In diesem Teil des Buches geht es um das faszinierende Thema, wie wir Menschen unsere Wirklichkeit erschaffen und welchen massiven Einfluss diese meist unbewussten Prozesse auf unser Leben und unser Glück haben. Das ist unglaublich spannend und kann deine Sicht auf die Welt verändern. Letztlich ist es gar nicht so schwierig, glücklicher und erfüllter zu leben, nur hat uns dies bisher kaum jemand erklärt. Die Einsichten aus diesem Buchteil werden dir helfen, mit Menschen noch besser umzugehen und dein Leben an dem auszurichten, was dir wirklich wichtig ist. Wenn du weißt, was psychologisch in dir passiert, dann ist es für dich noch leichter zu verstehen, warum die vielen Übungen und die verschiedenen Haltungen und Wege, die in den nächsten Buchteilen beschrieben werden, deine Lebenszufriedenheit und deine Lebensfreude erhöhen können.
Ich erinnere mich noch gut an eine Fortbildung vor vielen Jahren, in welcher der Referent darüber sprach, dass jeder von uns seine eigene Wahrheit und Wirklichkeit hat und es so etwas wie „die Wahrheit“ gar nicht gibt. Für mich war das damals völlig unverständlich. Ich dachte, es gibt doch klar eine objektive Wahrheit und jeder kann sie doch auch sehen. Vielleicht geht es dir genauso. Für mich war damals das, was ich wahrnahm, die Wahrheit. So ist es eben und jeder andere Mensch muss es auch so sehen.
Es gibt jedoch unglaublich spannende Prozesse in unserer Wahrnehmung und spätestens nachdem du dieses Kapitel gelesen hast, kennst du die großen Einflussfaktoren auf deine Wahrnehmung und weißt danach, wie relativ deine Wahrheit tatsächlich ist. Das wird dir sehr helfen, sowohl für mehr Lebenszufriedenheit und Glück, als auch für einen besseren Umgang mit Menschen. Für mich sind das lebensverändernde Einsichten und deshalb möchte ich mit dir gleich zu Beginn dieses Buches darin eintauchen.
2.1 Die Entdeckung des Pygmalioneffekts
Der deutschamerikanische Professor für Psychologie, Robert Rosenthal, machte bereits in den 60er-Jahren zusammen mit Lenore Jacobson ein Experiment mit bis heute bahnbrechenden Ergebnissen. Ich liebe diese Untersuchung, weil sie zeigt, wieviel mehr in unserem Leben möglich sein kann. Robert Rosenthal lehrte an der renommierten Harvard University und ging an eine amerikanische Grundschule, deren Direktorin Lenore Jacobson war, um folgende Studie durchzuführen. Er erklärte den Lehrkräften, dass es ihnen an der Harvard University gelungen sei, einen Test zu entwickeln, der exakt vorhersagen könne, welche Schülerinnen und Schüler sich in den nächsten Monaten überdurchschnittlich stark entwickelten, weil sie ein besonderes Leistungspotenzial hätten. Rosenthal nannte solche Kinder Bloomers (Aufblüher).
Bis auf die Direktorin gab es niemanden an der Schule, der wusste, dass dies nicht der Wahrheit entsprach und Teil der Untersuchung war. Was Robert Rosenthal zu diesem Zeitpunkt nämlich den Lehrkräften nicht sagte, war, dass es gar keinen solchen Test gab und er bei den Schülern nur einen gewöhnlichen IQ-Test durchführte. Anschließend wählte er per Zufallsprinzip einzelne Schüler pro Klasse (ca. 20 %) aus und behauptete gegenüber den Lehrkräften, dass dies die „Bloomers“ sind, also jene Schüler, von denen zu erwarten sei, dass sie sich besonders gut entwickelten. Gleichzeitig verpflichtete er die Lehrkräfte dazu, diese Information auf keinen Fall weiterzugeben, um Diskriminierungen zu vermeiden. Niemand sollte wissen, dass genau diese Schülerinnen und Schüler aufblühen werden. Zudem sollten die Kinder durch dieses Wissen ja auch auf keinen Fall beeinflusst werden. Die Lehrkräfte glaubten nun ihre „Bloomers“ zu kennen, schließlich waren dies die Ergebnisse des Professors der renommierten Harvard University.
Bei psychologischen Untersuchungen wird uns immer wieder einmal begegnen, dass die untersuchten Personen während der Studie nicht das eigentliche Ziel kennen bzw. ihnen gesagt wird, dass etwas ganz anderes untersucht würde. Dies ist bei manchen Fragestellungen unumgänglich, um bestimmte Effekte überhaupt nachweisen zu können. Allerdings bedarf dies auch hohen ethischen Standards. In vielen Ländern müssen solche Studien deshalb vorab durch eine Ethikkommission geprüft und genehmigt werden und am Ende der Studie werden die untersuchten Personen natürlich über das tatsächliche Ziel und die Ergebnisse aufgeklärt.
Als Robert Rosenthal bei seiner Untersuchung die Schüler nach einem halben Jahr und dann erneut nach einem Jahr und zwei Jahren untersuchte, fand er die folgenden unglaublichen Ergebnisse: Die zufällig per Los als „Bloomers“ ausgewählten Schüler hatten nicht nur deutlich bessere Noten. Das ließe sich noch gut damit erklären, dass die Lehrkräfte eben den „Bloomers“ aufgrund ihrer Erwartung bessere Noten gaben. Das wirklich Bahnbrechende dabei war jedoch, dass sich der IQ der Schüler deutlich verbesserte und zwar um bis zu 20 bis 30 IQ-Punkte 1 . Dies war ein riesiger Sprung, vor allem verglichen mit den „gewöhnlichen“ Schülern. Außerdem gaben die Lehrkräfte bei Befragungen an, dass die „Bloomers“ intellektuell neugieriger, selbstbewusster und glücklicher seien. Auch wenn diese Einschätzung der Lehrkräfte subjektiv und von ihrer Erwartung eingefärbt sein kann, so konnte die starke Steigerung des Intelligenzquotienten objektiv und übrigens besonders in den ersten beiden Klassenstufen nachgewiesen werden 2 . Robert Rosenthal bezeichnete dies als Pygmalioneffekt (nach der mythologischen Figur Pygmalion, der sich als Bildhauer in die von ihm geschaffene Elfenbeinstatue verliebte, die mithilfe der Göttin Venus zum Leben erwachte).
![../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig1_HTML.gif](../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig1_HTML.gif)
Wie der Pygmalioneffekt wirkt
durch eine wärmere Beziehung,
durch differenziertere Rückmeldungen,
durch mehr Angebot an Informationen und
durch mehr Gelegenheit zu antworten und sich zu melden 3 .
Du kannst dir sicher gut vorstellen, dass es einen Unterschied macht, ob ein Schüler bei schweren oder leichten Fragen eher aufgerufen wird, wie lange die Wartezeit auf eine Antwort ist, mit welchen Reaktionen (verbal oder nonverbal) eine Lehrkraft auf richtige oder falsche Antworten des Schülers reagiert etc. Allein die Erwartung eines Lehrers reichte somit aus, Schüler zum Aufblühen zu bringen.
Übrigens kann dieser Effekt auch in die andere Richtung wissenschaftlich nachgewiesen werden. Forscher überzeugten Schulklassen, dass diese von der besten Lehrerin oder dem besten Lehrer der Schule unterrichtet werden. Auch diese Lehrkräfte waren nur zufällig ausgewählt worden und auch bei diesen Untersuchungen zeigte sich, dass die Schüler solche Lehrer am Ende des Schuljahres nicht nur tatsächlich besser bewerteten, sondern bei ihnen auch mehr Freude am Unterricht und bessere Noten hatten 4 .
![../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig2_HTML.gif](../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig2_HTML.gif)
Die Wirkungsweise des Pygmalioneffekts in der Arbeitswelt
Die positiven Erwartungen einer Führungskraft an eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter zeigen sich im Verhalten der Führungskraft. Diese wirkt auf die Selbsterwartung des Mitarbeiters. Die Motivation steigt und damit auch die Leistung und die Erfolge des Mitarbeiters. Die Erfolge wirken auf die Erwartungen des Mitarbeiters an sich selbst zurück und auf die Erwartungen der Führungskraft, die sich in ihren Erwartungen bestätigt sieht.
Die Erwartung der Führungskraft und ihr Zutrauen an ihr Team sind ein zentraler Einflussfaktor auf die Performance und das Verhalten der Mitarbeiter, die oft im Führungsalltag nicht reflektiert werden. Dies bedeutet nicht, dass die Erwartung der Führungskraft alles bedingt, jedoch zeigt der Pygmalioneffekt, warum sich die Wahrscheinlichkeit massiv erhöht, dass die Erwartungen einer Führungskraft am Ende auch Realität werden. Dieser Effekt funktioniert genauso hinsichtlich der Performance eines ganzen Teams und leider auch in die negative Richtung.
Reflexionsfragen
Wo in meinem Leben konnte ich den Pygmalioneffekt entweder bei mir oder bei anderen beobachten?
Wer glaubte an mich? Welche Folgen hatte dies für meine Entwicklung?
An wen glaube ich und an wen glaube ich nicht? Welche Ergebnisse zeigen sich? Können die Ergebnisse von meinen Erwartungen beeinflusst sein oder sind diese völlig unabhängig von mir?
Mich faszinieren die Ergebnisse dieser Untersuchung immer wieder von Neuem. Sie zeigen, wie veränderbar und beeinflussbar unser Leben ist. „Nur“ weil die Lehrer Erwartungen an die Schüler haben und sich dadurch deren Selbstkonzept ändert, steigen ihr IQ, ihre Noten und ihre Schulfreude. Diese Erkenntnisse sind nicht nur für Lehrkräfte, Eltern und Führungskräfte extrem wichtig. Jeder von uns kann davon maßgeblich profitieren, denn wir benötigen nicht den Umweg über eine Lehr- oder Führungskraft, die uns etwas zutraut, sondern wir haben unsere eigene Erwartungshaltung selbst in der Hand. Wir können diesen Prozess bewusst für uns nutzen und ohne Umweg über eine Führungs- oder Lehrkraft die Abkürzung nehmen, indem wir unser Selbstkonzept reflektieren, neu gestalten und festigen. Die Studie zum Pygmalioneffekt zeigt sehr eindrucksvoll, dass allein durch die Veränderung unseres Selbstkonzeptes weitreichende Veränderungen möglich sind. Was dadurch alles für dich, dein Leben und dein Glücksgefühl möglich wird und welche interessanten Prozesse dabei ablaufen, damit beschäftigen wir uns nun detailliert.
