Der beste Weg, um die Zukunft vorherzusagen, besteht darin, sie zu schaffen. (Peter Drucker)
Wir haben uns bisher damit beschäftigt, wie wir die Erkenntnisse der Positiven Psychologie auf individueller Ebene nutzen können. Wir haben erfahren, wie viele Möglichkeiten sich jedem einzelnen Menschen bieten, sein Leben zu verbessern, voll zu leben, mit immer mehr Freude und Zufriedenheit zu sein, die Dinge zu verfolgen, die ihm wichtig sind und damit sein Leben so zu gestalten, wie er es sich erträumt. Wir haben ein klares Bild davon entwickelt, was hierzu beiträgt und wie jeder vorgehen kann.
In diesem letzten Teil des Buches möchte ich mit dir einen Ausblick wagen, was diese Erkenntnisse auf kollektiver Ebene in Zukunft möglicherweise bewirken und wie sich damit das Wirtschaftssystem, unsere Gesellschaft und unsere Arbeitswelt neu ausrichten können. Wenn die Forschungsergebnisse der Positiven Psychologie immer bekannter werden und immer mehr Menschen ein glücklicheres, zufriedeneres und freudvolleres Leben führen, was sind dann die kollektiven Folgen?
Lass uns als Grundlage unserer Überlegungen zunächst einen Menschen vorstellen, der die Forschungserkenntnisse in das eigene Leben integriert hat. Das ist gleichzeitig eine gute Zusammenfassung wichtiger Inhalte aus diesem Buch. Hast du eine Vorstellung von so einer Person? Lass uns diese beschreiben, wie lebt und denkt sie? Nennen wir sie Joy.
5.1 Wie lebt Joy?
Sie nimmt sich an, wie sie ist, mit allen ihren Stärken und Schwächen, und liebt sich so, wie sie ist. Das ist eine besondere Art von Selbstliebe. Es geht nicht darum, besser als andere zu sein, sondern gelassen und liebevoll das zu schätzen, was ihre Einzigartigkeit und Besonderheit ausmacht.
Sie hat sich bewusst entschieden, Glück und Freude in ihr Leben zu lassen, aufzublühen und zu der in ihr längst angelegten Größe zu wachsen. Sie genießt bewusst die Freuden des Lebens und ist dankbar für die vielen guten Dinge, die Teil ihres Lebens sind.
Innere Größe hat für sie nichts mit anderen Menschen zu tun oder damit, dass sie größer sein möchte als andere, sondern bedeutet, ihre Einzigartigkeit zu leben und dieser in ihrem Leben Ausdruck zu verschaffen. Sie begegnet daher jedem auf Augenhöhe.
Wenn Sie Möglichkeiten sieht, etwas zum Besseren zu verändern, dann macht Joy dies umgehend. Andererseits ist sie so ausgeglichen und mit der Welt verbunden, dass für sie die Welt ist, wie sie ist. Du wirst sie daher nie sich über jemanden oder etwas beschweren hören und auch Lästern liegt ihr fern.
Sie fühlt kein Defizit in sich, das sie ausgleichen muss. Deshalb freut sie sich über das Glück und die Größe anderer und das auch dann, wenn dies ein außenstehender Beobachter noch viel größer als Joys Glück und Erfolg einschätzen würde.
Sie fühlt sich verbunden mit allen Menschen und der Natur und versucht deshalb so zu leben, dass es auch für alle anderen eine gute Welt ist. Wenn sie jemandem helfen kann, dann tut sie das. Sie will jedoch niemandem vorschreiben, wie er zu leben hat.
Sie hat innere Klarheit. Sie weiß, was ihr Spaß macht, was ihre Stärken sind und was ihr wichtig ist und genau diese Aspekte lebt sie.
Sie liebt die Möglichkeiten, die ihr Geld bietet. Gleichzeitig sind ihr das eigene Wohlbefinden und das Wohlergehen anderer viel wichtiger.
Es macht viel Spaß mit Joy zusammen zu sein, weil es sich immer leicht anfühlt. Sie liebt es zu lachen. Du weißt, dass sie immer auf deiner Seite ist. Sie hat nie das Bedürfnis, auf andere herabzublicken. Sie lebt ihre Stärken, sie lebt bewusst, fühlt sich mit allen verbunden und freut sich am Glück und am Wachstum anderer.
Je mehr die Erkenntnisse der Positiven Psychologie bekannt werden, umso mehr Menschen wie Joy werden sich entwickeln und jeder einzelne wird ein großer Gewinn für unsere Gesellschaft sein. Menschen, die auf der Seite der anderen Menschen sind und nicht die heute noch verbreitete Haltung leben: „Ich maximiere meine Vorteile, die anderen sind mir nicht wichtig“. Kannst du dir vorstellen, wie Joy lebt? Hast du ein Bild davon, wie unsere Gesellschaft und unsere Welt wären, wenn viele Menschen immer mehr so wie Joy werden?
Ich möchte dir zum Abschluss dieses Buches meinen Blickwinkel zur Verfügung stellen. Was wird sich meiner Meinung nach verändern, wenn in unserer Gesellschaft immer mehr Joys leben und was bedeutet es, die Erkenntnisse der Positiven Psychologie auf die kollektiven Ebenen anzuwenden? Letztlich ist es sehr einfach: Wir brauchen diese Erkenntnisse nur im größeren Zusammenhang logisch weiterzudenken 1 . Das Ergebnis wird ein positives Zukunftsbild sein. Wie schnell sich dieses entwickelt, kann ich nicht sagen. Die Anfänge sind beobachtbar, es kann jedoch 15, 40 oder auch noch 80 Jahre dauern. Es wird ein langfristiger Prozess sein, nicht jeder wird diesen mittragen wollen und nicht jeder will wie Joy leben. Auch das ist in Ordnung. Denke auch daran, dass dies meine Vision ist. Sie soll dir als Anregung dienen, dir dein eigenes Bild dazu zu machen. Prüfe, wie du dies siehst. Eine solche Vision ist sehr hilfreich, um das tägliche Handeln daran auszurichten. Wie verändert sich nun unsere Welt in der Zukunft mit diesen Erkenntnissen, was bedeutet dies für die Wirtschaft, für unsere Gesellschaft, für die Politik, die Arbeitswelt und für unsere Schulen?
