G eneral Hagemann saß im Keller eines zerstörten Hauses, das in einem Wald westlich von Berlin lag. Sein treuer Feldwebel Behr hatte ihm gerade im Essgeschirr einen fetttriefenden Eintopf gebracht. Draußen baute das Personal eine mobile Abschussrampe für eine der wenigen noch verbliebenen V2 -Raketen auf.
Das von Hitler bei ihrem letzten Treffen verlangte Produktionsziel von mehreren Hundert Raketen hatte sich natürlich nicht umsetzen lassen. Neu erstellte Komponenten für die Diamantstrahlsteuerung waren nie in die neuen Raketen eingebaut worden. Daneben war ein Zug mit letzten Treibstoffreserven, der für eine andere Fertigungsstätte in der Nähe der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde bestimmt gewesen war, von britischen Mosquito-Jagdbombern zerstört worden, bevor er sein Ziel erreichen konnte.
Nur sechs mobile V2 -Einheiten waren noch einsatzfähig, eine von ihnen war die von General Hagemann. Die einzelnen Trupps waren in einem Zehnkilometerradius verstreut. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden würde die letzte V2 abgefeuert sein. Dann, so General Hagemanns Befehl, sollten die Mannschaften nach Berlin zurückkehren. Dort würden die hoch spezialisierten Techniker mit antiquierten Waffen ausgerüstet, um sich in hastig zusammengewürfelten Verbänden der überlegenen Feuermacht der Roten Armee entgegenzuwerfen.
Nach Hagemanns Einschätzung waren ihre Überlebenschancen gleich null.
Bis dahin aber erfüllten Hagemann und seine Mannschaft ihre Pflicht, allerdings geschah das im tranceartigen Zustand derjenigen, die keinen Sinn mehr darin sahen, noch weiterzumachen, es aber dennoch taten.
Mit einem zerbeulten Aluminiumlöffel rührte der General den öligen Eintopf um, in dem Fischgräten und auch einige zufällig in den Topf geratene Kiefernnadeln glänzten. Er wollte gerade den Löffel zum Mund führen, als Behr oben auf der Treppe erschien.
»Ein Anruf für Sie übers Feldtelefon, Herr General. Aus Hohenlychen.«
»Himmler?«
Behr nickte.
Hagemann ließ den Löffel in den Eintopf fallen. »Was verdammt noch mal will er?«
»Das hat er nicht gesagt. Nur, dass es dringend ist.«
Seufzend stellte Hagemann sein Essgeschirr auf den Boden, stapfte die Treppe hinauf und ging hinaus zum Fernmeldewagen, der zu jeder mobilen V2 -Einheit gehörte.
»Hagemann!« Himmlers Stimme dröhnte aus den knisternden Lautsprechern. »Ich freue mich, mit Ihnen reden zu können.«
»Was kann ich für Sie tun, Herr Reichsführer?«
»Ich will, dass Sie in meine Feldkommandostelle kommen.«
»Wann?«
»Sofort. Wir haben etwas zu besprechen.«
»Ja?«, fragte Hagemann.
»Ja. Ich möchte Sie einigen meiner Freunde vorstellen, damit wir über Ihre Zukunft reden können.«
Sofort stand Hagemann wieder der Tag vor Augen, als er von Hitler nach Berlin zitiert worden war, um das Verschwinden der Versuchsrakete zu erklären. Und was hatte SS -Gruppenführer Fegelein gesagt, als er ihm danach aus dem Bunker gefolgt war? Dass es keinen Grund zur Nervosität gebe, außer Himmler wünsche, dass er, Hagemann, seine Freunde kennenlerne. Weil, wie Fegelein auf die Frage, was daran so falsch sei, antwortete, der Reichsführer keine Freunde habe.
Damals hatte Hagemann nicht kapiert, was Fegelein damit zum Ausdruck bringen wollte. Jetzt verstand er es. Wenn Hagemann zu diesem Treffen ging, wäre es das Letzte, was er tat. Denn die sogenannten Freunde würden ihm eine Kugel in den Kopf verpassen.
»Es freut mich, Sie wiederzusehen«, log Hagemann. »Ich werde sofort aufbrechen. Nicht nötig, dass Sie mir einen Wagen schicken.«
»Meine Freunde und ich erwarten Sie«, erwiderte Himmler und legte wie gewöhnlich auf, ohne sich zu verabschieden.
Hagemann wandte sich an seine Männer. »Alle Abschüsse sind gestrichen.«
»Was?«, fragte Feldwebel Behr ungläubig. »Was sollen wir mit den Raketen machen?«
»Zerstören«, sagte Hagemann.
»Und dann?«
»Dann, Feldwebel Behr, werden Sie mir einfach vertrauen müssen, wenn Sie hier noch lebend rauskommen wollen.«