2.2 Selbsterfüllende Prophezeiungen
Letztlich steckt hinter dem Pygmalioneffekt 6 das bekannte Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung. Lass uns mal ein paar Beispiele für andere selbsterfüllende Prophezeiungen anschauen. Da gibt es z. B. den Schüler, der sagt, er könne nie einen Text ohne Versprecher vor der Klasse vorlesen. Dann wird er aufgerufen, fängt an zu lesen und – na klar – verspricht sich. Es kann auch die Schülerin sein, die sich selbst prophezeit, dass sie einen Blackout haben wird, wenn sie vor der Klasse das Gedicht auswendig vortragen muss, was dann auch tatsächlich eintritt. Auch unser Erwachsenenleben ist voll mit Beispielen: Die Angestellte, die einen neuen Chef bekommt und sich prophezeit, dass nun endlich ihr Potenzial gesehen wird, hat gute Chancen, dass es auch tatsächlich so kommt. Oder der Mann, der schon nach dem ersten Zusammentreffen mit seinem neuen Nachbarn wusste, dass es mit diesem viel Streit geben wird. Mit großer Wahrscheinlichkeit kommt es auch so. Wenn jemand zu einer Party eingeladen ist und vorhersagt, dass er dort sicher interessante Menschen kennenlernen und sich mit ihnen über spannende Themen unterhalten wird, dann tritt das ebenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit ein. Eine andere Person, die auf die gleiche Party eingeladen ist und vorhersagt, dass sie sich den ganzen Abend langweilt, hat auf derselben Party ebenfalls sehr gute Chancen, dass sie Recht behalten wird. Das Kuriose ist, dass beide sagen werden, sie hätten die Party und die Menschen dort richtig eingeschätzt, tatsächlich haben sie sich jedoch ihre Realität selbst erschaffen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Das macht es auch so schwer, diesen Prozess zu durchschauen. Dadurch, dass sich selbsterfüllende Prophezeiungen oft erfüllen, fühlen sich die Menschen in ihrer „weisen“ Vorausschau bestätigt, ohne zu merken, dass sie das Ergebnis selbst erschaffen haben und sie genauso gut das Gegenteil hätten erreichen können. Selbsterfüllende Prophezeiungen gibt es auch auf übergeordneter Ebene. So sind bereits liquide und gesunde Banken zusammengebrochen, weil es das Gerücht gab, dass die Bank illiquide sei. Alle Kunden haben dann bei der noch gesunden Bank ihr Geld abgehoben, was am Ende dazu führte, dass die Bank tatsächlich zahlungsunfähig wurde. Am Aktienmarkt lassen sich ähnliche Phänomene beobachten.
Der US-amerikanische Professor für Soziologie, Robert Merton, beschrieb Mitte des letzten Jahrhunderts das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung erstmals ausführlicher. Er schrieb „Die selbsterfüllende Prophezeiung ist anfänglich eine falsche Definition der Situation, die ein neues Verhalten hervorruft, welches bewirkt, dass die ursprünglich falsche Auffassung richtig wird.“ 7 Der „Prophet“ fühlt sich am Ende bestätigt, obwohl seine Annahme am Anfang nicht korrekt war. Lass uns das am Beispiel des Mannes beleuchten, der schon beim ersten Zusammentreffen mit seinem neuen Nachbarn wusste, dass es nur Streit geben würde. Gleich am ersten Abend nach dessen Einzug hört unser Mann laute Musik aus der Nachbarwohnung und fühlt sich sofort bestätigt. Er weiß „instinktiv“, dass der Nachbar ihn nur ärgern will, und ihm ist klar, dass hier gleich zu Beginn der nachbarschaftlichen Beziehung glasklare Worte nötig sind. Er klingelt bei ihm und sagt ihm schon mal richtig seine Meinung. Du kannst dir vorstellen, wie es weitergeht. Eine neue Realität entsteht auf der Grundlage der Prophezeiung. Ohne diese hätten sich die Männer vielleicht gut verstanden. Wenn wir dem Mann danach sagen, dass er diese Realität selbst geschaffen hat, würde er verständnislos den Kopf schütteln und sagen, dass es doch klar das rücksichtslose Verhalten seines neuen Nachbars war und er das von vornherein richtig eingeschätzt habe, was man jetzt ja unschwer erkennen könne.
Du wirst mich im Laufe dieses Buches noch näher kennenlernen und feststellen, dass ich nicht in „schwarz oder weiß“, in „richtig oder falsch“ bzw. „ja oder nein“ denke. Die Welt ist viel zu bunt und vielschichtig, um sie in zwei Kategorien zu pressen. Bei selbsterfüllenden Prophezeiungen ist es genauso. Du kannst nicht sagen: Jede Prophezeiung erfüllt sich, fertig. Es ist jedoch so, dass eine gemachte Prophezeiung mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit nur deshalb Wirklichkeit wird, weil du sie gemacht hast. Es ist kein Automatismus und keine 100 %-Garantie, kein „schwarz oder weiß“, jedoch ein mächtiger Faktor für unser Leben. Dessen sind wir uns in der Regel überhaupt nicht bewusst, wir beeinflussen damit jedoch ständig unser Leben. Deshalb ist es für uns so gewinnbringend, uns damit zu beschäftigen. Ich bin auch nicht der Meinung von Robert Merton, dass die erste Annahme immer falsch sein muss. Mir kommt es darauf an aufzuzeigen, wie unsere Annahmen unser Leben beeinflussen und unsere Prophezeiungen und Erwartungen massiv dazu beitragen, Wirklichkeit zu erschaffen. In der psychologischen Forschung wurde über die letzten Jahrzehnte eine große Anzahl von Studien hierzu durchgeführt. Dennoch ist es erstaunlich, dass es kaum einen Gesamtüberblick 8 gibt und dieses wichtige Thema in unserem Bewusstsein so wenig präsent ist.
Umso wichtiger ist, dass wir dem Thema nun ganz auf den Grund gehen. Was passiert hier psychologisch? Das ist deshalb für dich so wichtig, weil sich das Potenzial hinter diesem Wissen erst auf den zweiten Blick zu erkennen gibt. Auf den ersten Blick denken wir, das ist alles logisch, alles klar und weiter. Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass wir es hier mit dem Schlüsselprozess in unserem Leben zu tun haben. Dieser Prozess bedingt nicht nur, ob wir Freude im Beruf oder in der Freizeit haben, sondern alles, was wir erreicht haben, was wir sind und was für uns möglich ist, geht von diesem Prozess aus.
Ich werde die Erkenntnisse, die wir nun sammeln, weiter unten in einem Wahrnehmungsmodell zusammenfassen. Du wirst dann sehen, dass wir unsere Wirklichkeit tatsächlich selbst erschaffen.
2.3 Filter und Täuschung
Als erstes schauen wir uns den Prozess der Wahrnehmung an.
Dein Gehirn ist genial. Hast du dir schon einmal Gedanken gemacht, wie viele Informationen jede Sekunde an dein Gehirn gemeldet werden und wie viele dir davon tatsächlich bewusst werden? Überlege ruhig kurz. Wieviel Prozent kommt von allem, was dein Körper über seine Sinne wahrnimmt, in deinem Bewusstsein an? Hast du eine Schätzung?
Wissenschaftler drücken die Informationsmenge wie beim Computer in Bits pro Sekunde aus. Bislang können die Wissenschaftler die Informationsmenge, die in einer Sekunde zu unserem Gehirn gemeldet wird, nur schätzen, indem sie diese aus der Zahl der Rezeptoren (z. B. auf der Netzhaut), der Anzahl der Nervenbahnen, der unterscheidbaren Reize und der Anzahl möglicher Reize pro Sekunde hochrechnen. Eine vorsichtige Schätzung 9 kommt dabei auf mehr als 3,3 Millionen Bits pro Sekunde 10 .
Weißt du, wie viele Dinge du andererseits gleichzeitig im Kurzzeitgedächtnis, also im Bewusstsein, behalten kannst? Das sind nur sieben (die Bandbreite reicht in der Regel von fünf bis neun). Das ist gut belegt und ganz typisch, wenn wir z. B. eine Zahlenkombination (unbekannte Telefonnummer oder TAN) im Gedächtnis behalten wollen. Forscher nennen dies unsere Bewusstseinskapazität und diese liegt übersetzt auf die Einheit Bit/s zwischen 20 und 60 Bit/s. Was dein Gehirn so genial macht ist, dass es aus dieser sekündlichen Informationslawine dir nur die wichtigsten Dinge ins Bewusstsein durchstellt. Im Moment ist es dieser Text, den du liest. Wenn ich dich jetzt bitte, mal zu hören, was um dich herum passiert, dann stellt dein Gehirn sofort diese Informationen durch, die eben noch ausgeblendet waren. Oder fühle mal, wie sich die Unterlage anfühlt, auf der du dich befindest, oder deine Kleidung auf der Haut. Jetzt lässt dein Gehirn genau diese Informationen durch.
Was hier passiert, ist eine lebenswichtige Aufgabe. Alle Informationen sind grundsätzlich da, aber nur das Wichtige oder Neue wird auch durchgelassen. Ist dir jemals während des Essens aufgefallen, welchen Lärm dein Kauen in deinem Kopf macht? Achte bei deinem nächsten Essen darauf. Dein Gehirn filtert das einfach weg, denn es ist der Meinung, dass das nicht wichtig ist, es ist ja schließlich bei jedem Essen das Gleiche.
Wenn unser Gehirn 3,3 Mio. Bit/s bewusst verarbeiten müsste, wären wir völlig lebensunfähig. In deinem Gehirn arbeitet ununterbrochen ein gigantischer Filter. Wenn wir unser Bewusstsein mit 40 Bit/s annehmen, dann bedeutet dies, dass uns nur 0,0012 % aller zur Verfügung stehenden Informationen überhaupt bewusst werden! Auch die Zahl von 0,0004 % ist weit verbreitet. Hier werden die 40 Bit/s mit einer deutlich höheren Schätzung ankommender Informationen (rund 10 Mio. Bit/s) ins Verhältnis gesetzt. Es gibt sogar Forscher, die behaupten, dass das Verhältnis zwischen der maximalen Informationsmenge, die unser Gehirn erreicht, und unserer bewussten Wahrnehmung nur 10 Millionen zu 1 ist 11 . Hierbei gibt es sicher nicht die eine unumstößliche Zahl, weil diese bislang nur auf Hochrechnungen und Schätzungen der Wissenschaftler beruht. Ich bleibe im Folgenden bei der plakativen Zahl von 0,0012 %. Sie soll nicht für eine exakte Konstante stehen, sondern nur symbolisieren, was für uns hier wichtig ist: Wir nehmen nur einen winzigen Bruchteil unserer Welt wirklich wahr. Dennoch oder gerade deswegen ist diese Filterfunktion eine Meisterleistung unseres Gehirns! Dies hat jedoch auch einen Haken: Viele, vielleicht auch wichtige Informationen werden dir nicht bewusst. Dein Gehirn stellt sie dir einfach nicht in dein Bewusstsein durch.
Vielleicht kennst du folgende Erfahrung, die ich vor Kurzem machte. Meine Frau interessiert sich für ein bestimmtes Automodell, mit dem ich mich dann auch beschäftige. Plötzlich sehe ich auf der Straße viele dieser Autos. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich felsenfest behaupten, dass diese vorher alle nicht da waren. Werdende Eltern kennen dieses Phänomen genauso. Plötzlich gibt es ganz viele Schwangere auf der Straße und überall sind Kinderwagen. Zuvor gab es natürlich sowohl die Autos als auch die Schwangeren und die Kinderwagen. Unser Filter fand das nicht wichtig und hat es einfach nicht weitergeleitet. Da sind wir dann schon bei einem Grundstein für die selbsterfüllende Prophezeiung. Wenn ich etwas erwarte, dann entdecke ich natürlich auch alle Hinweise, die dies bestätigen. Dies bedeutet, dass die Filterfunktion sich nach deinen bisherigen Erfahrungen, Interessen und deinem Weltbild flexibel einrichtet. Dein Filter ist ein guter Freund von dir. Er gibt dir das, wonach du suchst. Im Gegenzug lässt er alles andere weg, was ihm nicht wichtig erscheint, damit du mit der Informationsflut zurechtkommst.
