A ls die Luftschutzsirenen Entwarnung gaben, stiegen Kirow und Pekkala mit den anderen die Treppe hinauf und traten hinaus in die Nacht. Dicht hing der Staub in den Straßen, es roch nach verschmorten Stromkabeln, da sich die Luft durch die gewaltigen Sprengstoffexplosionen elektrisch aufgeladen hatte.

Die Straßenbeleuchtung war dunkel, die Menschen tasteten sich mit Taschenlampen voran, deren Lichtstrahlen sie mit den Händen abschirmten, sodass ihre Finger zu glühen schienen.

Bombenschäden in den Straßen, die zum Teil von Luftschutzhelfern abgesperrt wurden, zwangen sie zu mehreren Umwegen.

Hunyadis dreistöckiges Gebäude hatte einige Schäden davongetragen. Ursache dafür schien eine riesige Bombe gewesen zu sein, die eine Straße weiter detoniert war und einen sechs Meter tiefen Krater in den Boden gerissen hatte. Die Außenfassaden der Häuser zu beiden Seiten waren weggesprengt, Zimmer lagen frei, Betten balancierten gefährlich schief auf abgesplitterten Bodendielen, und an den Rückwänden hingen noch Uhren.

Hunyadis Wohnhaus schien dem Angriff standgehalten zu haben, nur die oberen Fensterscheiben waren zerbrochen, die Eingangstür war aus den Angeln gerissen.

Pekkala studierte die Briefkästen gleich neben der Tür, bis er Hunyadis Namen und Wohnungsnummer fand. Er und Kirow traten ein, argwöhnische Blicke der Bewohner folgten ihnen, aber keiner sprach sie an. Wie Hunyadi im Luftschutzraum kamen auch sie schnell zu der Schlussfolgerung, dass Männer in Zivilkleidung nur Angehörige der Gestapo sein konnten.

Hunyadis Wohnung lag am Ende des Flurs im ersten Stock.

Pekkala klopfte leise an, aber es kam keine Antwort.

Sie warteten, bis keiner mehr auf dem Stockwerk zu sehen war, dann brach Kirow das Schloss auf, und die beiden Männer traten mit gezückten Waffen ein.

Das Zimmer war sauber, die Einrichtung hatte allerdings schon bessere Tage gesehen. In der Küche, auf dem einzigen Gasring des Herds, stand ein Topf mit pechschwarzem und nach Zichorien riechendem Ersatzkaffee. Auf dem hölzernen Abtropfgitter auf der Spüle befanden sich eine cremefarbene Emailletasse und eine dazu passende Schale, deren blauer Rand teilweise angeschlagen war. Mit Ausnahme einiger Bilder an den Wänden, die Hunyadi bei diversen Polizeitreffen zeigten – sie waren datiert von den Zwanziger- bis in die späten Dreißigerjahre –, war das Zimmer fast so spartanisch eingerichtet wie Pekkalas Wohnung in Moskau.

Kirow ging das Gleiche durch den Kopf. »Wenigstens sieht es so aus, als würde er in seinem Bett schlafen«, bemerkte er. »Und nicht auf dem Boden.«

Pekkala sah zum Bett. Es war kaum breiter als eine Armeepritsche und auch genauso gemacht, Laken und Decke waren sorgfältig unter die Matratze gestopft und festgezurrt, oben am Kissen war das Laken genau eine Handbreit über der Decke umgeschlagen.

Dann fiel Pekkala ein kleines gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto auf dem Nachttisch auf. Es war das einzige Foto, auf dem Hunyadi nicht in Uniform abgebildet war. Neben ihm stand eine Frau mit schmalem Gesicht und langen schwarzen Haaren. Hunyadi hatte ihr den Arm um die Hüfte gelegt. Sie standen auf einem Balkon mit Blick aufs Meer. Der Mauerbogen, der am Rand des Bildes abgebildet war, hatte etwas Mediterranes – Griechenland, Italien, er wusste es nicht genau. Im Hintergrund war ein Segelboot zu erkennen, das auf dem mattgrau erscheinenden Wasser ankerte. Pekkala wünschte sich, er könnte sehen, wie blau das Meer wirklich war.