5.2 Wirtschaftssystem und Leitprinzipien
Welchen Einfluss hat dies auf die Wirtschaft? Bislang gibt es in unserem Wirtschaftssystem ein klares Steuerungsprinzip: Kapital ist dazu da, noch mehr Kapital zu erwirtschaften, und in Unternehmen kennen wir diese Strategie als Gewinnmaximierung: Der Gewinn soll so weit wie irgend möglich gesteigert werden. Das ist die oberste Maxime. Negative Auswirkungen auf Mitarbeiter, Lieferanten oder die Umwelt sind von nachrangiger und in Extremfällen sogar von keinerlei Bedeutung. Du kannst dabei die Entsprechung zur individuellen Ebene erkennen: Das Unternehmen verhält sich so wie ein einzelner Mensch, der seine Vorteile auf Kosten der anderen maximiert. Aus der Forschung wissen wir nun, dass er mit dieser Strategie zwar reich, aber eben nicht langfristig glücklich werden kann. Glücklich wird er erst, wenn er nicht nur sein Wohlbefinden im Kopf hat, sondern auch das Wohlbefinden der anderen fördert. Großartige Beispiele hierzu, wie dies heute schon bei Unternehmen realisiert wird, werden wir im weiteren Verlauf kennenlernen.
Doch lass uns zunächst noch bei den übergeordneten Steuerungsinstrumenten unseres Wirtschaftssystems bleiben. Mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) verhält es sich nämlich analog. Die Vorläufer des BIP wurden zwar mit dem Ziel entwickelt, ein Messwert und damit auch eine Steuerungsgröße für den Wohlstand und die Zufriedenheit der Bürger zu sein und teilweise hat dies im letzten Jahrhundert auch funktioniert. Dennoch wissen wir heute, dass wir trotz einer Vervielfachung des BIP als Gesellschaft nicht glücklicher geworden sind. Im Kern misst das BIP nicht das Wohlergehen, ganz im Gegenteil, dafür ist diese Messzahl blind. Ein Wellnessurlaub steigert genauso das BIP wie ein schwerer Verkehrsunfall oder der Klinikaufenthalt eines Burnout-Patienten.
Die Gretchenfrage ist am Ende, was wir wirklich wollen. Was ist das wichtigste und entscheidende Ziel unseres Wirtschaftssystems, ist es Geld zu vermehren um des Vermehrens willen oder ist das wichtigste und entscheidende Ziel der Wirtschaft das Wohlbefinden der Menschen zu steigern?
Meine Antwort darauf ist sehr einfach: Großartige Menschen leisten mit ihrer Arbeits- und damit Lebenszeit großartige Beiträge für unser Wirtschaftssystem. Das kann nur sinnvoll sein, wenn es am Ende dem Wohlbefinden aller dient, statt einem leeren Prinzip der Geldvermehrung zu folgen. Deshalb kann die künftige Leitlinie der Wirtschaft nur sein, dass das Wohlbefinden aller die oberste Priorität hat. Das nachgelagerte Ziel ist Geld zu vermehren. Das Geldziel ordnet sich dem Wohlbefindensziel mit der Verantwortung für alle klar unter. Mir geht es nicht darum, die Strategie Kapital zu vermehren schlecht zu machen. Geld bedeutet Möglichkeiten und mehr Geld bedeutet mehr Möglichkeiten. Die Frage ist dabei jedoch, wie und für was nutzen wir diese Möglichkeiten? Mir geht es darum, dass wir mit dem Prinzip: „Kapital vermehren um des Vermehrens willen“ einem überholten Prinzip folgen, das in seiner losgelösten Form den Menschen und der Umwelt nicht dient. Ich möchte auch das heutige Wirtschaftssystem nicht abwerten. Denn es ist, wie es ist, und es gibt gute Gründe, warum es sich so entwickelt hat. Die Sicht, die ich dir gerne aufzeigen möchte, ist, dass es das System des bisherigen Denkens ist und das ist in Ordnung. Gleichzeitig erleben wir nun ein neues Denken, ein Denken, das wir bei Joy beobachten können und das so viele positive Auswirkungen hat. Dieses neue Denken wird zu viel mehr Wohlbefinden für alle führen und das ist eine sehr gute Nachricht. Unser Wirtschaftssystem wird sich nach diesem neuen Denken weiterentwickeln. Zum bisherigen kalten und leeren Prinzip „Kapitalvermehrung“ kommen künftig Sinn und die Verantwortung für alle. Das Wirtschaftssystem wird beseelt.
Wenn das oberste Leitprinzip der Wirtschaft Wohlbefinden ist, dann fallen im Zweifelsfall die Entscheidungen nicht zugunsten der Gewinnmaximierung aus, sondern die Verantwortung für Mensch und Natur gewinnt. Auch heute ist Nachhaltigkeit bereits ein großes Thema in vielen Unternehmen. Welches Leitprinzip wirklich die oberste Priorität hat, kannst du an den Entscheidungen zwischen diesen Leitprinzipien sehen: günstiger Import aus Entwicklungsländern zu minimalen Löhnen dort oder etwas teurerer Import und Ermöglichen einer Einkommens- und Arbeitssituation in diesen Ländern, die den Menschen dort eine Zukunft ermöglicht; weitere Arbeitsverdichtung bei bereits voll ausgelasteten Mitarbeitern vs. angemessene und dauerhaft gesunde Arbeitsbedingungen. Übrigens wird fast immer behauptet, dass Nachhaltigkeit und Verantwortung im Vordergrund stehen. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich das tatsächliche Leitprinzip. Dass heute bereits in vielen Unternehmen Nachhaltigkeit ein großes Thema geworden ist, zeigt den Beginn dieser Entwicklung. Wenn immer mehr Joys in ihrem Handeln auf das Wohlbefinden aller achten, dann wird dies ein immer entscheidenderes Thema. Wurden in der Vergangenheit beispielsweise Mitarbeiter abgebaut und die verbleibende Arbeit auf die bereits ausgelasteten Mitarbeiter verteilt, nur um noch mehr Gewinn zu machen, so wird künftig die Entscheidung pro Mitarbeiterin bzw. Mitarbeiter getroffen werden. Dabei wird es auch in Zukunft beispielsweise Restrukturierungen und Entlassungen geben (müssen), weil sich Unternehmen verändern, um auch künftig erfolgreich zu sein, sich anzupassen, weiterzuentwickeln und effizienter zu werden. Die entscheidende Frage dabei ist auch hierbei die nach dem Leitprinzip, das manchmal nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Geht es um die vorausschauende Zukunftssicherung des Unternehmens oder geht es um reine Gewinnmaximierung?
