L angsam schlug Hunyadi die Augen auf.

Ein heftig pochender Schmerz saß in seiner rechten Schläfe.

Er bemühte sich, klar zu sehen, und erst jetzt erkannte er, dass er sich in seiner Wohnung befand und man ihm ein Taschentuch in den Mund gestopft hatte.

Hunyadi wollte es entfernen, aber seine Hände waren mit den Schnürsenkeln seiner eigenen Schuhe an die Armlehnen des Stuhls gefesselt, in dem er saß. Und mit seinem Gürtel hatte man ihm die Beine auf Höhe der Knöchel zusammengebunden.

Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war, dass er die Tür zu seiner Wohnung geöffnet hatte.

Ab diesem Augenblick war nur noch Leere.

Jetzt trat ein Mann vor ihn. An den Schläfen war sein Haar bereits grau, alte Narben zogen sich über sein wettergegerbtes Gesicht. Aufgrund von Frau Greipels Beschreibung erkannte Hunyadi ihn als den Mann, der ihn auf der Polizeiwache aufgesucht hatte.

Hunyadi hatte keine Angst, trotz seiner Wehrlosigkeit. Wenn dieser Fremde ihn hätte umbringen wollen, hätte er es längst getan.

»Sie werden sich leise verhalten?«, fragte der Fremde.

Hunyadi nickte.

Das Taschentuch wurde ihm aus dem Mund genommen.

»Sie sind Pekkala«, sagte Hunyadi.

»Richtig«, erwiderte der andere.

Hunyadi versuchte den Akzent des Fremden einzuordnen. Er sprach gut Deutsch, aber es war eindeutig nicht seine Muttersprache. Er hätte auf einen Russen getippt, hätte bei seinem Akzent nicht noch etwas anderes mitgeschwungen, etwas Abgehacktes, Scharfes, was er nicht recht benennen konnte. »Frau Greipel sagt, Sie wollen mit mir reden.«

»Ja.«

»Dann hätten Sie das auch einfacher haben können.«

»Unter den gegenwärtigen Umständen neige ich dazu, Ihnen zu widersprechen.«

Wer bist du?, fragte sich Hunyadi. Warum nimmst du das Risiko auf dich, hierher zu kommen? Aber er behielt die Fragen für sich.

»Sie suchen jemanden«, sagte Pekkala.

»Ja«, bestätigte Hunyadi. »Damit verdiene ich mir meinen Lebensunterhalt, mehr oder weniger.«

»Und haben Sie die Person, die Sie suchen, schon gefunden?«

»Noch nicht.«

»Aber Sie sind nah dran?«

»Wenn Sie mit mir auf die Wache in Pankow kommen, teile ich Ihnen gern die bisherigen Ergebnisse meiner Ermittlungen mit.«

»Ich sagte Ihnen doch, es wird nicht klappen«, war nun jemand direkt hinter ihm zu hören. Auf Russisch.

Hunyadi fuhr zusammen. Nicht nur war noch jemand mit im Zimmer, dieser andere sprach auch noch Russisch. Bis jetzt war er relativ ruhig geblieben, jetzt aber beschleunigte sich sein Herzschlag um einiges.

Der Russe trat vor Hunyadi. Er hatte eine ungarische Pistole in der Hand und sah ihn durchdringend an. »Sie haben mich verstanden, oder?«

»Ja«, antwortete Hunyadi. Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen.

Kirow beugte sich zu ihm hinunter, sodass sie auf Augenhöhe waren. »Hören Sie«, sagte er leise, »diese Person, die Sie suchen, die suchen wir auch, und wir glauben, dass Sie wissen, wo sie ist.«

»Wie kommen Sie darauf?«, antwortete Hunyadi, nun ebenfalls auf Russisch. Es war Jahre her, dass er Russisch gesprochen hatte.