Das Foto überraschte ihn. Es passte so gar nicht zu allem anderen im Zimmer. Hunyadi lebte allein hier. So viel stand fest. War diese Frau also seine jetzige Freundin? Unwahrscheinlich, wenn man bedachte, dass die Fotografie vor einiger Zeit aufgenommen worden sein musste – das gesamte Mittelmeer war in den vergangenen fünf Jahren Kriegsgebiet gewesen – und sich auch sonst keinerlei Spuren von ihr in der Wohnung fanden. Eine Verwandte? Pekkala verwarf auch das aufgrund der fehlenden äußerlichen Ähnlichkeit und der Art, wie das Paar vor der Kamera stand, Hüfte an Hüfte, während er den Arm um sie gelegt hatte. Die Ex-Frau? Das kam ihm nun am unwahrscheinlichsten vor, nicht nur, weil es das Foto überhaupt gab, sondern vor allem, wo es stand. Oder war sie tot? In Pekkalas Kopf machte es klick. Das musste die Antwort sein.

Mit einem Mal empfand er Mitgefühl für Hunyadi. Er versuchte es abzuschütteln, aber es hielt sich hartnäckig. Schon bevor er das Zimmer überhaupt betreten hatte, hatte er sich bereits überlegt, welche Ähnlichkeiten zwischen seinem und Hunyadis Leben bestanden. Beide gingen sie der gleichen Arbeit nach. Beide standen sie im Dienst von Despoten, die sich bis in alle Ewigkeit ihrer Taten zu verantworten haben würden. Beide bewegten sie sich auf dem schmalen Grat zwischen dem Versuch, Gutes zu tun in einem Land, das vom Bösen regiert wurde, und der Gefahr, dabei selbst zu diesem Bösen zu werden.

Zu sehen, was Hunyadis Leben ausmachte, hatte Pekkalas Mitgefühl noch verstärkt. Für jene, die es nicht besser wussten, schien ein solches, auf das Notwendigste reduzierte Leben nichts anderes zu sein als die Negation seiner selbst. Aber das täuschte. Die Gegenstände in diesem Zimmer gehörten einem Mann, der wusste, dass er von dem einen auf den anderen Tag alles verlieren konnte. Und so konnte er nur weiterleben, wenn es nicht viel gab, das ihm etwas bedeutete. Während seiner Zeit in Sibirien hatte Pekkala eines gelernt: Je mehr man sich an alles klammert, was man wertschätzt auf der Welt, desto wertloser wird es. Irgendwann, dachte Pekkala, war Hunyadi für sich zu der gleichen Schlussfolgerung gelangt.

Aber dieses Foto hatte Pekkala am stärksten berührt. Falls es ihm nicht gelingen sollte, Lilja zu finden und sie sicher aus Berlin rauszuholen, hatte sie so gut wie keine Überlebenschance. Dann würde das zerknitterte Foto, das er die vielen Jahre über aufbewahrt hatte, zu einem Symbol der Erinnerung werden, aber nicht mehr zu einem der Hoffnung, wie es jetzt eines war.

Pekkala wappnete sich gegen das, was er vielleicht bald tun musste.

Wenn Hunyadi seine Hilfe verweigerte, bliebe ihnen nichts anderes übrig, als die Suche einzustellen und Berlin so schnell wie möglich zu verlassen. Und sie würden Hunyadi töten müssen. Ihn einfach nur fesseln und in seiner Wohnung lassen, wo er nur wenige Stunden später von neugierigen Nachbarn gefunden würde, würde ihnen nicht genügend Zeit für die Flucht geben. Außerdem reichte es nicht, nur Berlin zu verlassen. Sie mussten sich zu den russischen Linien durchschlagen, durch eine Gegend, in der es vor Exekutionskommandos nur so wimmelte.

In diesem Moment hörte er jemanden an der Tür.