Die Jungen der verlorenen Generation haben in der letzten Etappe des Zweiten Weltkriegs einen erbitterten und brutalen Kampf geführt, der sie bis an ihr Lebensende geprägt hat. Neben der Verarbeitung der vielen Traumata, die Kindersoldaten durch ihren Kriegseinsatz erlitten haben – etwa durch den Verlust von Kameraden im Gefecht und Familienangehörigen im Krieg, durch das Beiwohnen von schrecklichen Morden und Massakern an Zivilisten, durch das Durchstehen von Todesängsten und schlimmstem Hunger und manchmal Folter in Gefangenschaft –, trieben sie auch psychohistorische Fragen um: Wie konnte ich so naiv sein? Wie konnten wir uns so täuschen lassen? Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches nämlich mussten sie sich eingestehen, dass sie für eine falsche Sache gekämpft haben. Falsch, weil die Ideale, von denen sie sich leiten ließen, nicht mit der Ideologie übereinstimmten, die ein Verbrecher-Regime verfolgte, das sie in ihrem jugendlichen Aufbegehren, ihrer Heimatverbundenheit, ihrem Familiensinn und ihrer Identitätsfindung ausgenutzt und missbraucht hat. Die Motivation der Zeitzeugen dieses Buches, für ihr Land zu kämpfen, deckt sich in den wesentlichen Punkten mit den Antworten, die der Historiker Rolf Schörken von ehemaligen Luftwaffenhelfern in seiner in der Einleitung zitierten Studie erhalten hat. Alle 13 Männer, die ich dazu gesprochen habe, gaben an, sie seien von einem Pflichtgefühl gegenüber ihrer Heimat getrieben gewesen und hätten ihr Vaterland und ihre Familien vor Gewalt und Willkür durch den einrückenden Feind schützen wollen. Das NS-System hat sie dabei bewusst in dem Glauben gelassen, dass Deutschland das Opfer böser Mächte von außen ist, die im Begriff sind, ihr Land zu zerstören. Verheimlicht haben ihnen die Nazis, dass sie selbst den Krieg gewollt hatten und brauchten, um in Europa einen Rassenfeldzug zu führen, und dass ihnen am Ende der Schutz der deutschen Heimat völlig egal war. Mit allen Mitteln eines faschistischen Systems haben sie hauptsächlich vertuscht, dass sie im Verborgenen längst damit angefangen hatten, Leben, das sie für minderwertig hielten, systematisch auszulöschen. Antisemitische Vorurteile haben die Zeitzeugen dieses Buches häufig als gegeben hingenommen und akzeptiert, da sie nie eine Welt ohne diese Stereotype gekannt haben. Auch hat nahezu jeder von ihnen in der früheren Kindheit – vor dem Einsatz als Soldat – Diskriminierungen und Ausgrenzung gegenüber der jüdischen Bevölkerung erlebt. Jeder empfand das als große Ungerechtigkeit, sah sich aber als Kind in einer gewachsenen Diktatur nicht in der Lage zu intervenieren. Keiner der von mir Befragten wusste oder ahnte auch nur im Ansatz von systematischen Morden in Vernichtungslagern. Die Rassenideologie der Nationalsozialisten gab für die Zeitzeugen keinerlei Ausschlag dafür, in den Kampf zu ziehen. Sie spielte keine Rolle, oder die Zeitzeugen wollten damit nichts zu tun haben, weil sie sich nie als Nazi, sondern als Soldat und Verteidiger der Heimat fühlten. In der absoluten Mehrheit hatten sie daneben keinerlei Bezug zur Person Adolf Hitler, kein Vertrauen und keine Sympathie für ihn, sondern fanden ihre Vorbilder in den militärischen Führern ihrer Einheiten und ihren Halt in der Armee oder in der Kameradschaft der Kampfgruppe. So wie der einst umjubelte Führer sich selbst am Ende kaum noch zeigte oder äußerte, war er für die minderjährigen Soldaten im Kampf schlichtweg nicht vorhanden und auch nicht wichtig.
Die Männer, mit denen ich gesprochen habe, haben sich diese Erklärungen nicht zurechtgelegt, sondern haben nach lebenslanger Überlegung ehrlich und schlüssig geantwortet, und ihre Angaben decken sich mit Erkenntnissen historischer Forschung. Die Zeitzeugen haben es geschafft, darüber hinwegzukommen, dass sie sich von Verbrechern wie Hitler haben täuschen lassen, weil sie genau reflektiert haben, wofür sie und wofür sie nicht taten, was sie taten. Dabei ist es ihnen nicht gelungen, die Nachkriegsgesellschaft, teilweise ihre eigenen Kinder und Kindeskinder, auch davon zu überzeugen, dass sie nicht im Sinne des Nationalsozialismus gehandelt haben und nichts vom Holocaust gewusst haben, mit dem die jüngeren Generationen täglich in Medien und Gesellschaft konfrontiert werden. Die nötige Differenzierung, die durch Gespräche zwischen den Generationen möglich gewesen wäre, konnte nicht stattfinden, weil Angst und Scham, etwas Falsches zu fragen oder zu erfahren – auf der anderen Seite die Sorge, nicht verstanden zu werden –, wie ein Bremsklotz zwischen ihnen und der Gesellschaft gestanden hat.