»Weil«, antwortete Pekkala, »Sie Leopold Hunyadi sind und man Sie nicht mit dieser Aufgabe betraut hätte, wenn Sie nicht der Beste dafür wären.«

»Dann muss ich Sie leider enttäuschen. Ich habe die fragliche Person noch nicht gefunden. Und selbst wenn, warum meinen Sie, ich würde Ihnen helfen?«

»Weil Sie damit vielleicht Ihr Leben retten«, sagte Kirow. »Das jedenfalls tun Sie nicht, wenn Sie uns nicht helfen.«

Hunyadi lachte heiser. »Ich glaube, Sie verstehen die Situation nicht ganz. Hitler persönlich hat mich mit diesem Fall beauftragt. Wenn ich ihn nicht löse, wird mir Schlimmeres blühen, als Sie mir jemals antun können. Also los, ihr bolschewistischen Verbrecher, erschießt mich ruhig.«

Kirow sah zu Pekkala. »Wir verschwenden unsere Zeit, Inspektor.« Er legte Hunyadi die Waffe an den Kopf.

»Inspektor?«, kam es von Hunyadi.

»Ja«, sagte Pekkala und hob die Hand, damit Kirow noch wartete, bevor er abdrückte. »Ich bin Inspektor Pekkala vom Büro für Besondere Operationen in Moskau. Und der Mann, der seine Waffe auf Ihren Kopf richtet, ist Major Kirow.«

»Sind Sie zufällig mit dem Mann verwandt, den man das Smaragdauge nennt?«, fragte Hunyadi.

»Verwandt?« Jetzt musste Kirow lachen. »Er ist das Smaragdauge.«

Hunyadi blinzelte verdutzt. »Aber ich habe gehört, er wäre tot.«

»Die Gerüchte sind mir ebenfalls zu Ohren gekommen«, sagte Pekkala, »und es gab Zeiten, da hätten sie sich fast bewahrheitet.« Er stülpte seinen Mantelkragen um und ließ ihn das Abzeichen sehen, das ihm der Zar vor so langer Zeit verliehen hatte.

Erstaunt starrte Hunyadi auf den Smaragd, der, als das Licht auf ihn fiel, zu schimmern schien, als würde er ihm zublinzeln.

»Wir sind nicht hier, um Ihr Leben zu beenden«, sagte Pekkala, »sondern um das einer anderen Person zu retten. Und das wäre immer noch möglich, wenn wir uns zusammenschließen und unser Wissen austauschen. Im Gegenzug garantiere ich Ihnen, dass wir Ihnen helfen werden, aus der Stadt zu kommen, die bald ein Schlachtfeld sein wird.«

»Diese Stadt ist meine Zuhause«, erwiderte Hunyadi, »es bringt gar nichts, wenn Sie mich bitten, sie zu verlassen – selbst wenn das heißen sollte, dass ich hier sterben werde.«

»Ich kann gut nachvollziehen, wenn Ihnen das eigene Leben so wenig wert ist, dass Sie keinen Anlass sehen, uns zu helfen«, fuhr Pekkala fort. »Und da Sie uns helfen sollen, jemanden zu retten, der gegen den Führer Ihres Landes gearbeitet hat, kann ich Ihnen noch nicht einmal einen Grund nennen, warum Sie es tun sollten.« Pekkala zeigte auf das Bild von Hunyadi und der Frau. »Aber was ist mit ihrem Leben? Haben Sie in Betracht gezogen, was mit ihr geschieht, wenn die Rote Armee einmarschiert?«

»Natürlich habe ich das in Betracht gezogen!«, fuhr Hunyadi auf. »Meinen Sie, ich mache das alles für Hitler? Er hat mich nach Flossenbürg geschickt und zum Tod verurteilt, weil ich die Frau auf dem Foto geheiratet habe.«

»Warum sind Sie dann noch am Leben?«, fragte Kirow.

»Damit ich die undichte Stelle im Führerbunker ausfindig mache. Sonst gibt es keinen Grund.«

»Wo ist Ihre Frau jetzt?«, fragte Pekkala.