Die erste Erkenntnis ist: Wir haben einen leistungsstarken und genialen Filter, der uns das Überleben ermöglicht. Gleichzeitig führt dieser Prozess dazu, dass wir nur einen minimalen (0,0012 %) Ausschnitt der Welt wahrnehmen und andere wichtige Aspekte uns gar nicht bewusst werden. Wir glauben, dass die Welt genau so ist, wie wir sie sehen. Das ist eine extrem wichtige Überlebensstrategie, denn wir könnten mit der Reizflut gar nicht zurechtkommen. Unser Bewusstsein ist langsam, fehlerhaft und braucht auch noch stoffwechselphysiologisch viel Energie. Deshalb gilt aus Sicht des Gehirns, je automatisierter eine Funktion abläuft, umso besser. Der bedeutende deutsche Hirnforscher und Professor für Verhaltensphysiologie Gerhard Roth kommt daher zu der vielleicht etwas überspitzten Schlussfolgerung: „Bewusstsein ist für das Gehirn ein Zustand, der tunlichst zu vermeiden und nur im Notfall einzusetzen ist. 12 “
Daneben gibt es noch ein „kleines“ Problem. Nicht nur, dass uns 99,9988 % aller wahrgenommenen Reize nicht bewusst werden, nein, das Bild, das wir aus dem Rest zusammenstellen, ist konstruiert und dabei passieren auch noch Fehler. Da wird etwas dazugegeben, was gar nicht da ist, da wird aufgrund von Erfahrungen interpretiert, was zu einem falschen Ergebnis führt. Dies wird durch Wahrnehmungstäuschungen sehr plastisch und anschaulich. Es gibt dazu eine riesige Zahl an Abbildungen und viele Bücher, die nur davon handeln. Hier findest du eine kleine Auswahl, die den Effekt deutlich macht.
![../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig3_HTML.gif](../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig3_HTML.gif)
Wahrnehmungstäuschung: Die waagrechten Linien sind parallel
![../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig4_HTML.gif](../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig4_HTML.gif)
Wahrnehmungstäuschung: Das Hermann-Gitter
![../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig5_HTML.gif](../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig5_HTML.gif)
Wahrnehmungstäuschung: Die Ebbinghaus-Illusion
![../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig6_HTML.gif](../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig6_HTML.gif)
Wahrnehmungstäuschung: Das Kanisza-Dreieck
![../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig7_HTML.gif](../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig7_HTML.gif)
Wahrnehmungstäuschung: Sterne, die sich bewegen
![../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig8_HTML.gif](../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig8_HTML.gif)
Wahrnehmungstäuschung: Bewegen sich die Kreise oder stehen sie still?
![../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig9_HTML.gif](../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig9_HTML.gif)
Wahrnehmungstäuschung: die raffinierten Blumen
![../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig10_HTML.gif](../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig10_HTML.gif)
Wahrnehmungstäuschung: die Schmetterlinge
Aus der Vielzahl von Täuschungsbeispielen will ich dir noch von der Mondtäuschung berichten. Du hast den Mond bestimmt auch schon einmal am Horizont als riesige Scheibe auf- oder untergehen sehen. Das kann sehr beeindruckend sein. Kennst du das? Wenn er nach dem Aufgehen ein paar Stunden später hoch am Himmel steht, sieht er viel kleiner aus. Das Abbild des Mondes auf deiner Netzhaut war jedoch immer gleich groß. Der Mond ist ja nicht innerhalb weniger Stunden geschrumpft oder hat sich weiter entfernt. Was passiert hier? Unser Gehirn weiß, dass Gegenstände umso kleiner auf unserer Netzhaut abgebildet werden, je weiter entfernt sie sind (z. B. am Horizont). Steht der Mond hoch am Himmel, fehlt dem Gehirn ein Anhaltspunkt, wie weit er entfernt ist. Er wird relativ klein wahrgenommen. Geht dagegen der Mond am Horizont auf, dann ist dem Gehirn durch die Umgebung, also beispielsweise durch Baumkronen oder Berge, klar, dass alles dort weit entfernt sein muss. Wenn der Mond dort zu sehen ist, dann schließt das Gehirn daraus, dass er riesig sein muss und genauso zeigt uns unser Gehirn dann auch den Mond. Steht er später hoch am Himmel, dann sehen wir ihn realistisch und viel kleiner.
Achte beim nächsten Mal darauf, wenn du den Mond aufgehen siehst. Mir geht es dabei immer wieder genauso wie bei den anderen Wahrnehmungstäuschungen: Ich weiß zwar, dass die Wahrnehmung von meinem Gehirn falsch dargestellt wird, sie lässt sich dadurch aber auch nicht richtigstellen. Ich mache in einer solchen Situation dann das aus meiner Sicht einzig Vernünftige: über mich lächeln, dankbar für die Aussicht sein und den grandiosen Anblick genießen. Oft wäre dieser gar nicht so schön und beeindruckend mit einem Mond, der in seiner korrekten Größe erschiene.
Die zweite Erkenntnis ist: Unser Gehirn konstruiert unsere Wahrnehmung und es kommt vor, dass wir etwas wahrnehmen, was in der Realität nicht so ist.
Neben der Herausforderung, dass wir nur einen winzigen Bruchteil der Außenwelt bewusst wahrnehmen und dieser teilweise von unserem Gehirn noch falsch dargestellt wird, kommen jetzt noch unsere Bewertungen durch unsere innere Stimme dazu.
2.4 Innere Stimme und Bewertungen
Deine Emotionen folgen deinen Gedanken genauso zuverlässig, wie Babyenten ihrer Mutter. Aber die Tatsache, dass Babyenten vertrauensvoll folgen, bedeutet nicht, dass die Mutter auch weiß, wohin sie geht. (David Burns)
Kennst du deine innere Stimme? Vielleicht sagst du „ja, kenne ich“, vielleicht hörst du aber in dir den Satz „Was meint er mit innerer Stimme? Ich habe keine innere Stimme, noch nie!“ oder du hast den Gedanken „Ich höre nichts, also habe ich keine innere Stimme!“ Dann ist sie das. Unsere innere Stimme begleitet uns von früh bis spät und liebt es, Kommentare abzugeben, sowohl uns selbst als auch anderen gegenüber: „Die bildet sich etwas auf ihre Figur ein“, „Ich schaue schrecklich aus“, „Du und eine Ansprache halten, da werden alle innerlich die Augen verdrehen“. Oft ist diese innere Stimme unsere größte Kritikerin, oft kritischer als alles, was uns andere sagen. Du hast eine tolle Idee und die Stimme kommt sofort: „Das wird sowieso nichts“ oder „Das kannst du nicht“. Die Dinge, die der Filter in unser Bewusstsein lässt, werden durch die innere Stimme bewertet. Das ist auch ein grundsätzlich guter und natürlicher Prozess. Nur gibt es auch hier einen Haken: Nicht nur, dass die Bewertung oft viel zu negativ ist, nein, sie speist sich aus unseren Erwartungen und unserem Weltbild und stimmt damit nicht unbedingt mit der Außenwelt überein und auch diese Bewertungen gestalten unsere Realität.
Nehmen wir noch einmal den Mann mit seinem neuen Nachbarn und die Musik, die er von ihm hört. Seine innere Stimme könnte ihm sagen: „Oh, der weiß sicher noch nicht, wie hellhörig hier gebaut wurde. Ich sage ihm das mal, dann macht er die Musik leiser und alles ist geklärt.“ Unserem Mann, der ohnehin schon wusste, dass es mit dem Neuen nur Ärger geben würde (selbsterfüllende Prophezeiung), sagt seine Stimme: „Wusste ich es doch, der will mich gleich am ersten Tag ärgern. Das ist eine bodenlose Unverschämtheit, mit den alteingesessenen Bewohnern hier so umzugehen!“ Du merkst, was hier passiert. Ein gleicher Sachverhalt wird völlig unterschiedlich emotional eingefärbt und bewertet. Bei den meisten Menschen ist es so, dass diese Prozesse völlig unbewusst ablaufen. Sie haben ihre Wahrheit, diese ist so und es gibt logischerweise auch nur diese. Unsere innere Stimme und dieser dauernde Bewertungsprozess zeichnen unser Bild der Welt. Ein Bild, das auch ganz anders aussehen könnte. Dieses Bild, das wir von der Welt und von uns haben, führt dann zu Verhaltensweisen, die dieses Bild am Ende meist bestätigen.
Stell dir einen schüchternen Mann vor. Er sieht eine attraktive Frau und schon ist seine Stimme da: „Lass es bleiben, sie anzusprechen. Das kannst du doch ohnehin nicht. Sie will bestimmt nichts von dir wissen…“ So erschafft dieser Mann seine Wirklichkeit. Stell dir mal vor, du bist Psychologe und willst dem Mann helfen. Was machst du? Wäre eine Therapie hilfreich? Müssten wir vielleicht langwierig die ganze Kindheit aufarbeiten oder gibt es einfachere Möglichkeiten?
Es gibt dazu spannende Untersuchungen 21 , aus denen wir für unser Leben viel lernen können. Forscher gingen dabei folgendermaßen vor: Eine Vielzahl männlicher Studenten füllte verschiedene Fragebögen aus. Darin enthalten war auch ein Testverfahren für Schüchternheit. Aus allen Teilnehmern wählten die Wissenschaftler dann die besonders schüchternen Männer aus und baten sie, an einer weiteren Untersuchung teilzunehmen, bei der es um Interaktionen gehen sollte. Mehr sagten sie den Teilnehmern dazu nicht. Das eigentliche Experiment lief dann wie folgt ab: Den schüchternen Männern wurde gesagt, dass sie nun mehrere Gespräche führen würden. Der Versuchsleiter begleitete jeden Mann in einen Raum, in dem bereits eine Studentin saß. Er sagte beiden nur, dass es jetzt ihre Aufgabe sei, eine Unterhaltung zu führen, und er nach zwölf Minuten wieder zurückkommen würde. Dann verließ er den Raum. Nach zwölf Minuten bat der Versuchsleiter den schüchternen Mann, ihm zur nächsten Interaktion im nächsten Raum zu folgen. Dort wartete eine weitere Studentin. Wieder sollten beide 12 Minuten miteinander sprechen. Insgesamt führte jeder Mann sechs Gespräche mit unterschiedlichen Frauen. Am nächsten Tag wurde exakt der gleiche Ablauf mit sechs anderen Frauen wiederholt.
Die Frauen, die bei diesem Experiment mithalfen, waren alle ebenfalls Studentinnen. Sie wurden vom Versuchsleiter gebeten, einfach ein positives und freundliches Gespräch zu führen, so wie sie das mit jemandem täten, den sie vor Kurzem getroffen haben und mit dem sie gerne eine kurze Unterhaltung hätten. Sie sollten auch neue Themen in das Gespräch einbringen und auf keinen Fall irgendetwas Negatives zu ihrem Gesprächspartner sagen. Weder die Frauen noch die Männer wussten, dass es bei dem Experiment um Schüchternheit ging.