In meiner Vision werden die Unternehmenslenkerinnen und -lenker selbst Joys sein. Sie werden ihre Berufung darin sehen, Entscheidungen in ihrem Unternehmen so zu treffen, dass diese das Wohlbefinden aller fördern und nicht nur das kalte alte Prinzip der Gewinnmaximierung bedienen. Diese Haltung wird ihnen selbst viel mehr Lebensfreude und Sinn geben. Auch immer mehr Geldgeber und Aktionäre werden darauf achten, dass genau solche Unternehmenslenkerinnen und -lenker mit ihrem Geld in ihrem Sinne arbeiten. Sie werden für sich entdecken, dass auch sie viel mehr Wohlbefinden spüren, wenn ihr Geld Wohlbefinden schafft, statt sich einfach maximal zu vermehren. Es werden nicht alle so denken. Dieses Denken wird sich jedoch immer stärker verbreiten und das ist die positive Nachricht. Die Auswirkungen dieser Haltung wirst du nach und nach unter anderem bei Arbeitsbedingungen, Umweltschutz, Umgang mit Lieferanten und Kunden, Tierschutz und im ganz Großen auch in der internationalen Wirtschaftspolitik sehen. Wohlbefinden aller wird immer mehr der neue Leitstern werden.
5.3 Gesellschaft und Politik
Jeder Wandel im Bewusstsein wirkt sich auf die Gesellschaft aus. Das lässt sich sogar über große Zyklen in der Menschheitsgeschichte zeigen. Je mehr Menschen nicht mehr in „Ich-Maximierung“ und „die anderen“ denken, sondern auch das „Wir“ wahrnehmen, umso mehr Hilfsbereitschaft wird es in einer Gesellschaft geben, umso mehr werden die Menschen auf andere achtgeben, umso wertschätzender und toleranter wird der Umgang miteinander sein und umso mehr Verständnis werden die Reichen haben, einen Teil ihres Reichtums an Bedürftige zu geben. Immer mehr Menschen können einfach gelassen so sein, wie sie sind, ohne sich verstellen zu müssen und ohne hinter einer Maske zu versuchen, möglichst gut dazustehen. Allerdings wird sich dieser positiven Entwicklung nicht jeder anschließen. Es wird weiterhin Menschen geben, die weder ihre eigene Wertigkeit noch die Gleichheit von uns allen erkennen können. Statt Toleranz und Liberalität zu leben, werden sie aus verschiedenen Gründen immer noch anderen Menschen vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben, außerdem werden diese Menschen für sich weiter die Maximierungsstrategie zu Lasten anderer verfolgen. Das gehört eben auch dazu. Ihr Einfluss wird allerdings immer geringer werden und wir als Gesellschaft werden uns insgesamt immer mehr in Richtung Wohlbefinden entwickeln.
An einigen Stellen ist bereits heute erkennbar, dass dieses Thema Bedeutung erhält. Um dem Aspekt Wohlbefinden stärker Rechnung zu tragen, veröffentlichen beispielsweise die Vereinten Nationen jährlich den World Happiness Report 2 . Regelmäßig belegen dort die skandinavischen Länder die Spitzenplätze und dies hat viel mit deren Gesellschaft zu tun. Obwohl sie Steuerspitzensätze bezahlen, scheint dies für sie in Ordnung zu gehen. Ihre Gesellschaften zeichnet Solidarität, Vertrauen, Großzügigkeit und Freiheit für eigene Lebensentscheidungen aus. Das sind alles wichtige Aspekte für individuelles Glücksempfinden. Die Forschungen zeigen deutlich, dass Gesellschaften dann besonders glücklich sind, wenn alle am Wohlstand partizipieren. Wenn es riesige Unterschiede zwischen Superreichen und Armen gibt, dann sind selbst die Reichen nicht so glücklich, wie sie es eigentlich sein müssten und könnten. Gleichzeitig erkennen wir aus den Daten, dass es unserem Wohlbefinden sehr guttut, wenn wir etwas für das Wohlbefinden der anderen tun. Mir geht es dabei überhaupt nicht darum, alles für alle gleich zu machen. Der Kommunismus hat bekanntlich nicht funktioniert. Wenn ich jedoch alle bisherigen Forschungsergebnisse zusammenlege und wenn wir wirklich Wohlbefinden als oberstes Ziel definieren, dann bedeutet dies, dass der Kapitalismus sich weiterentwickeln wird und das finde ich eine gute Nachricht. Dabei bedarf es neuer kreativer Ideen. Eine Reichenbesteuerung wäre eine Lösung aus der Vergangenheit. Wenn es uns als Gesellschaft wirklich wichtig ist, dass Wohlbefinden für alle ermöglicht wird, dann werden wir neue Wege finden.
Ohnehin werden wir für den bisherigen Glaubenssatz, das BIP müsse immer weiter wachsen, damit es uns gut geht, ein Alternativkonzept benötigen. Auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen ist es keine besonders clevere Idee daran zu glauben, dass Wachstum immer so weitergeht, und wir können bereits heute in der Umwelt die Folgen sehen. Vielleicht wird eine neue Idee sein, dass emotionales Wachstum, Vertrauen, Persönlichkeitsentwicklung und reichhaltige Beziehungen der neue „Wachstumsmarkt“ sind, der uns deutlich und dauerhaft mehr Wohlbefinden geben wird als der Konsum neuer Produkte. Wir werden neue Konzepte entwickeln müssen, wie wir als Gesellschaft damit umgehen, wenn immer mehr Arbeiten von Maschinen übernommen werden, wenn beispielsweise Taxis und LKWs autonom fahren. Die kritische Seite dabei ist die Frage, wie Menschen künftig ihr Einkommen erhalten und mit ihrer Lebenszeit und ihrem persönlichen Sinn umgehen. Die positive Seite daran könnte sein, dass wir als Gesellschaft erstmals in der Menschheitsgeschichte vor der Möglichkeit stehen, dass alle Menschen ihrer Berufung folgen können und ein Leben des kreativen Selbstausdrucks leben können 3 .