»In Spanien. Ich war so naiv zu glauben, sie wäre dort in Sicherheit. Aber sie wird als Geisel festgehalten, damit ich tue, was Hitler von mir verlangt.«

»Und wenn Sie mit leeren Händen vor Hitler treten, was dann?«, fragte Pekkala.

»Vielleicht schaffe ich es ja.«

»Vielleicht«, stimmte Pekkala zu. »Und Sie wollen nach wie vor dieses Risiko eingehen?«

»Ich habe keine andere Wahl.«

»Jetzt schon«, sagte Pekkala. »Wir haben ebenfalls Leute in Spanien. Ich kann dafür sorgen, dass Sie beide gerettet werden.«

»Selbst wenn das stimmen sollte«, sagte Hunyadi. »Warum sollte ich Ihnen mehr trauen als ihm?«

»Weil ich auch als Geisel gehalten werde«, erwiderte Pekkala. »Ich bin nicht nach Berlin gekommen, weil ich treu zu irgendeiner Sache stehe – genauso wenig, wie Sie deswegen hier sind.« Er zog das Foto von sich und Lilja aus der Manteltasche und zeigte es Hunyadi. »Die Frau auf dem Bild ist die, die ich retten will, und sie bedeutet mir ebenso viel wie Ihnen Ihre Frau.«

»Wollen Sie uns jetzt helfen oder nicht?«, fragte Kirow.

Eine Weile lang sagte Hunyadi nichts, sondern starrte nur auf den Boden und atmete langsam ein und aus. Schließlich sagte er leise: »Binden Sie mich los.«

»Machen Sie schon«, befahl Pekkala Kirow.

»Inspektor …«, murmelte Kirow nervös.

»Machen Sie schon!«

Kirow seufzte. Dann steckte er seine Pistole ins Holster und löste Hunyadis Fesseln.

Langsam erhob sich der Berliner Polizist. »Vor zwei Tagen«, erzählte er ihnen, »habe ich im Haus eines ungarischen Diplomaten ein Funkgerät gefunden.«

»Ein Ungar, sagen Sie?«, fragte Kirow.

»Ja. Er wollte gerade einen Funkspruch absetzen, als ich ins Zimmer gestürmt kam.«

»Sie haben den Funkspruch?«

»Ja. Aber er ist verschlüsselt.«

»Wo ist er jetzt?«

»Ich habe ihn jemandem gegeben, der mir seine Hilfe angeboten hat, ihn zu entschlüsseln, ohne dass die offiziellen Stellen etwas davon mitbekommen. Hinter dieser undichten Stelle kann so ziemlich jeder stehen, und ich weiß nicht, wem ich trauen kann.«

»Aber Sie trauen dieser Person?«

»Ganz und gar nicht. Es gab nur keinen anderen, an den ich mich hätte wenden können.«

»Und ist die Nachricht entschlüsselt?«

»Noch nicht. Zumindest nicht, dass ich wüsste. Die betreffende Person wollte sich melden, sobald sie etwas hat. Ich habe noch nichts gehört.«

»Und der Ungar?«, fragte Pekkala. »Wo ist er.«

»Im Leichenschauhaus der Polizeiwache Köpenick. Er hat sich umgebracht, bevor ich ihn befragen konnte.«

»Und wer ist jetzt in der Wohnung des Ungarn?«

»Niemand. Sie ist leer.«

»Können Sie uns hinbringen?«

Hunyadi sah sich im Zimmer um. Er schien ein Inventar seiner spärlichen Besitztümer zu erstellen, dann ging er zum Nachtkästchen und nahm den billigen Holzrahmen mit dem Foto seiner Frau zur Hand. Er hielt ihn an der aufklappbaren Lasche fest, mit der der Rahmen aufrecht aufgestellt werden konnte, und riss die Rückseite weg. Dann nahm er das Foto heraus und steckte es in die Innenseite seines Mantels. Schließlich drehte er sich zu Kirow und Pekkala um. »Folgen Sie mir.«