Die Unfähigkeit zu differenzieren, die Tendenz, Dinge nur noch schwarz-weiß zu betrachten, und die Sorge, die falschen Fragen zu stellen und dadurch nicht politisch korrekt zu wirken, sind inzwischen zu den schlimmsten Geißeln des öffentlichen Umgangs miteinander mutiert. Wir sollten für uns und für die uns nachfolgenden Generationen Lösungen finden, dieses Ungleichgewicht geradezurücken. Auch wenn ein Krieg heute nicht direkt vor unserer Haustür tobt, so entsendet ein von uns beauftragtes Parlament doch deutsche Soldaten in fragwürdige Auslandseinsätze. Und auf Frieden in Deutschland gibt es mit Sicherheit keine Garantie. Wir werden unsere Großeltern und Eltern, die Krieg am eigenen Leib erfahren und wichtige Lehren daraus gezogen haben, zwar sehr bald nicht mehr persönlich um Rat fragen können, aber vielleicht können wir doch einiges aus den Geschichten, die sie uns – wie geschehen in diesem Buch – hinterlassen haben, für das eigene Dasein und Weiterkommen lernen. Es ist vor allem der Kampfgeist der verlorenen Generation, der sie nach dem totalen Zusammenbruch wieder auf die Beine gebracht hat, mit dem sie unser völlig zerstörtes Land wieder aufgebaut hat, der uns beeindrucken könnte. Es ist ihr Wille, nicht aufzugeben, überleben zu wollen und Krisen anzunehmen, um sie meistern zu können. Es ist ihre Art, leidensfähig zu sein und nicht vor unbedeutenden Dingen einzuknicken oder in einer Opferrolle stecken zu bleiben, die außer Beschwerden und der Annahme, man selbst und das eigene Problem sei der Mittelpunkt der Welt, nichts mehr zustande bringt.
Es ist nicht nur schade, sondern auch gefährlich, dass jüngere Generationen die positiven Eigenschaften ihrer Vorfahren nicht übernommen haben und stattdessen an kleinsten persönlichen Krisen zu zerbrechen drohen. Die Geschichte ist für die Menschen immer eines der wichtigsten Lernfelder gewesen. Durch sie zu lernen bedeutet, Erkenntnisse für sich selbst anzunehmen. Wenn wir uns mit den ehrlichen Erinnerungen der Vorfahren im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen und erfahren, wie unermesslich Leid tatsächlich sein kann, werden wir vielleicht, so die Hoffnung, ein paar unserer Luxusprobleme und Wichtigtuereien als zu nichtig ansehen, um uns auf allen Ebenen und Kanälen zu empören. Bei all der nötigen gebotenen Sensibilität, Fürsorge und Vorsicht, die sich diese Gesellschaft auferlegt hat, sollten wir doch auch wieder lernen, auszuhalten und zu kämpfen. Die zukünftigen sozialen, politischen und klimatischen Probleme auf diesem Planeten, die sich durch Überbevölkerung, Globalisierung oder Digitalisierung ergeben und von neuen radikalen Ideologien befeuert werden, werden nämlich mit Sicherheit Kampfgeist, Ausdauer und auch Härte von uns verlangen. Sonst sind wir bald selbst eine verlorene Generation!
Am Ende meines Buches bedanke ich mich erneut und von ganzem Herzen bei allen Zeitzeugen, die mir ihre Geschichten anvertraut haben. Euer Mut ist außergewöhnlich und vermutlich wichtiger für die, die noch länger auf dieser Erde bleiben werden, als ihr glaubt!
Mein Dank geht ebenso an alle Familienangehörigen, die die Treffen mit ihren Vätern und Großvätern ermöglicht und gefördert haben. Ich danke auch den vielen Männern, mit denen ich gesprochen und geschrieben habe, deren Geschichten aber nicht Eingang in dieses begrenzte Buch finden konnten. Wehmütig denke ich besonders an die Verabredungen zurück, die bereits vereinbart waren, doch am Ende durch fortschreitende altersbedingte Krankheit des Zeitzeugen nicht stattfinden konnten. Auch das, was ich bis dahin von euch erfahren habe, habe ich in der einen oder anderen Form weitergeben können und werde das weiter tun!
Ich danke besonders dem Bund der Vertriebenen für die professionelle Vermittlung von Zeitzeugen nach meinen Vorstellungen, auch der Zeitzeugenbörse Berlin und dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Nicht möglich ist die Fertigstellung eines solch umfangreichen Buches ohne die fachkundige und engagierte Hilfe sowie das mir entgegengebrachte Vertrauen von Verlagsseite. Daher danke ich meinem Verleger Christian Strasser, meinem Lektor Franz Leipold, Barbara Stang, Kathleen Roth vom Europa Verlag und meiner Agentin Anna Mechler. Ich freue mich schon sehr auf die nächsten eingeplanten Projekte mit euch! Zuletzt verspreche ich meinem kleinen Sohn Enno und meiner Frau Anne, dass ich den größten Teil der Freizeit, die ich zwischen den Recherchereisen und Schreibepisoden habe, der Familie widmen werde.
Christian Hardinghaus im August 2021