in der sie sich mittlerweile kannten, mehrmals unter Beweis gestellt.

Der ehemalige Agent blickte sich um. »Wie nett, dass uns alle ganz allein gelassen haben«, sagte er zu Fegelein. »Man könnte fast meinen, Sie hätten den Luftangriff bestellt.«

»Das war nicht nötig«, antwortete Fegelein, der nun hinter die Theke ging und sich unter den Flaschen eine aussuchte. »Die Royal Air Force, die seit einem Monat fast jede Nacht angreift, zeichnet sich durch ein bewundernswertes Maß an Pünktlichkeit aus.« Er schenkte sich ein Glas Pernod ein. »Ich hab mich in Paris daran gewöhnt«, sagte er und hielt das honigfarbene Getränk hoch, als wollte er dessen Klarheit bestimmen. Dann gab er Wasser aus einem Krug hinzu, worauf sich die Flüssigkeit milchig weißgelb verfärbte.

»Riecht wie Lakritz«, sagte Hauer.

»Ein entfernter Verwandter des Absinth«, antwortete Fegelein. »Soll das Bewusstsein erweitern.« Er nahm einen Schluck.

»Ach ja?«

»Leider nicht weit genug, damit ich das hier übersetzen könnte.« Fegelein legte das Blatt mit der verschlüsselten Nachricht auf die Theke.

Ohne auf die Bombendetonationen zu achten, nahm Hauer das Blatt entgegen und breitete es vor sich aus. »Warum kommen Sie damit zu mir?«, fragte er und betrachtete den Text. »Warum bringen Sie das nicht Ihren eigenen Leuten?«

»Weil ich befürchte, dass die vielleicht schon wissen, was drinsteht.«

»Es geht also um interne Ermittlungen?«

»So kann man das wohl nennen.«

»Gut, auf den ersten Blick würde ich sagen, es ist eine Goliath-Verschlüsselung.«

»Goliath?«

Hauer lehnte sich auf seinem Hocker zurück und ließ das Blatt los. »Was wissen Sie über Kryptografie?«

»Genug, um zu wissen, wo ich mir Hilfe holen muss.«

»Die Goliath-Verschlüsselung ist eine von mehreren Methoden, die die Alliierten benutzt haben«, erklärte Hauer. »Sie wurde fünf Jahre vor dem Krieg von den Briten entwickelt. Heutzutage gilt sie als etwas antiquiert, aber sie ist nach wie vor zuverlässig. Viele Agenten verwenden sie seit langer Zeit. Jede Nachricht besitzt ihren eigenen Schlüssel, ohne den sie nahezu unmöglich zu entschlüsseln ist.«

»Und wo bewahrt man diesen Schlüssel auf?«

»Auf einem Stück Seidenstoff. Der ist etwa so groß wie ein Taschentuch und kann auf die Größe eines kleinen Fingers zusammengelegt oder zerknüllt werden. Aufgedruckt sind Dutzende kleiner Quadrate mit Zufallszahlenreihen, die als Schlüssel verwendet werden können. Wird einer davon benutzt, schneidet der Funker ihn einfach aus dem Taschentuch. Wenn nötig, kann sogar das ganze Seidentuch in einer Lösung aus Essig und heißem Wasser kurzerhand aufgelöst werden.«

»Ohne dieses Seidentuch«, murmelte Fegelein mit einem Seufzen, »ist also nichts zu machen.«

Zwei Straßenzüge weiter schlug eine Bombe ein. Die Lichter flackerten.

»Nicht unbedingt«, erwiderte Hauer.

»Was soll das heißen?«

»Im Lauf des Krieges hat die Abwehr eine umfangreiche Sammlung solcher Seidentücher angelegt. Sie wurden entweder Agenten abgenommen, die keine Zeit mehr hatten, sie vor ihrer Verhaftung zu zerstören, oder den Behältern entnommen, die die Alliierten über unser Gebiet abgeworfen haben und an die wir vor den feindlichen Agenten gekommen sind. Man hat festgestellt, dass sich manche Schlüssel wiederholen. Nachdem wir mit unterschiedlichen Algorithmen experimentiert haben, konnten wir eine ganze Reihe dieser Schlüssel auf abgefangene Meldungen anwenden. Das funktioniert nicht immer, aber doch relativ häufig.«

»Und haben Sie diese Algorithmen? Können Sie das hier entschlüsseln?«

»Die Antwort auf beide Fragen lautet: vielleicht.«

»Sie haben sie, oder?«

»Sagen wir so, Herr Gruppenführer: Admiral Canaris war nicht so naiv anzunehmen, dass sein Hauptquartier, dem zwar feindliche Bomberangriffe nichts anhaben konnten, gegen die Machenschaften der SS geschützt wäre.«

»Sie meinen, irgendwo da draußen gibt es noch Akten der Abwehr?«

»Ja«, bestätigte Hauer. »Aber die werden Sie nie finden. Und wenn ich Ihnen helfen soll, rate ich Ihnen, sie auch gar nicht zu suchen.«

»Schön«, rief Fegelein gereizt. »Ich hab dafür sowieso keine Zeit.« Er tippte mit dem Finger auf das Blatt. »Momentan kommt es nur darauf an, den Text hier zu entschlüsseln, und zwar schnell. Noch heute Nacht.«

Hauer griff sich einen Bierdeckel, drehte ihn um und kopierte die Nachricht mit einem Bleistiftstummel, den er aus seiner Tasche gefischt hatte.

»Was machen Sie da?«, fragte Fegelein.

»Übliche Vorsichtsmaßnahme. Wenn mir was zustößt, verlieren Sie nicht die Nachricht, nur den Überbringer.«

»Die Logik der Abwehr«, murmelte Fegelein.

Hauer sah auf. »Wenn Ihnen das nicht gefällt, müssen Sie sich einen anderen suchen.«

»Nein, nein. Machen Sie, wie Sie wollen. Nur machen Sie.«

»Ich habe nicht behauptet, dass ich es auf jeden Fall entschlüsseln kann.«

»Ich habe großes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten. Schließlich wissen Sie, dass ich großzügig zahle, und nicht in Reichsmark, die wird sowieso bald nicht mehr viel wert sein.«

Nachdem Hauer die Nachricht abgeschrieben hatte, nahm Fegelein wieder das Original an sich, faltete es und steckte es in die Brusttasche.

»Ich weiß, dass Sie zahlen«, antwortete Hauer ganz ruhig, »bis zu dem Tag, an dem Sie mich nicht mehr brauchen. Und dann werde ich tot sein.«

Fegelein hob seinen Pernod und stieß gegen Hauers Glas. »Wir werden beide zur Hölle fahren, mein Freund. Die Frage ist nur, wann.«