A ls Fegelein in Liljas Wohnung eintraf, war die Tür nicht abgesperrt, das Zimmer war leer.
Sie muss in Panik geraten sein, dachte Fegelein. Immerhin bin ich fast eine Stunde zu spät dran.
Aber wohin hatte sie gehen können? Der einzige Ort, der ihm einfiel und sinnvoll erschien, war Elsas Wohnung. Lilja musste dorthin unterwegs gewesen sein, während er auf dem Weg hierher war. Da er sich ihre Abwesenheit sonst nicht erklären konnte, eilte er in die Bleibtreustraße zurück. Seine kleine Mappe verstaute er so lange im Schrank unter der Treppe, wo der Hausmeister, Herr Kappler, seinen Besen aufbewahrte, mit dem er so ausgiebig den Gehweg kehrte.
Fegelein betrat die Wohnung, als sich Elsa gerade aus dem Bett schälte. Wie immer griff sie als Erstes zu ihrer Handtasche auf dem Nachttisch und dem Lippenstift darin, mit dem sie sich, den Blick auf den kleinen Spiegel an der Tür gerichtet, die Lippen mohnrot nachzeichnete.
Fegelein hatte nie verstanden, warum sie das tat. Der Lippenstift stammte von der französischen Firma Guerlain, er gehörte zu den letzten Beständen in Berlin und kostete deshalb ein Vermögen. Das meiste davon landete anschließend am Rand ihrer Kaffeetasse, sodass sie den Lippenstift, wenn sie mit dem Frühstück fertig war, sofort wieder nachziehen musste. Aber jetzt war nicht die Zeit, sich über solche Dinge Gedanken zu machen.
»Wo warst du?«, fragte sie, den Blick immer noch auf den Spiegel gerichtet.
Unter normalen Umständen hätte Fegelein ihr ebenso rasch und mühelos eine Lüge auftischen, wie er die Wahrheit hätte sagen können, jetzt aber, nachdem er Lilja nicht hatte finden können, war er so durcheinander, dass in seinem Kopf nur gähnende Leere herrschte. »Ich war spazieren«, stammelte er.
Sie lachte. »Das wäre das erste Mal gewesen.«
Es war ihm egal, ob sie ihm glaubte oder nicht. »War jemand während meiner Abwesenheit da?«
Sie sah zu ihm. »Warum sollte irgendjemand so früh kommen?«
Fegelein schüttelte nur den Kopf. »Ist nicht wichtig«, sagte er noch und ging in die Küche. Ihm knurrte der Magen. Er hatte noch nicht gefrühstückt.
»Was ist los mit dir?«
»Nichts«, blaffte er. »Lass mich.«
In diesem Moment klopfte es an der Tür.
Fegelein wurde übel. Lilja ist gekommen, dachte er. Aber wie sollte er erklären, warum er sich immer noch in der Wohnung aufhielt? Lilja holte ihn häufig hier ab, dann rief sie aber immer unten von Herrn Kapplers Telefon an. Er hatte Angst, dass ihm Elsa vor Lilja eine Szene machen könnte, wenn ihr klar wurde, dass er sich hinter ihrem Rücken aus dem Staub machen wollte.
Ich sage einfach, es steht ein wichtiges Treffen im Führerbunker an, dachte Fegelein. Ich sage, das Telefon unten funktioniert nicht mehr. Deshalb musste sie die Treppe hochkommen. Wenn Lilja nur für ein paar Minuten mitspielte, könnten sie beide verschwinden, ohne dass Elsa einen Aufruhr veranstaltete. Klar, sie würde früh genug dahinterkommen, aber dann wären Lilja und er schon weit fort.
Wieder klopfte es.
»Ich kümmere mich schon darum«, sagte Fegelein und ging zur Tür.
Aber Elsa war bereits da, und bevor er auch nur irgendwie einschreiten konnte, hatte sie die Tür geöffnet.
Fegelein blieb wie angewurzelt stehen.
Es war nicht Lilja.
Stattdessen stand Herr Kappler vor der Tür, verbeugte sich lächelnd und hielt ihr seine Ledermappe hin. Fegeleins vergoldete Initialen schimmerten im Morgenlicht. »Das hab ich unter der Treppe gefunden. Dachte mir, der Herr Gruppenführer möchten es wiederhaben.« Kappler reichte Elsa die Mappe, verbeugte sich ein weiteres Mal und stapfte wieder die Treppe hinunter.
Als sie allein waren, wandte sich Elsa an Fegelein. »Was ist das?« Sie hielt ihm die Mappe hin. »Was hast du da drin?«
»Nichts!«
»Es fühlt sich aber nicht nach nichts an.« Sie legte sie auf den Tisch und machte sich an der Schnalle zu schaffen.
»Nicht öffnen«, rief er.