Alle diese Überlegungen werden in politische Entscheidungen münden. Bereits heute würde die Politik behaupten, als erstes Leitprinzip nach dem Wohlbefinden der Bürger zu handeln 4 . Wenn wir uns jedoch manche politische Entscheidung vergegenwärtigen, dann scheint weltweit die Gewinnerzielung alle anderen Prinzipien auszustechen. Dir fallen hier sicher auch Beispiele ein, beginnend mit Entscheidungen zum Klimaschutz über Tierschutz, Gesundheitsschutz bis zum Einsatz höchst umstrittener Pflanzenschutzmittel. Ich möchte dir diese Überlegungen als Anregungen zur Verfügung stellen, damit du dir auf dieser Basis ein eigenes Bild machen kannst.
Wenn ich die Forschungsergebnisse der Positiven Psychologie auf die kollektive Ebene übertrage und wenn das künftige Leitprinzip das Wohlbefinden aller inklusive der Umwelt ist, dann benötigen wir zur zukünftigen Gestaltung neues und kreatives Denken und Lösungswege der Zukunft statt althergebrachte Denkmuster. Was ich damit meine, wird in den Beispielen des nächsten Kapitels deutlich.
5.4 Arbeitswelt und Schulen
Der aus Deutschland stammende Frithjof Bergmann, der als Philosophieprofessor lange Jahre an der University of Michigan in Ann Arbor lehrte, vergleicht unsere heutige Arbeit mit einer leichten Krankheit 5 . Keine richtig schwere Krankheit, bei der du im Bett bleiben musst, jedoch eine Krankheit wie eine Erkältung, bei der wir am Mittwoch sagen: „Na ja, bis zum Wochenende schaffe ich das schon noch.“ Oder bei der wir denken: „Hoffentlich halte ich bis zur Rente durch.“ Ich finde das einen sehr spannenden Gedanken, weil ich viele Menschen kenne, die – um in diesem Bild zu bleiben – das Wochenende und den Urlaub dringend brauchen, um sich wieder zu „kurieren“. Unsere bisherige Arbeitswelt beruht auf dem einfachen Handel: Arbeitsleistung gegen Geld. Sinn, Wohlbefinden, Glück, Erfüllung und Berufung sind dafür bislang oft ohne Bedeutung.
Je bekannter die Positive Psychologie wird, je mehr Joy-Persönlichkeiten sich entwickeln und je mehr Wohlbefinden das erste Leitprinzip des Wirtschaftssystems wird, umso mehr wandelt sich auch die Arbeitswelt. Profitabel zu wirtschaften und Gewinne zu erzielen ist nicht mehr das Hauptziel der Unternehmen, sondern die Basis. Das Hauptziel ist Wohlbefinden. Das Hauptziel ist, dass es allen Beteiligten gut geht: Kunden, Mitarbeitern, Lieferanten und auch der Umwelt. Das Prinzip der Gewinnmaximierung wird nicht verworfen, sondern durch das übergeordnete und noch stärkere Prinzip Sinn kanalisiert und endlich beseelt.
Bezogen auf die konkrete Arbeitswelt wird dies bedeuten, dass die vier Elemente (1) Sinn, (2) Freude, (3) Einsatz von Stärken und (4) Erleben der eigenen Wirksamkeit eine sehr große Bedeutung für jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter einnehmen. Auch Führung wird sich stark verändern, denn die Hauptaufgabe von Führung wird sein, auf die vier oben genannten Elemente zu achten. Es werden Aspekte wie intrinsische Motivation, Haltung, Unterstützung und Begleitung im Vordergrund stehen und vielleicht wird es die heutige Form von Führung mancherorts gar nicht mehr geben oder brauchen.
Vielleicht klingt dies für dich wie eine Utopie und tatsächlich ist es für viele noch eine Wunschvorstellung. Ich möchte dir allerdings zumindest kurz von Unternehmen berichten, die hierbei bereits vorangegangen sind. Ein Beispiel ist das niederländische Unternehmen Buurtzorg (was übersetzt Nachbarschaftsbetreuung bedeutet), eine Organisation für häusliche Krankenpflege. Weitere Informationen und viel mehr Hintergründe zu neuen Organisationsformen findest du in dem Buch „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux 6 und zu dem konkreten Beispiel auch im Internet.
Der Gründung von Buurtzorg ging folgende Entwicklung in den Niederlanden voraus: In den 90er-Jahren entwickelte sich die folgenschwere Idee, dass bei der häuslichen Pflege Einsparungen erzielt werden können, wenn die Pflegekräfte in größeren Organisationen zusammengefasst würden. Das hört sich in unserem bisherigen Denken sehr plausibel an: Die Mitarbeiter können sich auf das spezialisieren, was sie besonders gut können. Erfahrene Kräfte machen die schwierigen Behandlungen und neue Kolleginnen und Kollegen die einfachen. Spezialisten sprechen mit neuen Kunden über ihren Bedarf. Eine zentrale Abteilung plant den Tagesablauf genau und sorgt für geringe Fahrtwege. Ein Callcenter wird gegründet, um die Pflegekräfte von Anrufen zu entlasten. Eine Planungsabteilung gibt Normzeiten für jede Behandlung vor und erstellt Einsatzpläne so, dass möglichst viele Behandlungen bei geringen Fahrtzeiten möglich sind. Alles ist digitalisiert. Die Pflegekraft muss bei den Kranken nur noch den Barcode einscannen. Es gibt immer mehr Manager, die ihr Bestes tun, das System zu steuern. Vielleicht kommt dir das aus deiner Arbeitswelt bekannt vor. Auf den ersten Blick klingt das alles sehr vernünftig. Das System hatte jedoch zwei gewaltige und sehr schwerwiegende Nachteile: Die Patienten wurden zum einen als Menschen vernachlässigt, denn sie waren jetzt Kunden, denen ein Produkt verkauft wurde. Zum anderen wurde die Berufung der Mitarbeiter, Menschen zu helfen, vernachlässigt, weil sie einen Job in einer bestimmten Zeit abspulen mussten, ohne die Patienten richtig kennenzulernen und dies mit vielen verschiedenen Patienten, weil es die zentrale Planungsabteilung, die die Patienten auch nicht kannte, so vorgab. Die Qualität litt darunter und es erhöhte sich durch die vielen beteiligten Personen deutlich die Gefahr, dass wichtige Hinweise bezüglich der gesundheitlichen Entwicklung der Patienten übersehen wurden. Doch was tun? Noch mehr optimieren? Vielleicht neue Mitarbeiter zur Qualitätskontrolle einstellen?