Die Männer hatten somit zwölf schöne Gespräche von jeweils zwölf Minuten Länge. Doch können 144 Minuten etwas an langjähriger Schüchternheit verändern? Das war tatsächlich der Fall. Das Selbstbewusstsein der Teilnehmer erhöhte sich und die Ängstlichkeit, mit Frauen ins Gespräch zu kommen, reduzierte sich signifikant. Diese starken Effekte waren dauerhaft und konnten auch noch nach sechs Monaten gemessen werden. Es zeigte sich eine hochgradige Veränderung in der Selbstwahrnehmung. Außerdem stellte sich heraus, dass die Anzahl von Verabredungen mit Frauen nach dem Experiment signifikant anstieg 22 . Nach sechs Monaten wurden (schon aus ethischen Gründen) die Teilnehmer über den tatsächlichen Hintergrund der Untersuchung informiert. Interessanterweise veränderte sich das neu gewonnene Selbstbewusstsein dadurch nicht mehr, weil zwischenzeitlich so viele positive Erfahrungen gemacht worden waren. Die Teilnehmer erzählten, dass sie noch nie zuvor in so kurzer Zeit so viele Frauen getroffen hätten und dass sie nicht mehr zu nervös sind, um sie anzusprechen. Der gleiche positive Effekt konnte auch bei schüchternen Frauen nachgewiesen werden 23 .
Was war hier passiert? Über viele Jahre waren die Männer schüchtern, hatten nahezu keine Verabredungen und waren ängstlich, wenn sie Frauen ansprechen wollten. In einer gesteuerten Situation erleben sie, dass sie tolle Gespräche mit Frauen führen können. Diese Erfahrung führte dazu, dass sie im echten Leben nun auch aktiv Frauen ansprachen und sich verabredeten. Ohne dass ihnen das bewusst war, hat diese Erfahrung ihre innere Stimme verändert, weil sie danach anders über sich dachten 24 . Selbst als die Forscher anderen Teilnehmern in späteren Untersuchungen vorher sagten, dass es um die Behandlung ihrer Schüchternheit ginge, zeigten sich die gleichen positiven Effekte 25 .
Was können wir nun für unser Leben daraus lernen? Eine Schlussfolgerung daraus ist, dass es manchmal sinnvoll ist, sich so zu verhalten, als ob wir etwas bereits könnten. Wenn du Angst hast, vor Gruppen zu sprechen, warum nicht bewusst vor einer kleinen Gruppe sprechen und auch dir gegenüber so zu tun, als ob es nichts Natürlicheres für dich gäbe, als voller Freude vor einer Gruppe zu stehen? Für mich ist dieser Aspekt so interessant, weil dies bedeutet, dass wir nicht nur dadurch etwas ändern können, dass wir anders denken, sondern wir können auch unser Denken verändern, indem wir einfach etwas verändern, etwas anders oder etwas Neues tun. Denn dadurch passt sich dein Selbstbild an: Du hast es gemacht und deine innere Stimme ändert sich. Bei der nächsten Gelegenheit kommt vielleicht zuerst das alte Muster: „Um Himmels willen, ich kann doch keinen Vortrag halten“, doch dann kommt sehr schnell die Erfahrung: „Wieso, das lief doch vor der Kleingruppe sehr gut …“. Deshalb ergibt es durchaus Sinn, die eigene Komfortzone immer weiter auszudehnen. Der englische Satz bringt das auf den Punkt: „Fake it till you make it“ („Tue so, als ob du es könntest, bis du es kannst“).
Zudem können wir an dieser Untersuchung sehr gut sehen, dass unsere innere Stimme uns immer vorplappert, wie die Welt ist. Wenn sie uns sagt, dass wir schüchtern sind, dann ist das genauso unsere Wahrheit, wie wenn sie uns sagt, dass wir ganz großartig darin sind, aktiv auf andere zuzugehen und sie für uns zu gewinnen. Du siehst daran auch, wie jeder seine Wahrheit für sich hat und dennoch diese Wahrheit nur auf seiner Konstruktion beruht.
Jeder hat seine Wahrheit und das ist auch legitim. Ich habe oben davon berichtet, wie ich anfangs damit gehadert habe, dass es nicht die eine Wahrheit und Realität gibt. Als ich dann jedoch die Prinzipien verstanden hatte, brachte mir dies unglaublich viele Vorteile. Ich will dir von meiner Einstellung und meinen Erfahrungen berichten.
Für mich darf jeder seine Wahrheit haben. Sie ist ein Produkt seines Filters und seines Weltbilds, das sich durch seine innere Stimme ausdrückt. Wenn ich weiß, dass der andere eine andere Wahrnehmung oder eine andere Wahrheit hat, dann kann ich ganz anders mit ihm kommunizieren. Auch bei einem Konflikt interessiert mich erstmal die Wahrheit des anderen. Er hat das Recht auf seine Wahrheit und diese möchte ich anerkennen und vor allem kennenlernen. Ich gebe dir ein Beispiel aus dem Arbeitsleben: Als Personalleiter hatte ich immer wieder die Situation, dass z. B. ein Betriebsrat oder ein Vertreter der Gewerkschaft mich völlig aufgebracht kontaktierte. Mir war in solchen Situationen immer wichtig zu verstehen, was passiert war und woher der Ärger kam. Das war kein psychologischer Kniff, sondern mich interessierte die Sichtweise des anderen wirklich. Ich wollte ganz verstehen, was bei dem anderen los war. Mich interessierte also, was sein Filter an Informationen zu ihm durchgelassen hatte und welche Wertungen seine innere Stimme ihm zurief. Dann hatte ich einen Einblick in die subjektive Wahrheit meines Gegenübers.
Wenn ich dem anderen so zuhörte und mit dieser Haltung nachfragte, passierte immer Folgendes: Mein Gegenüber beruhigte sich zunehmend und fühlte sich verstanden, wenngleich das nicht bedeutete, dass wir einer Meinung waren. Auf diese Weise wurde jedoch ein sachliches Gespräch möglich. In diesem Moment hatte ich die Chance, ihm mein Bild der Situation zu vermitteln und meine „Wahrheit“ zu erläutern, wohlwissend, dass auch diese nicht objektiv richtig sein muss.
Ab diesem Zeitpunkt war es dann ein Leichtes, über Lösungen zu reden. Es war eine völlig andere Situation, als wenn ich versucht hätte, gleich vehement dem anderen meine Wahrheit überzustülpen. Wohlgemerkt es wurde leicht, über Lösungen zu reden. Das bedeutet nicht zwingend, dass es auch leicht war, eine Lösung zu finden. Aber die Wahrscheinlichkeit, Lösungen zu erarbeiten, die für alle annehmbar waren, erhöhte sich dadurch deutlich.
Letztlich ist das die ganze Kunst der Empathie: den anderen versuchen zu verstehen und sich in ihn einzufühlen, sich sozusagen bildlich in seine Schuhe zu stellen und eine Angelegenheit aus seinen Augen zu sehen.
Jeder darf seine Wahrheit haben und behalten. Es geht darum, was wir daraus machen.
Lass mich dir an dieser Stelle noch etwas von meiner Haltung erzählen, insbesondere, wenn du viel mit Gruppen zu tun hast. Als Führungskraft war es mir immer wichtig, dass die verschiedenen Wahrheiten auch eingebracht wurden. Das habe ich stark gefördert. Ich sage immer „Ich liebe die Unterschiedlichkeit.“ Ich schätze es sehr, wenn andere Meinungen vorhanden sind, das bewahrt mich und das Team vor unausgewogenen Entscheidungen. Auch hier gilt, dass jeder seine Wahrheit haben darf, d. h. jeder soll seine Einschätzung äußern und es ist nicht nötig, dass alle am Ende die gleiche Wahrheit, Meinung oder Haltung haben. Das spart Zeit und Energie, die sonst verloren geht, wenn darüber diskutiert wird, wer nun recht hat. Viel sinnvoller ist es zu besprechen, was bei Würdigung der unterschiedlichen Sichtweisen die beste Vorgehensweise ist. Zur richtigen Zeit ist dann eine Entscheidung nötig, entweder durch die Gruppe oder – wenn dies nicht funktioniert – durch die Führungskraft. Die Entscheidung ist dann jedoch besser, weil ganz unterschiedliche Sichtweisen und Aspekte beleuchtet wurden, und meine Erfahrung ist, dass die Entscheidung auch von allen mitgetragen wird, weil jeder gehört wurde und weiß, wie die Entscheidung zustande kam. Jeder vernünftige Mitarbeiter weiß, dass nicht jede Entscheidung nach seinem Wunsch ausgehen kann. Meine persönliche Erfahrung ist zudem, dass eine Gruppe, in der diese Grundhaltung vorherrscht, sowohl in ihrer Leistungsfähigkeit als auch in ihrem Engagement und Spaß deutlich vor anderen Gruppen liegt.
Die dritte Erkenntnis in diesem Kapitel lautet: Deine innere Stimme bewertet ständig deine Wahrnehmung und löst deine Gefühle und Handlungen aus. Du bist jedoch nicht deine innere Stimme. Sie resultiert vor allem aus dem, was andere dir über dich und die Welt erzählt haben. Das ist sehr relativ und stimmt oft gar nicht. Dieser Mechanismus ist jedoch mächtig, denn am Ende erschafft er deine Wirklichkeit. Wenn du dir dessen bewusst bist, kannst du deine Wirklichkeit selbst gestalten und die Gestaltung deines Lebens selbst übernehmen.
Die vierte Erkenntnis lautet: Jeder hat ein anderes Bild von der Welt, das er durch sein individuelles Wahrnehmungsmuster erschaffen hat. Es gibt hierbei kein Richtig oder Falsch. So wie du denkst, dass dein Bild richtig ist, so denkt es ein anderer über sein Bild, nur dass beide sehr unterschiedlich sein können. Dies zu verstehen und zu akzeptieren, ist eine gute Grundlage für Empathie und soziale Kompetenz.
Übung: Meiner inneren Stimme und meinen Bewertungen auf der Spur
Kennst du die Situation, dass du irgendwo warten musst, z. B. an der Kasse? Ich habe jetzt für dich eine wunderbare Übung für alle diese Situationen und natürlich auch überall sonst. Diese geht ganz einfach:
Schau dich einfach in deiner Umwelt um. Schau dir zum Beispiel die Menschen an, die mit dir warten, und achte nur darauf, was deine innere Stimme dir gleich anfängt zu erzählen. Auf sie ist Verlass, versprochen! Vielleicht lästert sie sofort drauf los, vielleicht beschwert sie sich, vielleicht bewundert sie jemanden, vielleicht entdeckt sie etwas Schönes. Das ist alles ein Ausdruck deiner automatisierten Gedanken und deiner Bewertungen. Achte einfach bewusst darauf und reflektiere dich kritisch. Das ist eine gute Art bewusst mitzubekommen, was uns unsere innere Stimme die ganze Zeit weismachen möchte, denn auch dies ist nicht die Wahrheit.
Du wirst erstaunt sein, wie schnell deine Wartezeiten vergehen und welche Muster du bei dir entdecken wirst. Im weiteren Verlauf des Buches werden wir das noch viel tiefer betrachten und verstehen, wie dies mit unseren Gefühlen, unserem Lebensglück und unserer Lebenszufriedenheit insgesamt zusammenhängt.