Aber es war schon zu spät. Die Mappe war bereits offen, und sie starrte auf das Gewirr von Goldkettchen, Diamantringen und edelsteinbesetzten Broschen. Dann griff sie hinein und zog zwei mit einem Gummiband zusammengehaltene Schweizer Pässe heraus.
»Bitte«, sagte Fegelein.
Aber sie schien ihn nicht zu hören.
Sie streifte den Gummi ab und schlug jeden Pass auf. Dann ließ sie sie wieder in die Mappe fallen. »Du willst mit ihr weg«, flüsterte sie.
»Ja«, gestand Fegelein. Es hatte keinen Sinn mehr, sie anzulügen.
»Und du willst mich zurücklassen.« Es war keine Frage. Sie kannte die Antwort bereits.
»Elsa«, begann er, aber dann versagte ihm die Stimme.
Während Fegelein noch mit den Worten rang, griff Elsa Batz in ihre offene Handtasche und zog die Walther Automatik heraus, die Fegelein ihr geschenkt hatte. Sie richtete sie auf ihn. Sie musste an ihr erstes Rendezvous denken. An die an der Wand aufgestellten Blumentöpfe. An ihren ersten Schuss, der von der Wand abgeprallt war, und an die anderen, die irgendwohin gingen. Wieder hörte sie sein schallendes Gelächter von damals.
Der erste Schuss traf Fegelein im Hals. Er sackte auf die Knie, in diesem Augenblick traf ihn der zweite Schuss in der Brust. Als ihm der dritte Schuss das rechte Ohr wegriss, war er schon tot.
Er kippte mit dem Gesicht voran auf den Boden.
Wie seltsam der Rauch aus der Waffe roch, wenn er sich mit ihrem Parfüm vermischte, dachte sie.
Zwei Minuten später trat SS -Gruppenführer Rattenhuber ins Zimmer, gefolgt von einem Angehörigen des Reichssicherheitsdienstes mit einer Maschinenpistole.
Elsa sah kaum auf, als sie ins Zimmer kamen. Sie war auf dem gelben Sessel zusammengesunken und hielt immer noch die Walther in der Hand.
Rattenhuber erkannte die Frau noch aus ihrer Zeit als Tänzerin im Salon Kitty. »Sie sind Fegeleins Geliebte«, sagte er.
Sie nickte.
»Und haben Sie vor, das Ding da noch mal zu benutzen?« Mit einem Nicken wies Rattenhuber auf die Pistole in ihrer Hand.
Elsa schüttelte den Kopf.
»Dann seien Sie doch so gut und werfen Sie sie auf den Boden.«
Sie ließ die Waffe fallen.
Rattenhuber ging zu Fegelein, schob die Stiefelspitze unter die Brust des Toten und drehte ihn um. »Sie haben nichts dem Zufall überlassen, wie ich sehe.«
In diesem Augenblick rief ihn der SS -Mann zu sich. »Das sollten Sie sich mal ansehen«, sagte er und zeigte auf die offene Ledermappe auf dem Tisch neben der Tür.
Rattenhuber ging zum Tisch, griff in die Handvoll Schmuckstücke und ließ sie durch die Finger gleiten. Dann inspizierte er die Schweizer Pässe. Als er Fegeleins Namen entdeckte, schnalzte er mit der Zunge. »Und wer ist das?«, fragte er und hielt den anderen Pass hoch.
»Seine Fahrerin«, sagte Elsa. »Lilja Simonowa.«
»Und wo ist dieses Fräulein jetzt?«
»Keine Ahnung«, antwortete Elsa Batz.
Rattenhuber drehte sich zum SS -Mann um. »Leichnam durchsuchen«, befahl er.
Der SS -Mann lehnte die MP ans Bett, kniete sich hin und ging Fegeleins Taschen durch. Schnell fand er den zusammengeknüllten Zettel mit der kryptischen Abfolge von jeweils fünf Ziffern.
»Lassen Sie sehen«, sagte Rattenhuber.
Der SS -Mann hielt ihm das Blatt hin, das ihm der Gruppenführer aus der Hand riss. »Dieser Schweinehund«, murmelte er.
»Was ist das?«, fragte der SS -Mann.
»Ein von den Alliierten benutztes Verschlüsselungsverfahren namens Goliath.«
»Was passiert jetzt mit mir?«, fragte Elsa Batz. Sie klang wie eine Somnambule.
»Sie kommen mit«, erwiderte der SS -Gruppenführer.
»Wenn Sie mich erschießen wollen, dann wäre es mir lieber, wenn Sie es hier tun.«
»Sie erschießen?«, schnarrte Rattenhuber. »So wie ich die Sache sehe, Fräulein Batz, haben Sie gerade die Flucht eines Hochverräters vereitelt. Es dürfte sehr viel wahrscheinlicher sein, dass Hitler Ihnen einen Orden an die Brust heftet.«