Jos de Blok war lange Jahre Krankenpfleger, stieg dann die Karriereleiter nach oben und als er zuletzt in leitender Managementfunktion eines Pflegeunternehmens unzufrieden darüber war, dass er keine Veränderung von innen herbeiführen konnte, gründete er 2006 Buurtzorg und fing mit ein paar Mitarbeitern an. Alles, was wir aus der herkömmlichen Arbeitswelt kennen, ist bei Buurtzorg anders. Buurtzorg arbeitet in kleinen Teams von zehn bis zwölf Pflegekräften, das rund 50 Patienten in der direkten Nachbarschaft betreut. Das Team hat keine Führungskraft! Damit dies funktioniert, gibt es eine ausgeklügelte Vorgehensweise, zu der die Teams geschult werden. Alle Meinungen werden gehört, allerdings braucht es keine Zustimmung durch alle Personen, sondern eine Lösung wird dann angenommen, wenn es keinen wirklich prinzipiellen Einwand dagegen gibt. Die Teams führen sich selbst und verantworteten alle Aufgaben, die zuvor die zentralen Bereiche gesteuert haben. Dies bedeutet beispielsweise die Erstellung der Dienstpläne, Entscheidung über die Aufnahme neuer Patienten oder wo ein Büro eröffnet wird, die Einrichtung dieses Büros, die Art der Zusammenarbeit mit lokalen Ärzten und Apotheken und den Krankenhäusern, die Überwachung der Produktivität, die Entscheidung über die Einstellung neuer Mitarbeitender oder eine Vergrößerung des Teams und die folgende Aufteilung auf zwei Teams, wenn es zu viele Patienten gibt. Die Regel ist, dass Patienten möglichst immer von der gleichen Pflegekraft betreut werden und diese Pflegekräfte nehmen sich die Zeit, auch mit ihren Patienten einen Kaffee zu trinken. Im Laufe der Zeit entsteht eine tiefe Beziehung und Vertrauen und es geht nicht mehr nur darum, sich um körperliche Bedürfnisse, sondern auch um emotionale Anliegen zu kümmern. Da kann es dann auch sein, dass eine Pflegekraft einen Friseur engagiert, der ins Haus kommt, wenn das für die zu pflegende und nicht mehr mobile Person von großer Bedeutung ist, weil sich die Person mit ihren Haaren schämt, Freunde zu empfangen. Oder es kann sein, dass ein Unterstützungsnetzwerk aus Nachbarn und Familie aufgebaut wird, wenn das für den Patienten hilfreich ist. Das Ziel von Buurtzorg ist, dass sich die Patienten so weit wie möglich stabilisieren und wieder selbst versorgen können. Die Patienten und deren Familien sind begeistert von der Pflege durch Buurtzorg und empfinden tiefe Dankbarkeit, weil sie wieder als Menschen ganzheitlich behandelt werden. Den Pflegekräften wurde ihre Berufung zurückgegeben, Bedürftigen auf allen Ebenen zu helfen. Die Pflegekräfte der großen Pflegeunternehmen liefen in Scharen zu Buurtzorg, um in diesem neuen Konzept wieder ihre Berufung zu leben.
Jemand, der auf harte Kennzahlen Wert legt, könnte nun sagen, das ist ja alles schön und gut, wenn es den Menschen gut geht, aber das muss ja irgendwie bezahlt werden. Jetzt kommen hierzu interessante Fakten: Eine Studie von Ernst & Young kommt zu dem Ergebnis, dass bei Buurtzorg 40 % weniger Arbeitsstunden und damit Kosten für die Pflege benötigt werden als bei den klassischen Krankenpflegeunternehmen mit ihren großen Verwaltungen, die alles minutiös planen. Obwohl die Buurtzorg-Mitarbeitenden sich Zeit für einen Kaffee und die Gespräche mit der Familie und auch mit Nachbarn nehmen, sind sie 40 % günstiger, weil weder eine große Zentrale noch Managementstrukturen mitfinanziert werden müssen. Welche finanziellen Einspareffekte das Modell von Buurtzorg ermöglicht, zeigen beispielsweise Berechnungen von Ernst & Young: Würde dieses Modell flächendecken für die Bevölkerung der USA angeboten, dann ergäben sich Einspareffekte von 49 Milliarden Dollar pro Jahr. Daneben gibt es die nicht bezifferbaren und noch wichtigeren Folgen für das Wohlbefinden der Patienten und der Pflegekräfte. Außerdem zeigte sich noch etwas: Die Patienten bleiben bei Buurtzorg verglichen mit bisherigen Pflegeunternehmen nur halb so lang in der Pflege, genesen schneller und bleiben selbstständiger. Ein Drittel der Einweisungen in die Notaufnahme werden vermieden und wenn es zu einer Einweisung kommt, dann bleiben die Patienten kürzer im Krankenhaus 7 . Jos de Blok startete mit einem kleinen Team und dieser Idee. Heute hat Buurtzorg über 9 000 Mitarbeiter in 800 unabhängigen Teams. Die „Zentrale“ von Buurtzorg besteht dabei nur aus 45 Mitarbeitern und 15 Coaches für die Teams. Es gibt kein Management. Der Umsatz liegt bei rund 300 Mio. Euro pro Jahr und Buurtzorg wird immer wieder zum besten Arbeitgeber des Jahres gewählt 8 . Für mich ist dies ein leuchtendes Beispiel, wie durch innovative Ideen und neues Denken grandiose neue Möglichkeiten geschaffen werden oder, um es mit Albert Einstein zu sagen: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“