2.5 Wie wir unsere Wirklichkeit erschaffen
![../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig11_HTML.gif](../images/456941_1_De_2_Chapter/456941_1_De_2_Fig11_HTML.gif)
Wahrnehmungskreislauf
Wir beginnen links oben bei der Außenwelt, die wir wahrnehmen. Im Schritt 1 geht es um den Prozess, wie diese Außenwelt in unserem Bewusstsein abgebildet wird. Dort kommt am Ende nur ein winziger Teil der Außenwelt an und diese Abbildung ist konstruiert und unter Umständen verzerrt. Du erinnerst dich an den Filter und die Wahrnehmungstäuschungen.
Ich saß kürzlich mit meiner Tochter auf der Terrasse und sie meinte plötzlich: „Die Nachbarkinder spielen ein komisches Spiel.“ Erst dann nahm ich die Stimmen der Kinder überhaupt wahr, zuvor hatte ich dies völlig ausgeblendet. So funktioniert eben unser Filter.
Im Schritt 2 wird das, was im Bewusstsein ankommt, von unserer inneren Stimme bewertet. Hier wirken unsere innere Haltung, unsere Erfahrung und vor allem unsere Schwachstellen und „Knöpfe“ im Hintergrund. Hier stellen sich die Weichen: Wenn wir die Musik des neuen Nachbarn hören, platzen wir entweder schier vor Ärger oder wir denken uns: „Ich muss ihm unbedingt erzählen, wie hellhörig das hier ist“. An dieser Stelle haben wir einen gewaltigen Hebel für unser Lebensglück und auch für unseren Erfolg.
Denn – und damit sind wir schon beim dritten Schritt – aus dieser Bewertung entspringen unsere Gefühle und diese ergeben vermengt mit unseren Überlegungen unsere Handlungen. Der Kreis schließt sich. Wir verhalten uns in einer bestimmten Form und nehmen die Ergebnisse unserer Handlungen erneut wahr.
Dieser Kreislauf erklärt dir auch, warum die selbsterfüllenden Prophezeiungen die Wahrscheinlichkeit so stark erhöhen, dass sie sich erfüllen. Du nimmst die Dinge wahr, die zur Realisierung deiner Prophezeiung beitragen, und deine innere Stimme färbt sie so ein, dass du dich so verhältst, dass sie immer mehr Wirklichkeit werden. Das funktioniert in die positive wie auch in die negative Richtung.
Stell Dir einen Schüler vor. Er kämpft mit einer echt schweren Matheaufgabe und das nun schon einige Zeit. Er hat noch keinen Lösungsweg herausgefunden. Eine erste Frustration stellt sich ein und die Weichen stellen sich auch hier nach seiner inneren Stimme und seiner Bewertung. Wenn er sich sagt, „Ich bin zu dumm für solche Aufgaben, da haben wir es wieder und Spaß macht es auch keinen“, dann wird er relativ bald aufgeben. Wenn er sich denkt, „Wow, das ist eine echt knifflige Aufgabe. Ich krieg das aber raus, die meisten dieser Aufgaben konnte ich lösen. Lass mich nochmal überlegen, welche Informationen hier in der Aufgabenstellung stehen. Wie könnte das gehen?“, dann hat er deutlich größere Chancen, die Aufgabe zu lösen. Dies alles wirkt dann wieder zurück auf sein Bild über sich selbst und verstärkt seine positive Sicht auf sich selbst.
Kannst du nun mit diesem Prozess alles verändern? Einfach selbsterfüllende Prophezeiungen generieren und alles läuft wie am Schnürchen? Als Psychologe ist es mir wichtig, mich an wissenschaftlichen Prinzipien zu orientieren. Deshalb schreibe ich, „die Wahrscheinlichkeit erhöht sich deutlich“, und nicht, „du kannst mit absoluter Sicherheit alles erreichen“. Dieser Prozess ist sehr mächtig, jedoch bringt er keine 100 %ige Garantie. Ich möchte dir ein seriöses und realistisches Bild auf wissenschaftlicher Grundlage geben, statt wie in vielen Lebensratgebern und Büchern zum positiven Denken Versprechungen abzugeben, die am Ende oft nicht gehalten werden können.
- 1.
Unsere Möglichkeiten, über diesen Prozess eine veränderte Lebenswirklichkeit entstehen zu lassen, sind vielleicht nicht grenzenlos, jedoch riesig.
- 2.
Sei dir selbst gegenüber gesund kritisch und prüfe, ob das, was du wahrnimmst, denkst und glaubst, wirklich zutreffend ist. Vieles ist relativ, kann auch anders betrachtet werden oder ist einfach übernommen. Es kann sein, dass du an etwas nur deshalb glaubst, weil es sich seit Jahrzehnten bestätigt. Denke an die Untersuchung mit den schüchternen Männern. Wenn dein Weltbild exakt das Gegenteil wäre, dann würde es sich vielleicht seit Jahrzehnten bestätigen. Es lohnt sich sehr, dies zu reflektieren.
Die renommierte Glücksforscherin und Professorin für Psychologie an der University of California, Riverside, Sonja Lyubomirsky kommt daher zum Ergebnis: „Was wir über uns und die Welt denken, hat mehr Einfluss auf unser Glück oder Unglück als unsere tatsächlichen Lebensumstände.“ 26
2.6 Dein Schlüssel für ein glücklicheres Leben
Ich möchte mit dir nun gerne noch weiter und tiefer gehen, nämlich hin zu dem Punkt, wie du alles, was wir nun gesehen haben, für dein Leben nutzen kannst.
Vielleicht denkst du dir jetzt gerade: „Na prima, ein desolater Wahrnehmungsprozess soll mir bei einem genialen Leben helfen. Wie soll das denn gehen?“ Die gute Nachricht ist: Es gibt einen Weg!
Je länger ich über unsere Wahrnehmung und unser Gehirn nachdenke und in die Forschungsarbeiten eintauche, umso faszinierter bin ich davon. Fasziniert von der gewaltigen Informationsverarbeitung, die sekündlich in unserem Gehirn abläuft, von der Filterung und Bewertung der Informationen, dem Vergleich mit bisherigen Erfahrungen, dem Abspeichern von allem, was uns wichtig erscheint, und dann noch von dieser damit verbundenen grandiosen Palette von Gefühlen und deren Bedeutung. Kein Wunder, dass unser Gehirn ein Drittel unseres täglichen Kalorienbedarfs verbraucht 27 . Das ist bei Tieren je nach Art ein deutlich geringerer Anteil.
Unser menschliches Gehirn kann jedoch noch viel mehr. Es hat noch eine weitere faszinierende Fähigkeit. Es kann über sich selbst nachdenken, sich selbst reflektieren und damit sein eigenes Denken und Fühlen wiederum verändern. Genau diese Fähigkeit ist der Schlüssel für ein glücklicheres Leben und genau diese Fähigkeit werden wir uns neben vielen anderen Themen im Rest dieses Buches zunutze machen. Wir können unser Gehirn „einfach so machen lassen“ oder wir können „zuschauen“, lernen und den Prozess verändern. Nach allem, was wir dazu heute wissen, gelingt dies in jedem Lebensalter.
Eine entscheidende Erkenntnis dabei ist, dass diese Prozesse ohnehin in unserem Gehirn pausenlos ablaufen. Die Bewertungen haben wir vielleicht von unseren Eltern, unseren Freunden oder beispielsweise durch die Werbung und die Medien übernommen. Bewusst in diesen Prozess einzugreifen, übersetze ich mit „wach leben“ und das Leben leben, das ich leben will, statt den Erwartungen anderer gerecht zu werden.
Ich will dir jedoch erstmal von mir erzählen. Ich war viele Jahre nicht „wach“ und lebte nicht bewusst mein Leben, sondern ließ mich leben. Dabei war ich hochaktiv, aber nicht bei mir und dem, was ich wirklich mochte und was mich ausmacht. Ich nenne das „Autopilot-Modus“. Als Manager war ich beispielsweise sehr erfolgreich, jedoch lebte ich einfach von früh bis spät meinen elektronischen Terminkalender. Wenn ich dann spätabends nach Hause kam, hörte ich meiner Frau oft auch nicht richtig zu. Wenn ich drei Stunden Auto fuhr, konnte ich mich danach kaum an die Fahrt erinnern, da ich alle meine Rückrufe dabei erledigte. Ein richtig krasses Erlebnis hatte ich, als ich aus dem Flugzeug ausstieg und mich in der angedockten Fluggastbrücke fragte, ob ich jetzt eigentlich in Berlin, Düsseldorf oder Köln war. Wenige Sekunden später dämmerte es mir dann, dass es Köln/Bonn sein musste. Auch diese Situation ließ mich umdenken. Denn obwohl äußerlich alles sehr erfolgreich lief, spürte ich innerlich eine Leere und tief in mir wusste ich, dass ich nicht so leben wollte. Ich lebte im Hamsterrad und das war mir am Wochenende oder im Urlaub auch mal bewusst, nicht jedoch, während ich darin lief. Letztlich war mein Leben grau. Es fehlten die brillanten Farben. Obwohl ich wach war, war ich nicht bei mir und letztlich „schlafend“.
Vielleicht erlebst du dein Leben auch manchmal so im Autopilot-Modus oder als Hamsterrad. Es muss auch nicht so extrem sein, wie es bei mir war. Meiner Erfahrung nach geht es vielen Menschen so. Das Leben ist dadurch jedoch grau, es wird einfach gelebt und die Menschen haben vielleicht im Urlaub eine kurze Zeit, in der sie spüren können, wie sich ein leuchtendes Leben anfühlt.
Du wirst in diesem Buch ganz viele Möglichkeiten finden, um dein Leben farbenfroh zu gestalten. Dies bedeutet übrigens nicht nur, achtsam bei sich zu sein. Du wirst noch viel mehr entdecken und aus dem beschriebenen Buffet an Möglichkeiten, das aussuchen können, was dir zusagt. In jedem Fall steigt jedoch deine Wachheit allem gegenüber, was um dich ist, und eben auch deinem Wahrnehmungsprozess gegenüber. Das ist sehr spannend, es geht ja um dich! Du kannst dich wie einen guten Freund begleiten, dir beim Denken und Fühlen „zusehen“. Du kennst die oben erwähnten Unzulänglichkeiten in deiner Wahrnehmung und kannst dir den einen oder anderen Hinweis geben, eine Sache vielleicht auch aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, und kannst bewusst ein gelingendes Leben für dich schaffen.
Den Blickwinkel, aus dem du dich selbst beobachten und reflektieren kannst, nennt man Metaperspektive. Das bedeutet, dass du dich aus einer übergeordneten Perspektive ansiehst und bewusst beobachtest, was gerade passiert. Dies ist wirklich eine einzigartige Funktion unseres Gehirns und diese Funktion solltest du nutzen.
Du hast mehr Lebensgefühl, dein Leben wird allein dadurch bunter. Es ist nicht mehr so, dass du einfach so vor dich hin lebst. Du bist achtsam. Du spürst das Leben. Du spürst Faszination. Bei mir entsteht oft Gänsehaut, einfach, weil es pures Leben ist. Weil es ein Wunder und live in uns ist.
Der zweite Vorteil ist: Du kannst verändern. Du bist nicht mehr Opfer, sondern du kannst aktiv gestalten. Du kannst in den Wahrnehmungs- und Denkprozess, der ungesteuert ohnehin abläuft, eingreifen. Die Metaperspektive ist dein Schlüssel für ein gelingendes Leben.