Doch auch in Deutschland finden sich Unternehmen, die neue Arten der Arbeitswelt leben. Vielleicht kennst du die Upstalsboom-Hotels. Deren Eigentümer, Bodo Janssen, war ein klassischer Unternehmenschef und nach finanziellen Kriterien sehr erfolgreich. Bei einer Mitarbeiterbefragung zeigte sich jedoch ein völlig anderes Bild. Die Menschen, die den Erfolg erarbeiteten, waren unzufrieden und stellten dem Unternehmen und vor allem ihrem Chef ein desaströses Zeugnis aus. Für ihn war dies der Auslöser, alles zu überdenken. Er fing bei sich selbst an, ging zeitweilig ins Kloster, zog Experten hinzu und ließ seine Mitarbeiter in Positiver Psychologie schulen. Diese bauten darauf eine völlig neue Unternehmenskultur auf. Sie, ihr Wohlbefinden und das ihrer Gäste standen nun im Mittelpunkt und das änderte alles. Die Mitarbeiterzufriedenheit steigerte sich dramatisch, die Fehltage und die Fluktuation halbierten sich, die Weiterempfehlungsrate der Hotelgäste stieg auf 98 %, die Bewerbungszahlen explodierten förmlich um 500 % und der Umsatz verdoppelte sich in drei Jahren bei gleichzeitiger überproportionaler Steigerung der Produktivität. Ich sage dazu gerne: „Gewinn folgt einer gewinnenden Kultur“. Denn auch hier zeigt sich wie bei Buurtzorg, dass diese neuen Formen der Arbeit überaus erfolgreich sind. Das ist auch nicht verwunderlich angesichts der Forschungsergebnisse, denn diese zeigen sehr klar: Glückliche Menschen sind kreativer, lösen Probleme besser, arbeiten besser mit anderen zusammen, haben mehr Energie, sind hilfsbereiter, werden öfter befördert, sind weniger oft krank, erhalten bessere Rückmeldungen von ihren Vorgesetzten, verdienen mehr Geld und treffen bessere Entscheidungen 9 . Gerade weil diese neuen Arbeitsformen und die Positive Psychologie so erfolgversprechend sind, müssen wir jedoch sehr darauf achten, dass sie nicht als „Motivationspille“ missbraucht werden, um noch mehr aus den Menschen herauszuholen, weil am Ende das Geldverdienen immer noch das erste Ziel ist. Es ist umgekehrt: Die Arbeit der Menschen und ihr Wohlbefinden stehen im Mittelpunkt des Tuns und dann wird damit auch Geld verdient.
Wie ernst es Bodo Janssen mit seiner eigenen neuen Einstellung ist, kannst du daran erkennen, dass die Unternehmerfamilie entschieden hat, die Hotelkette in eine gemeinnützige Stiftung umzuwandeln.
Zwischenzeitlich gibt es einen Kinofilm, der diese Entwicklung dokumentiert. Einen zehnminütigen Trailer 10 kannst du auf YouTube sehen. Bodo Janssen hat diesen Prozess zusammen mit vielen autobiographischen Elementen in seinem lesenswerten Buch „Die stille Revolution“ 11 erläutert. Ein Wegbegleiter dieser Entwicklung war Dr. Oliver Haas. Er hat sich mit seinem Corporate-Happiness-Team darauf spezialisiert, die Erkenntnisse der Positiven Psychologie zum Wachstum von Menschen und Organisationen in die Arbeitswelt zu übertragen und die Erfolge geben ihm und der Positiven Psychologie recht.
Ein weiteres Unternehmen, das ich in diesem Zusammenhang noch kurz erwähnen möchte, ist die Adelholzener Alpenquelle GmbH, die eine Vielzahl von Erfrischungsgetränken und Mineral- und Heilwässern vertreibt. An diesem Beispiel kannst du sehen, dass manche innovativen Ansätze bereits seit vielen Jahrzehnten funktionieren. Diese erfolgreiche Firma gehört zur Kongregation der Barmherzigen Schwestern. Der jährliche Gewinn (abzüglich notwendiger Investitionen in den Betrieb) wird vollständig für soziale Belange wie beispielsweise den Betrieb von Alten- und Pflegeheimen eingesetzt 12 . Das ist deshalb so ein interessanter Ansatz, weil das Unternehmen mit viel Verantwortungsbewusstsein für Menschen und Umwelt geführt wird, weil es dabei vielen Menschen Arbeitsplätze bietet und vor allem, weil sich dabei ein sinnvoller Kreislauf schließt: Die Gewinne werden mit den Kundinnen und Kunden aus der Allgemeinheit erzielt und dann werden die Gewinne wieder an die Bedürftigen dieser Allgemeinheit zurückgegeben.
Dies ist nur ein sehr kleiner Ausschnitt einer Vielzahl von Unternehmen, die neue und vor allem auch sehr erfolgreiche Wege gehen. Wenn du viele weitere Beispiele kennenlernen möchtest, dann kannst du in den Büchern „Reinventing Organizations“ 13 und „Führen mit Hirn“ 14 beispielsweise noch viel mehr dazu entdecken. Ich wollte dir mit diesen Beispielen aufzeigen, dass diese neue Sichtweise längst keine reine Utopie mehr ist, sondern bereits praktisch gelebt wird. Noch sind dies die Anfänge, doch je mehr Personen es wie Joy gibt, umso stärker wird sich auch die Arbeitswelt verändern. Zudem wachsen neue Generationen heran, die mit Karriere, Geld und einem großen Auto nicht mehr gelockt werden, sondern Fragen nach Sinn, eigener Entwicklung, dem Einsatz ihrer Stärken und ihrem Wohlbefinden stellen.
Selbst wenn ich bei DAX-Unternehmen bin, die in ihrer aktiennotierten Form die Gewinnmaximierung nach heutigem Bewusstsein per se an erster Stelle stehen haben, erlebe ich bei meinen Veranstaltungen ein Umdenken bei den Führungskräften und eine große Aufgeschlossenheit bei den Mitarbeitern. Auch wenn sich diese Unternehmen vermutlich nicht sehr schnell fundamental verändern, könnte schon ein erster wichtiger Schritt sein zu fragen, wie Arbeit dort so gestaltet wird, dass die Mitarbeiter ihre Stärken einsetzen, Freude an der Arbeit haben, Sinn erleben in dem, was sie bewegen, und wenn es für sie wichtig ist, ebenfalls zu fragen, wie sie dabei als Menschen wachsen können. Es ist schon ein erstes großes Ziel, wenn wir erreichen, dass die meisten Mitarbeiter ihre Arbeit lieben und gerne und voller Freude arbeiten gehen. Es wäre bereits ein Quantensprung, wenn Mitarbeiter ihre Arbeit als Leben erleben und nicht mehr als leichte Krankheit.
Lass uns am Ende noch kurz den Bereich beleuchten, der Kenntnisse und Fähigkeiten für das Leben vermitteln soll: Schule und Ausbildung. Hier arbeiten viele hochengagierte Menschen, die es oft nicht einfach haben und häufig sehr gute Arbeit leisten, weil auch sie ihre Berufung dazu spüren. Ich träume oft davon, was an unseren Schulen alles möglich sein könnte, wenn dort die Erkenntnisse der Positiven Psychologie integraler Bestandteil würden. Schule geht dann über das Erlernen und Abrufen kognitiver Fähigkeiten weit hinaus. Stell dir Schulen vor, in der alle Kinder angeregt werden, sich zu starken Persönlichkeiten zu entwickeln, die wie Joy mit sich im Reinen sind. Die andere nicht abwerten müssen, um sich für den Augenblick einmal größer zu fühlen. Schulen, in denen Kinder täglich erleben, dass jeder gleich wertvoll ist, dass jeder seinen individuellen Mix aus Stärken und Schwächen mitbringt und jeder für die Gemeinschaft wichtig und von Bedeutung ist. Die Kinder können dies beispielsweise bei Ausflügen erleben und begreifen, dass gerade die Unterschiedlichkeit die Gemeinschaft bereichert. Sie können Freiheit in ihrem Lernen erleben, sodass die Lust zu lernen bleibt, mit der wir alle geboren werden. Du kennst die Studien aus diesem Buch: Eine positive Stimmung führt zu breiterer Aufmerksamkeit, kreativerem Denken und besserem Lernen. Ich stelle mir Schulen vor, in die Kinder mit Begeisterung gehen und natürlich und leicht lernen, statt morgens mit einem beklemmenden Druckgefühl an die Schule zu denken. Wie wären diese Kinder für das Leben vorbereitet, wenn sie bereits so früh die Grundregeln aus der Positiven Psychologie für das Leben kennen würden. Wenn Dankbarkeit für sie alltäglich wäre, weil sie damit eine realistische Balance der positiven und negativen Dinge in ihrem Leben herstellen würden, wenn sie ganz natürlich ihre Stärken ausbauen könnten, wenn sie Vertrauen in sich und Selbstbewusstsein hätten, weil sie sich über sich selbst und ihre Fähigkeiten bewusst wären, und wenn ihre Resilienz hoch wäre, sodass sie später aus möglichen Widrigkeiten des Lebens gestärkt hervorgehen könnten. Weltweit suchen Menschen nach neuen Möglichkeiten für die Schule. Martin Seligman nutzte sein Sabbatical, um in Australien an der Geelong Grammar School mit weiteren namhaften Kollegen Positive Erziehung im Sinne der Positiven Psychologie zu etablieren, und hatte damit sehr große Erfolge 15 . Ob hiervon auch im deutschsprachigen Raum Elemente in das Schulsystem integriert werden, bleibt abzuwarten. Zumindest gibt es in Deutschland, Österreich und der Schweiz mittlerweile weit über 100 Schulen, in denen das Fach Glück unterrichtet wird 16 . Vielleicht braucht es wie bei Buurtzorg mutige und innovative Entscheidungen, die einem neuen Denken entspringen, um meine Vision von Schulen Realität werden zu lassen: Jedes Kind sollte in seiner Individualität zu seiner Größe aufblühen und mit Freude heranwachsen dürfen.
Doch bevor wir zu überlegen anfangen, was andere tun sollten, möchte ich dir zum Schluss noch ein paar weiterführende Gedanken zur Verfügung stellen.
5.5 Gestalte dein Leben!
Am besten passt zu diesem Gedanken das Zitat von Mutter Teresa: „Wenn jeder vor seiner Tür kehrt, wird die ganze Welt sauber sein.“ Es geht nicht darum, dass wir jetzt fordern, dass andere etwas tun sollen, z. B. die Politik, die Schulverwaltung, die Manager. Kraftvolle und nachhaltige Veränderung beginnt immer zuallererst bei uns selber. Das ist das große Geheimnis von Veränderung und Wachstum. Gleichzeitig finde ich diesen Gedanken auch sehr entlastend. Du brauchst nicht die ganze Welt zu verändern, deine Chefin oder deinen Partner, es reicht, wenn du dich im ersten Schritt ausschließlich auf dich selbst konzentrierst. Dadurch beginnt Wachstum, beginnt Kraft emporzusteigen und du veränderst das, was du zuallererst verändern kannst: dich. Das ist meine erste Empfehlung: Es reicht, wenn du dich um deine Türschwelle kümmerst. Du kannst mit der Positiven Psychologie dein Leben in eine Richtung entwickeln, wie du sie dir wünscht, und viel mehr Freude, Glück und ein viel intensiveres Lebensgefühl spüren. Das macht tatsächlich richtig Spaß. Fang ausschließlich bei dir an.
Es reicht dazu jedoch in der Regel nicht, dieses Buch einmal gelesen zu haben. Arbeite mit diesem Buch, lass dich inspirieren und hab vor allem Spaß dabei, die Aspekte, die du daraus für dich als wichtig ansiehst, spielerisch in dein Leben zu integrieren. Das ist meine zweite Empfehlung: Nutz dieses Buch als Arbeitsbuch, das Freude bringt. In Japan gibt es das Sprichwort: “Keizoku wa chikara ni nari”. Das bedeutet wörtlich übersetzt: „Fortsetzung wird zu deiner Kraft!“. Besser könnte ich es nicht ausdrücken. Wenn du das, was du aus diesem Buch in dein Leben integrieren möchtest, mehr und mehr lebst, wenn sich die Inhalte dieses Buches nach dem Lesen in deinem Leben fortsetzen, wenn du kontinuierlich mit der Gestaltung deines Lebens weitermachst, dann entsteht daraus eine unglaubliche Kraft.