Das kann alles ändern. Das Leben vieler Menschen ist grau und plätscherte vor sich hin. Mit diesem Schlüssel wird jedoch alles anders. Wenn sie sich nun beobachten, wenn sie lernen, wie und warum sie reagieren, wenn sie sich hinterfragen, dann wechselt das Leben von grau in den Abenteuermodus. Es gibt ständig etwas zu entdecken. Wenn du so herangehst, dann lernst du dich viel besser kennen und wächst innerlich. Dir wird klarer, für was du stehst, du wirst konstruktiver im Umgang mit Widerstand. Du spürst die Geschenke des Lebens und schätzt sogar die Stürme, die dich stärker werden lassen. Bildlich gesprochen wirst du dich auf dem wunderbaren Meer deines Lebens nicht mehr länger in deinem grandiosen Segelboot treiben lassen. Du wirst am Ende dieses Buches wissen, wie du die Segel setzen kannst und wie du das Ruder einsetzt. Dabei wirst du dich viel besser kennenlernen und viel besser fühlen.
In diesem Buch findest du eine Vielzahl an Erkenntnissen der derzeitigen wissenschaftlichen Forschung. Du weißt am Ende dieses Buches, was glücklicher und zufriedener macht. Dafür liebe ich die Positive Psychologie: Sie bringt Licht ins Dunkel und enthüllt die Mechanismen, wie wir Menschen noch großartiger denken, fühlen und leben können.
Freue dich auf diese Entdeckungsreise. Ich bin sehr dankbar, in einer Zeit zu leben, in der schon einige dieser Gesetze enthüllt und wissenschaftlich geprüft worden sind.
2.7 Hedonistische Anpassung oder wie lange macht mich mein neues Auto glücklich?
Wenn du glücklicher werden willst, dann solltest du unbedingt das Phänomen kennen, das die Wissenschaftler „hedonistische Anpassung“ nennen. Lass uns diesen Begriff anhand eines Beispiels betrachten: Wenn du mich früher gefragt hättest, ob ich total glücklich wäre, wenn ich eine große Summe im Lotto gewinnen würde, dann hätte ich dir geantwortet: „Na klar, alle Probleme sind gelöst. Ich wäre glücklich ohne Ende.“ Denkst du auch so? Die meisten Menschen glauben, dass sie die Erfüllung eines lang ersehnten Wunsches sehr lange glücklich mache und umgekehrt, dass sie ein großer Verlust für lange Zeit oder gar für immer traurig werden ließe. Wir haben schon oft die Erfahrung gemacht, dass wir uns glücklich fühlen, wenn ein Ziel erreicht ist, wenn wir einen langersehnten Wunsch endlich erfüllt bekommen haben. Dafür sind wir auch bereit viel zu opfern und gehen davon aus, dass wir dann langanhaltendes Glück empfinden. Wie ist das aber tatsächlich?
Daniel Gilbert, Professor an der Harvard University, und weitere Kollegen haben untersucht, wie richtig wir damit liegen, unsere Glücks- und Unglücksgefühle nach bestimmten Ereignissen vorauszusagen. Eine spannende Untersuchung führten sie mit Assistenzprofessoren von der University of Texas in Austin durch 28 . Dazu muss man wissen, dass Assistenzprofessoren viele Jahre hart arbeiten und viele Entbehrungen hinnehmen, um dann eine endgültige Anstellung als Professor zu erhalten. Daniel Gilbert befragte nun die Assistenzprofessoren, ob sie glaubten, dass sich ihr Glücksgefühl über die Zeit verändere, wenn sie erführen, dass sie entweder Professor werden oder endgültig keine Anstellung als Professor bekommen werden. In diesem Fall ist dieser Karrieretraum für immer versagt, weil es keine weitere Chance der Bewerbung mehr gibt. Wenn sich die Assistenzprofessoren dies vorstellten, dann schätzten sie, dass sie sehr bedrückt sein würden, ihr Lebenstraum wäre geplatzt und sie schätzten, dass die Auswirkungen dieses Tiefschlags auf ihr Glücksgefühl sehr lange anhalten würden. Sie wurden dabei gebeten, bis zu 10 Jahre nach der Entscheidung anzugeben, wie sich ihr Glückgefühl verändern würde.
Wenn sich die Assistenzprofessoren dagegen vorstellen sollten, wie sich ihr Glücksempfinden verändern würde, wenn sie die Anstellung bekämen, dann sagten sie das genaue Gegenteil vorher. Sie hätten ihr Lebensziel nach so langer und harter Arbeit erreicht, sie wären überglücklich und dies über ebenfalls sehr lange Zeit.
Nun haben die Forscher untersucht, wie sich das Glücksempfinden tatsächlich nach einer so weitreichenden Entscheidung veränderte, und mit den Aussagen verglichen. Womit die Assistenzprofessoren richtiglagen, war, dass sich das Glücksgefühl unmittelbar nach der Zu- oder Absage stark nach unten oder oben veränderte. Sie irrten sich jedoch in ihrer Einschätzung, wie lange diese Effekte anhalten würden. Tatsächlich zeigte sich nämlich, dass sie nach einiger Zeit auf einem ähnlichen Glücksniveau wie vor der Entscheidung lagen. Diejenigen, die Professoren geworden waren, hatten sich daran gewöhnt, und diejenigen, denen es nicht gelungen war, kamen darüber hinweg.
Eine andere, fast schon zum Klassiker gewordene Studie 29 untersuchte die Veränderung der Lebenszufriedenheit an zwei extremen Gruppen: Lottogewinnern und Menschen, die durch einen Unfall querschnittsgelähmt wurden. Auch hier zeigten sich nach dem Eintritt solcher Ereignisse starke Veränderungen in der Lebenszufriedenheit. Während die Lottogewinner im siebten Himmel schwebten, mussten die Querschnittsgelähmten mit dem Verlust ihrer Bewegungsfreiheit zurechtkommen. Über die Zeit jedoch näherten sich beide wieder ihrem Ausgangsniveau an. Auch hier zeigt sich diese erstaunliche Gewöhnung an die neue Situation, ob es auf der einen Seite um Reichtum geht oder auf der anderen Seite darum, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein und sein Leben künftig ganz anders leben zu müssen. Die Untersuchung zeigte zudem noch ein spannendes Ergebnis: Die Freude an alltäglichen Beschäftigungen (sich mit Freunden unterhalten, fernsehen, frühstücken) war bei den Querschnittsgelähmten höher ausgeprägt als bei den Lottogewinnern. Während die letztgenannte Gruppe sich durchaus an diesen Beschäftigungen erfreuen konnte, hatten sich die Lottogewinner an ein anderes Niveau gewöhnt und hatten daran nicht mehr ganz so viel Freude wie zuvor.
Was lernen wir nun daraus? Der Mensch gewöhnt sich an seine Umstände. Selbst einschneidende Ereignisse haben nur einen vorübergehenden Einfluss auf unser Glücksempfinden, wir gewöhnen uns schließlich daran, sowohl an die positiven als auch an die negativen Aspekte.
Diesen Vorgang nennen die Wissenschaftler hedonistische Anpassung und sprechen oft auch vom psychologischen Immunsystem. Dieses heilt den Verlustschmerz bezüglich der Bewegungsfreiheit der Querschnittsgelähmten und nivelliert gleichermaßen auch das „Wolke-7“-Gefühl der Lottogewinner. Was wir daraus lernen können und sollten, ist, dass wir uns an äußere Umstände schnell gewöhnen und sich diese viel kürzer auf unser Lebensglück auswirken als wir üblicherweise glauben.
Ich machte diese Erfahrung mit einem Auto. Gegen Ende meines Studiums hatte ich ein sehr klappriges Auto, das ich so lange fuhr, bis es verschrottet werden musste. Meine nachfolgenden Autos waren auch langjährig gebraucht. Als ich dann meine erste Managementaufgabe übernahm, hatte ich die Möglichkeit, mir ein neues Auto nach meinen Wünschen zu bestellen. Meine Vorfreude war riesig und als es dann geliefert wurde, war es wie Weihnachten. Es war ein wirklich großartiges Gefühl. Doch nachdem einige Wochen vergangen waren, ebbte dieses Gefühl ab. Ich hatte mich jetzt an dieses Auto gewöhnt, es war weiter schön und gut, aber es erzeugte nicht mehr diese Glücksgefühle. Dafür hätte es ein nächstes nagelneues, noch besseres Auto gebraucht und auch an dieses hätte ich mich gewöhnt und so wäre es weitergegangen.
Du erkennst daran die große Falle, in die wir tappen können. Die Werbung erzählt uns ständig, „kauf dir dieses und es geht dir besser“ und „kauf dir jenes und du wirst glücklich sein“. Was die Werbung verschweigt, ist die hedonistische Anpassung. Das Glücksgefühl über die neuen Schuhe ebbt genauso ab wie die Freude über die neue Uhr. Wir gewöhnen uns schlicht an sie.
Damit sind wir Menschen nicht alleine. Auch Tieren geht es so. Wenn sich z. B. Affen daran gewöhnt haben, dass es nach einem Lichtsignal Äpfel gibt, dann löst dies keine freudige Erregung mehr aus. Werden nun die Tiere überrascht, weil es statt Äpfel die noch viel leckeren Rosinen gibt, dann konnten die Wissenschaftler die freudige Erregung auch bei den dafür relevanten Neuronen im Affengehirn messen. Aber nicht lange. Schon bald gewöhnten sich die Affen an das Luxusessen. Die hedonistische Anpassung wirkte. Als die Wissenschaftler den Affen dann wieder „nur“ Äpfel gaben, sank das Erregungsniveau sogar unter den normalen Ruhezustand – ein Zeichen für einen kurzen depressiven Zustand. Die Affen waren messbar enttäuscht. Auch an die Äpfel gewöhnten sich die Tiere wieder schnell und schon bald war alles wieder so, als ob es die Rosinen nie gegeben hätte 30 .
Die Strategie, Glück über äußere Umstände zu finden, funktioniert nur bedingt und in der Regel nur kurzfristig. Wir werden in den nachfolgenden zwei weiteren Kapiteln sehen, mit welchen Haltungen und mit welchen Übungen und Strategien wir unser Lebensglück langfristig steigern können. Außerdem werden wir uns ansehen, was du tun kannst, um den Gewöhnungsprozess zu verlangsamen und die Glücksgefühle länger zu genießen.
Was kannst du nun aus dem Wissen um die hedonistische Anpassung ableiten? Für mich ist dies die folgende Schlussfolgerung: Materielle Dinge haben auf Grund der hedonistischen Anpassung nur einen sehr begrenzten Einfluss auf unsere Lebenszufriedenheit und unser Glück. Überschätze also nicht den Wert materieller Dinge. Sie sind keine Garantie für Glück. Es wäre falsch, jahrelang z. B. in einem unglücklichen Anstellungsverhältnis zu verharren, nur um das Geld für eine tolle Anschaffung zu haben, in der Hoffnung danach für immer glücklich zu sein. Oder jahrelang in unglücklichen Umständen zu bleiben, um immer mehr Geld anzuhäufen. Es ist besser, seiner Bestimmung mit einem klapprigen Auto zu folgen und dafür mehr Lebensfreude zu haben, als über längere Zeit unglücklich zu sein, nur um sich das nagelneue Auto leisten zu können.
Dennoch ist dies kein Plädoyer gegen materielle Dinge. Nutze sie, genieße sie in vollen Zügen, erlebe auch das momentane Glück mit ihnen und koste es ruhig aus. Verfalle nur nicht dem Irrglauben, dass dies ein dauerhafter Weg zum Glück ist und es sich lohnen würde, lange unglücklich zu sein, um dann endlich das Ersehnte zu kaufen.
Reflexionsfragen
Wann war ich bei einer meiner letzten Anschaffungen nach dem Kauf glücklich? Wie lange hat es angehalten?
Habe ich mich schon einmal von der Illusion blenden lassen, dass ich sehr lange glücklich sei, wenn ich etwas errungen oder bekommen habe?
Wie wichtig sind mir materielle Dinge? Habe ich dafür schon einmal auf viele schöne andere Dinge verzichtet? Hat es sich gelohnt?
2.8 Exkurs: Neuroplastizität – unser Gehirn erfindet sich ständig neu
Wusstest du, dass sich unser Gehirn ununterbrochen verändert? Erst durch modernste und neuartige Untersuchungsverfahren konnten Forscher erkennen, dass sich unser Gehirn in seiner Vernetzung ununterbrochen und relativ schnell dem anpasst, was wir denken und tun. Wir können unser Leben verändern und inzwischen können wir sogar nachweisen, dass dadurch auch die Verdrahtung in unserem Gehirn umgestellt wird. Außerdem konnten die Forscher herausfinden, wo das Glück in unserem Gehirn wohnt. Mehr dazu kannst du in den Online-Zusatzmaterialien nachlesen: Exkurs 1 auf http://extras.springer.com.
2.9 Macht Geld glücklich?
Der mächtige König Midas glaubte einst, wenn er unsagbar reich werde, dann sei auch sein Glück für immer gesichert. Gott Dionysos, bei dem er einen Wunsch frei hatte, erfüllte ihm sein Begehren, dass fortan alles, was er berührte, zu reinem Gold werde. Und siehe da, wenn König Midas einen Stein aufhob, hatte er Gold in seinen Händen, und wenn er seinen Tisch berührte, verwandelte sich dieser ebenfalls augenblicklich in pures Gold. König Midas wusste, dass ihn jetzt nichts mehr darin hindern konnte, der reichste und damit auch der glücklichste Mann der Welt zu werden. Als er hungrig wurde, bereute er jedoch bald seinen Wunsch. Als er das Essen berührte, wurde auch dieses augenblicklich zu Gold und als er nach dem Glas mit dem wunderbaren Rotwein griff, verwandelte sich dies ebenfalls sofort in pures Gold. Es wird erzählt, dass die Götter Mitleid mit ihm hatten und ihm den Rat gaben, sich im Fluss Paktalos zu waschen, um seine Gabe loszuwerden. Dies befolgte er auch. Seine Gabe verschwand. Wenn Menschen im Fluss Paktalos Gold finden, dann soll dies auf König Midas zurückgehen.
Was meinst du? Macht Geld glücklich? Macht viel Geld glücklicher? Ein Sprichwort meint: „Geld macht nicht glücklich, aber beruhigt ungemein.“ Stimmt das? Wir wollen jetzt diesem wichtigen Thema auf den Grund gehen. Erfreulicherweise gibt es hier auch Forschungsergebnisse, sowohl für Einzelpersonen als auch für ganze Nationen.
Die Psychologen Kostadin Kushlev und Elizabeth Dunn gingen in ihrer Forschungsarbeit der Frage nach, ob Geld dazu führt, dass Menschen sich tagtäglich glücklicher fühlen bzw. ob es hilft, dass sie weniger Traurigkeit empfinden. In die Untersuchung flossen die Einschätzungen von über 12 000 Menschen ein. Es zeigte sich folgendes Ergebnis: Geld führt nicht dazu, dass Menschen Tag für Tag glücklicher sind. Allerdings hat es einen geringen, jedoch messbaren Effekt, weniger traurig zu sein. Glücklichsein und Traurigsein hängen nur bedingt zusammen. Wer nicht traurig ist, ist nicht automatisch glücklich und umgekehrt. Die Forscher erklären sich das so, dass Menschen mit Geld mehr Optionen haben, mit Widrigkeiten des Lebens umzugehen. Wer beispielsweise ein Loch in seinem Dach feststellt, der kann das Problem relativ schnell lösen lassen, wenn er Geld hat. Wer dagegen arm ist, hat weniger Optionen und muss möglicherweise mit den Folgen über Monate leben. Wir können als erstes festhalten: Geld erhöht nicht das tägliche Glücksgefühl 31 .
Neben dem emotionalen Glücklichsein und Sich-voller-Lebensfreude-Fühlen gibt es noch eine zweite Komponente: die Lebenszufriedenheit. Während das Glücklichsein im Augenblick erlebt wird, bezieht sich die Einschätzung der Lebenszufriedenheit auf einen längeren zurückliegenden Zeitraum. Wie steht es mit der Lebenszufriedenheit: Haben reiche Menschen mehr davon?
Dieser Frage ging Ed Diener nach. Er untersuchte den Zusammenhang von Geld mit dem subjektiven Wohlbefinden. Dieses enthält neben der Lebenszufriedenheit weitere Komponenten wie finanzielle Zufriedenheit, angenehme Gefühle und die Abwesenheit unangenehmer Gefühle. Hier fanden die Forscher einen schwachen positiven Zusammenhang, d. h. mit mehr Geld steigt auch die subjektive Zufriedenheit ein klein wenig an 32 .
Dabei ist es wichtig zu betrachten, von welchem Ausgangsniveau man ausgeht. Für einen armen Menschen, der sich einschränken muss, möglicherweise kaum das Geld für das tägliche Essen oder in manchen Ländern das Geld für die medizinische Versorgung für sich und seine Familie aufbringen kann, für einen solchen Menschen führt mehr Geld zu einem messbaren Anstieg sowohl von Lebenszufriedenheit als auch von Glücksempfinden. Menschen, bei denen die Grundbedürfnisse erfüllt sind, freuen sich zwar kurzzeitig über eine Gehaltserhöhung, dieser Effekt verpufft jedoch schnell wieder, sobald die hedonistische Anpassung wirkt.
Diese Zusammenhänge zeigen sich auch in sog. Metaanalysen. Hierbei fassen die Wissenschaftler eine Vielzahl von Studien zusammen, um zu einer fundierten Aussage zu kommen. In einer solchen Metaanalyse wurden die Daten von insgesamt 111 verschiedenen Studien aus 54 Ländern zum Zusammenhang zwischen materiellem Status und subjektiver Zufriedenheit untersucht. Das Ergebnis war sehr deutlich: In ökonomisch niedrig entwickelten Ländern sowie Ländern mit geringem Bildungsniveau zeigte sich ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen Geld und Zufriedenheit. Dieser Zusammenhang wurde jedoch sehr klein, wenn die Forscher die Analysen in hochentwickelten Industrieländern bzw. in Ländern mit hohem Bildungsniveau auswerteten 33 . Dies bedeutet, dass in den reicheren Ländern Geld kaum Auswirkung auf die Zufriedenheit der Menschen hat.
Ed Diener wollte dem Thema Geld und Glück bzw. Zufriedenheit noch mehr im Detail auf den Grund gehen. In seine Untersuchung flossen die Befragungsdaten der Gallup-Organisation von über 136 000 Menschen aus 132 Ländern der Erde ein. Bei dieser Studie untersuchte er den Zusammenhang zwischen Einkommen mit genereller Lebenszufriedenheit und davon getrennt mit positiven und negativen Gefühlen. Auch in dieser Untersuchung fand er einen Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenszufriedenheit, also der Einschätzung der Menschen, wie ihr Leben insgesamt ist und wie sie meinen, dass es sein sollte. In dieser Studie war der Zusammenhang im Vergleich zu vielen anderen Studien sogar etwas höher. Ed Diener geht davon aus, dass dies daran liegt, dass in die Studie die Daten vieler armer und schwachentwickelter Länder einfloss. Hier wird also genau der Effekt deutlich, dass sich Geldzuwachs im unteren Einkommensbereich viel stärker auf die Lebenszufriedenheit auswirkt. Übrigens bestand der exakt gleiche Zusammenhang auch zwischen Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner und Lebenszufriedenheit, d. h. es ist für die Lebenszufriedenheit von Nutzen, in einem reichen Land zu wohnen. Interessant war, dass sich das Einkommen nicht bedeutsam auf die positiven und negativen Gefühle auswirkte. Hierbei zeigte sich erneut der Effekt, dass Geld zwar die Zufriedenheit etwas steigern kann, dass es aber kaum Auswirkungen auf das Glücksempfinden hat. Diese Studie konnte jedoch auch nachweisen, was unser Glücklichsein beeinflusst. Dies war nicht materieller, sondern psychosozialer Wohlstand. Positivere Emotionen hatten diejenigen Menschen, deren psychische Bedürfnisse erfüllt wurden, hierzu zählen Lernen, Autonomie, Respekt, der Einsatz der eigenen Fähigkeiten und jemand, auf den sie im Notfall sicher zählen konnten 34 .
Exkurs: Das Glück ganzer Länder
Glück und Lebenszufriedenheit lassen sich nicht nur bei einzelnen Menschen, sondern auch bei ganzen Nationen untersuchen. Hierbei zeigt sich das sog. Easterlin Paradoxon: Obwohl sich der materielle Wohlstand in vielen Ländern vervielfacht hat, sind die Menschen nicht glücklicher geworden. Mehr dazu erfährst du in den Online-Zusatzmaterialien: Exkurs 2 auf http://extras.springer.com.
2.10 Warum schlechte Nachrichten für uns so interessant sind
Vielleicht hast du dich auch schon einmal gefragt oder vielleicht dich sogar darüber geärgert, dass in den Medien so häufig negative Themen und Nachrichten in den Vordergrund gestellt werden. Noch stärker ist dieser Effekt im Internet oder bei Boulevard-Zeitungen, deren Schlagzeilen uns noch stärker in den Bann ziehen sollen und den größten Kauf-(oder Klick-)anreiz darstellen. Wir brauchen uns jedoch nicht zu beschweren, denn es wird nur das produziert, was wir – generell gesprochen – auch fordern und sehen wollen.
Aber warum ist das so? Warum springen wir so viel mehr auf Neues und Bedrohliches an? Dazu müssen wir uns die Evolution unseres Gehirns vor Augen halten. Stell dir vor, du bist ein Höhlenbewohner und ganz in dein neuestes Gemälde an der Wand vertieft. Das ist echt herausragend und du bist voll in deinem Flow. Plötzlich hörst du einen Tumult vor der Nachbarhöhle. Das hört sich bedrohlich und gar nicht gut an. Jetzt bist du gut beraten, dir eine Keule zur Bewaffnung zu nehmen und nach dem Rechten zu schauen. Dadurch, dass du rechtzeitig eine mögliche Bedrohung wahrgenommen und darauf reagiert hast, hast du gleichzeitig eine deutlich größere Chance zu überleben und damit deine Gene weiterzugeben, als wenn dich ein Fremder angreift, während du versunken in dein Gemälde die letzten Striche machen willst. Das hätte es dann sowohl mit der Fertigstellung deines Gemäldes aber auch mit deiner Genweitergabe sein können.
Wir haben ein Gehirn vererbt bekommen, das auf Bedrohliches, auf sich Bewegendes und auf Neues schnell reagiert und die Reize sofort ins Bewusstsein durchstellt. Das ist hervorragend und hat unser Überleben ermöglicht. Diese Prozesse sind tief verwurzelt und trotz unserer phantastischen Neuroplastizität lässt sich diese Überlebensprogrammierung nicht kurzerhand fundamental verändern.