Die dritte Empfehlung in diesem Zusammenhang ist, nicht zu missionieren. Helfe unbedingt jedem, der ein besseres Leben leben will oder der dich anspricht, weil er inspiriert ist von deiner Art. Durch den neuen Blick auf Menschen wirst du schnell bei Menschen erkennen, dass sie es viel leichter haben könnten, wenn sie einfache Dinge beachten würden. Meine Haltung dazu ist, du kannst versuchen zu helfen, du kannst Veränderungen anregen und dazu inspirieren, jedoch habe ich noch nie erlebt, dass du jemanden zu seinem Glück zwingen kannst. Das kann manchmal schmerzlich zu beobachten sein, doch jeder soll auch selbst für sein Leben verantwortlich sein.
Egal ob du Pförtner oder Politiker, ob du Vorstand oder Reinigungskraft, ob du Lehrkraft, Schülerin oder Schüler bist, nutze deine neue Energie und dein neues Lebensgefühl, um mehr Freude in deine Beziehungen zu tragen. Vergiss nicht, du strahlst aus, wie jeder von uns. Wie wir in der Framingham-Herz-Studie gesehen haben, geht dein Einfluss weiter zu Menschen, die du nicht einmal kennst.
Lass dein Leben nach deinen Vorstellungen aufblühen und lebe voller bewusster Lebensfreude dieses Wunder „Leben“! Das wünsche ich dir aus tiefstem Herzen.
Die Welt wartet auf deine Größe!
Kontakt zum Autor:
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Anmerkungen
- 1.
Alle Ergebnisse der Positive Psychologie können genauso auf kollektive Systeme (Gesellschaft, Arbeitswelt, Schule) übertragen werden. Für mich war es schon vor vielen Jahrzehnten eine große Entdeckung, dass Prinzipien über unterschiedliche Ebenen gedacht und angewandt werden können. Nimm als Beispiel die Stärkenfokussierung. Wir haben sie in diesem Buch auf individueller Ebene angeschaut. Sie lässt sich jedoch genauso im Familienkontext, in der Arbeitswelt, in der Schule, in der Gesellschaft und sogar in der internationalen Politik anwenden. Ein anderes Beispiel ist das heute verbreitete Prinzip der Trennung von „ich“ und „die anderen“ und der Maximierung des eigenen Vorteils, das du angefangen von einzelnen Menschen bis hin zu ganzen Staaten beobachten kannst. Gleichermaßen ist es spannend zu erkennen, dass es überall in unserer Welt Analogien von „so wie im Kleinen, so im Großen“ gibt. Wie im Atom kleine Atomteilchen umeinander kreisen und dazwischen nichts ist, so kreisen im Universum die Himmelskörper umeinander. In Unternehmen stelle ich immer wieder fest, dass die Art der Zusammenarbeit in einem Team oft zeigt, wie das ganze Unternehmen tickt (auch wenn es natürlich Subkulturen gibt). Es gibt beispielsweise Unternehmen, in denen bereits auf Teamebene ständig die Verantwortung „nach oben“ gegeben wird und niemand angemessene Entscheidungen auf seiner Position trifft. Ich bin in solchen Fällen nicht verwundert, wenn in großen Unternehmen der Vorstand über einzelne Versetzungen mit entscheidet. Andere Entsprechungen gibt es im überall im Leben. Es gilt beispielsweise auch bei den Lebensrhythmen: Zuallererst kennst du den Rhythmus von Tag und Nacht (und noch kleiner das Ein- und Ausatmen). Eine nächste Analogie findet sich im Jahr vom Erwachen der Natur bis zum Herbst und Winter. Die nächstgrößere Einheit ist dann unser Leben, das sich auch vom „Sprießen“ zur vollen Leistungsfähigkeit entwickelt, im Herbst sieht man schon große Teile der Ernte des Lebens und am Ende wird es Winter und die Lebenskraft dieses Zyklus entwickelt sich zurück.
- 2.
Ein weiteres Messverfahren ist der Happy Planet Index, der die ökologischen Aspekte in besonderer Weise gewichtet.
- 3.
Laloux, F. (2015). Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen.
- 4.
Die Nachhaltigkeitsstrategie Agenda 2030 der Vereinten Nationen von 2015 zeigt mit ihren 5 Ps People (Würde des Menschen), Planet (Schutz unseres Planeten), Prosperity (Wohlstand für alle), Peace (Frieden) und Partnership (globale Partnerschaften), dass diese Themen auf höchster Ebene diskutiert werden. Darin enthalten sind 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung. Die Europäische Union überarbeitet derzeit auf dieser Grundlage ihre EU-Nachhaltigkeitsstrategie aus dem Jahr 2006. Damals wurde Lebensqualität und Wohlergehen als übergeordnetes Ziel der EU postuliert.
- 5.
Hierzu findest du ein interessantes Interview mit Prof. Frithjof Bergmann unter: https://www.youtube.com/watch?v=29IoGFD86QM, abgerufen am 10.02.18
- 6.
Laloux, F. (2015). Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen.
- 7.
Ebd.
- 8.
https://www.buurtzorg.com/about-us/our-organisation/, abgerufen am 10.02.2018.
- 9.
Diener, E. & Biswas-Diener, R. (2008). Happiness at Work: It Pays To Be Happy. In E. Diener & R. Biswas-Diener (Hrsg.). Happiness: Unlocking the Mysteries of Psychological Wealth. Oxford: Blackwell Publishing. 68–87.
- 10.
Wenn du bei YouTube den Suchbegriff „ Upstalsboom Weg“ eingibst, findest du schnell den Film: https://www.youtube.com/watch?v=culjElgNTmw&t=12s, abgerufen am 10.02.18.
- 11.
Janssen, B. (2016). Die stille Revolution. Führen mit Sinn und Menschlichkeit. München: Ariston.
- 12.
https://www.adelholzener.de/soziale-verantwortung-2/, abgerufen am 10.02.18.
- 13.
Laloux, F. (2015). Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen.
- 14.
Purps-Pardigol, S. (2015). Führen mit Hirn: Mitarbeiter begeistern und Unternehmenserfolg steigern. Frankfurt/M.: Campus.
- 15.
Seligman, M. E. P. (2014). Flourish: Wie Menschen aufblühen. Die Positive Psychologie des gelingenden Lebens. München: Kösel.
- 16.
http://www.sueddeutsche.de/bildung/neues-unterrichtsfach-in-glueckskunde-durchgefallen-1.2774463-2, abgerufen am 10.02.18.