Nun kommt jedoch eine Entwicklung dazu, die sich innerhalb nur weniger Jahrzehnte vollzogen hat und an die sich unser Gehirn nicht innerhalb dieses „Wimpernschlags“ der Evolution anpassen kann. Es sind die immensen Mengen an Informationen, die uns nun rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Vor ein paar Jahrzehnten gab es gerade mal drei Fernsehsender und lief eine gute Sendung, so war diese ein „Straßenfeger“. Allein der Begriff zeigt schon, dass das Leben in den Straßen und nicht vor dem Bildschirm stattfand, außer es gab eben eine herausragende Sendung. Die verfügbaren Informationen waren damals überschaubar. Heute haben wir permanenten Zugriff auf alle Nachrichten weltweit, zu jeder Tageszeit und häufig mit Videos.
Das ist alles weder gut noch schlecht, es ist eben die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft und unserer Technik und hat grandiose Vorzüge. Ich z. B. liebe es, mir die Vorträge renommierter Forscher anzusehen. Das ist phantastisch, ich kann den Vortrag verfolgen und das nur mit ein paar Klicks. Die Herausforderung für uns ist, uns bewusst zu machen, dass unser Gehirn noch anders programmiert ist. Es arbeitet so, wie es über Jahrmillionen optimal für unser Überleben war: Es konzentriert sich sofort auf alles Neue oder Bedrohliche.
Wir sind gut beraten, uns die Entwicklungsdiskrepanz zwischen unserem Gehirn und dem rasanten technischen Fortschritt bewusst zu machen und damit vernünftig umzugehen. Sonst kann es schnell passieren, dass wir unseren Stresslevel anheben, insbesondere wenn wir uns ständig mit negativen Nachrichten umgeben.
Du kennst inzwischen die Hauptmechanismen deines Gehirns sehr gut. Was dein Gehirn für wichtig hält (und das ist auf jeden Fall Neues oder Bedrohliches), das wird durchgestellt. Je mehr wir in einer bestimmten Richtung denken, umso breiter werden die Straßen dazu in unserem Gehirn. Wir bauen uns unser Weltbild. Auch hier gilt: Sei auf der Hut, dass sich dein Gehirn nicht ein falsches Weltbild zusammenbaut. Denn wenn du dich ständig nur mit schlechten Nachrichten beschäftigst, dann ist es auch kein Wunder, wenn du irgendwann glaubst, die Welt sei nur schlecht. Dabei ist es nur das verzerrte Weltbild. Es gibt dazu jedoch auch eine gute Nachricht. Wir Menschen können in die Metaperspektive gehen und uns reflektieren. Wir brauchen also glücklicherweise nicht noch Tausende Jahre Evolution abzuwarten, sondern können zum einen entscheiden, womit wir uns wirklich beschäftigen wollen, und zum anderen unser Weltbild auch wieder zurechtrücken.
Anmerkungen
- 1.
Rosenthal, R., & Jacobson, L. (1971). Pygmalion im Unterricht: Lehrererwartung und Intelligenzentwicklung der Schüler. Weinheim: Julius Beltz.
- 2.
In der Folge der Veröffentlichungen von Robert Rosenthal gab es methodische Kritik an den Untersuchungen. Auch konnte der Effekt nicht durchgängig über alle Klassen nachgewiesen werden. Es scheinen noch weitere Aspekte eine Rolle zu spielen, so berichtet Rosenthal, dass bei den „Bloomers“ möglicherweise ein attraktives Aussehen und ein großes Interesse der Eltern für gute Noten den Effekt deutlich unterstützen. Dennoch konnte Robert Rosenthal den Pygmalioneffekt signifikant nachweisen, insbesondere in den ersten Klassenstufen, bei denen die Schülerinnen und Schüler noch keinen „Ruf“ an der Schule haben und auch davon auszugehen ist, dass sie selbst noch kein gefestigtes Bild zu ihrem Leistungsvermögen haben.
- 3.
Rosenthal, R. (1990). Geleitwort. In P. H Ludwig (1991), Sich selbsterfüllende Prophezeiungen im Alltagsleben: Theorie und empirische Basis von Erwartungseffekten und Konsequenzen für die Pädagogik, insbesondere für die Gerontagogik. Stuttgart: Verlag für Angewandte Psychologie. 9–12.
- 4.
Jamieson, D. W., Lydon, J. E., Stewart, G., & Zanna, M. P. (1987). Pygmalion revisited: New evidence for student expectancy effects in the classroom. Journal of Educational Psychology, 79(4), 461–466.
- 5.
McNatt, D. B. (2000). Ancient Pygmalion joins contemporary management: A meta-analysis of the result. Journal of Applied Psychology, 85(2), 314–322.; Bezuijen, X. M., van den Berg, P. T., van Dam, K., & Thierry, H. (2009). Pygmalion and employee learning: The role of leader behaviors. Journal of Management, 35(5), 1248–1267.
- 6.
Ausgangspunkt der Forschung zum Pygmalioneffekt war übrigens die Beobachtung, dass es bei psychologischen Untersuchungen einen Versuchsleitereffekt gab. Dies bedeutet, dass die untersuchten Personen tendenziell so reagierten, wie der Versuchsleiter dies erwartete. Dazu schrieb übrigens Robert Rosenthal seine Dissertation. Interessant ist auch, dass sich dieser Effekt selbst bei Lernversuchen mit Tieren nachweisen ließ. Siehe: Smale, G. G. (1983). Die sich selbst erfüllende Prophezeiung: positive oder negative Erwartungshaltungen und ihre Auswirkung auf die pädagogische und therapeutische Beziehung. Freiburg: Lambertus-Verlag.
- 7.
Merton, R. K. (1948). The self-fulfilling prophecy. The Antioch Review, 8(2), 193–210. S. 195
- 8.
Eine gute Zusammenfassung bietet: Ludwig, P. H. (1991). Sich selbsterfüllende Prophezeiungen im Alltagsleben: Theorie und empirische Basis von Erwartungseffekten und Konsequenzen für die Pädagogik, insbesondere für die Gerontagogik. Stuttgart: Verlag für Angewandte Psychologie.
- 9.
Je nach Berechnungslogik unterscheiden sich die Ergebnisse sehr stark. Manfred Spitzer rechnet beispielsweise, dass im Gehirn rund 2,5 Millionen Nervenfasern ankommen. Jeder Nerv kann bis zu 300 Impulse pro Sekunden abgeben. Ein Impuls steht für ein Bit. Daraus ergibt sich ein Informationsinput von 750 Millionen Bit/s. Siehe: Spitzer, M. (2002). Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Andere Autoren kommen gar auf eine Anzahl von 1 Milliarde Bit/s. Siehe: Keidel, W. D. (1973). Kurzgefaßtes Lehrbuch der Physiologie. Stuttgart: Thieme; Vester, F. (2014). Denken, Lernen, Vergessen. Was geht in unserem Kopf vor, wie lernt das Gehirn, und wann lässt es uns im Stich? München: dtv.
- 10.
Becker-Carus, C. & Wendt, M. (2017). Allgemeine Psychologie. Eine Einführung. Berlin: Springer. Allein die Augen liefern rund 90 % der Informationen. Dies sind 3 Mio. Bit/s. Die Gesamtinformationsmenge ergibt sich daraus rechnerisch mit 3,3 Mio. Bit/s.
- 11.
Siehe Vester, F. (2014). Denken, Lernen, Vergessen. Was geht in unserem Kopf vor, wie lernt das Gehirn, und wann lässt es uns im Stich? München: dtv; Becker-Carus, C. & Wendt, M. (2017). Allgemeine Psychologie. Eine Einführung. Berlin: Springer.
- 12.
Roth, G. (2001). Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 240.
- 13.
Quelle: © Zuberka / Getty Images / iStock.
- 14.
Quelle: gemeinfrei.
- 15.
Quelle: gemeinfrei.
- 16.
Quelle: © edou777 / stock.adobe.com.
- 17.
Quelle: © Vectordivider / Getty Images / iStock.
- 18.
Quelle: © barsukov / stock.adobe.com.
- 19.
Quelle: © Mark J. Grenier / stock.adobe.com.
- 20.
Quelle: © Andrey Korshenkov / stock.adobe.com.
- 21.
Haemmerlie, F. M., & Montgomery, R. L. (1986). Self-perception theory and the treatment of shyness. In Jones, W. H., Cheek, J. M., & Briggs, S. R. (Hrsg.) (2013), Shyness: Perspectives on research and treatment. New York: Plenum Press. 329–342.
- 22.
Haemmerlie, F. M., & Montgomery, R. L. (1982). Self-perception theory and unobtrusively biased interactions: A treatment for heterosocial anxiety. Journal of Counseling Psychology, 29(4), 362–370.
- 23.
Haemmerlie, F. M. (1983). Heterosocial anxiety in college females: A biased interactions treatment. Behavior Modification, 7(4), 611–623.
- 24.
Hinsichtlich der therapeutischen Intervention gibt es noch einen weiteren Aspekt: Die Männer schreiben den Erfolg nicht dem Therapeuten zu, sondern ganz allein sich selbst. Sie allein haben es gekonnt und ohne Mithilfe von jemand anderem. Dadurch sind diese Veränderungen deutlich nachhaltiger.
- 25.
Haemmerlie, F. M., & Montgomery, R. L. (1984). Purposefully biased interactions: Reducing heterosocial anxiety through self-perception theory. Journal of Personality and Social Psychology, 47(4), 900–908.
- 26.
Lyubomirsky, S. (2013). Glücklich sein. Warum Sie es in der Hand haben, zufrieden zu leben. Frankfurt am Main: Campus. S. 98.
- 27.
Klein, S. (2014). Die Glücksformel oder wie die guten Gefühle entstehen. Frankfurt am Main: Fischer.
- 28.
Gilbert, D. T., Pinel, E. C., Wilson, T. D., Blumberg, S. J., & Wheatley, T. P. (1998). Immune neglect: A source of durability bias in affective forecasting. Journal of personality and social psychology, 75(3), 617–638.
- 29.
Brickman, P., Coates, D., & Janoff-Bulman, R. (1978). Lottery winners and accident victims: Is happiness relative? Journal of Personality and Social Psychology, 36(8), 917–927.
- 30.
Klein, S. (2014). Die Glücksformel oder wie die guten Gefühle entstehen. Frankfurt am Main: Fischer.
- 31.
Kushlev, K., Dunn, E. W., & Lucas, R. E. (2015). Higher income is associated with less daily sadness but not more daily happiness. Social Psychological and Personality Science, 6(5), 483–489.
- 32.
Diener, E., & Oishi, S. (2000). Money and happiness: Income and subjective well-being across nations. In E. Diener, E. & Suh, E. M. (Hrsg.), Culture and subjective well-being. 185–218. Cambridge: The MIT Press.
- 33.
Howell, R. T., & Howell, C. J. (2008). The relation of economic status to subjective well-being in developing countries: a meta-analysis. Psychological bulletin, 134(4), 536–560.
- 34.
Diener, E., Ng, W., Harter, J., & Arora, R. (2010). Wealth and happiness across the world: material prosperity predicts life evaluation, whereas psychosocial prosperity predicts positive feeling. Journal of personality and social psychology, 99(1), 52–61.