00:00 Uhr — Polizeirevier
»Wie spät ist es?«, fragte Bürgermeisterin Schaarsberg-Donk. »Ich will eigentlich schon nach Hause.«
»Es ist genau zwölf«, sagte ihre Pressesprecherin.
»Wie steht es mit den Ermittlungen, Wiebe?«, fragte die Bürgermeisterin. »Hast du inzwischen schon was?«
»Nein, ich hab noch nichts. Aber ich hab zwanzig Mann auf den Fall angesetzt. Noch keine Spur vom Baby, nur zwei Anrufe von zwei Männern, die sagen, dass sie das Kind zurückbringen wollen. Der eine umsonst und der andere für hunderttausend Euro.« Der Polizeipräsident schwieg und zupfte an seinem Polizistenschnauzbart.
»Was halten Sie davon?«, fragte die Bürgermeisterin.
»Ich glaube, dass der ältere Mann, der mit dieser Regenjacke, verwirrt war, als er das Baby mitgenommen hat, und jetzt nicht mehr weiß, was er tun soll«, sagte Graven. »Aber das ist reine Spekulation. Es gibt noch diverse andere Möglichkeiten.«
»Zum Beispiel?«, fragte Staatsanwalt Stork.
»Vielleicht hat er das Baby inzwischen an jemand anders weitergegeben, der sich gern sanieren möchte.«
»Sich sanieren möchte?«, wiederholte Stork.
»Es gibt auf jeden Fall keinen Beweis. So jemand fordert keine hunderttausend, der fordert gleich eine Million.«
»Ja, das ist beinahe schon eine Beleidigung für das Baby«, sagte Stork.
»Könntest du deinen Zynismus für dich behalten?«, fragte Bürgermeisterin Schaarsberg-Donk.
»Wie bitte?«
»Was auch möglich wäre, ist, dass derjenige, der Lösegeld verlangt, das Baby gar nicht hat. Oder dass derjenige, der sagt, dass er das Baby zurückbringen wird, es gar nicht hat. Da draußen laufen genug Verrückte rum. Für das, was wir unternehmen können, macht es keinen großen Unterschied.«
»Was haben wir denn bis jetzt unternommen?« Fragend schaute die Bürgermeisterin den Polizisten an.
»Wir haben gut und gern dreißig Menschen befragt, die in der Schule anwesend waren. Ergebnis: Zwei Erwachsene und ein Kind haben den Mann gesehen, können ihn aber kaum beschreiben. Wir sind schon bei ungefähr fünfzig Haushalten in der direkten Umgebung der Schule gewesen. Ergebnis: Eine Person meint, jemand gesehen zu haben, der mit einem Kinderwagen Richtung Zentrum ging, und ein anderer meinte, jemand mit einem Kinderwagen auf der anderen Straßenseite gesehen zu haben. Morgen früh machen wir weiter. Noch mal grob geschätzt fünfhundert Häuser abarbeiten. Oder tausend. Außerdem noch auf unserer Liste: Nachforschungen in der Straße, wo die Eltern wohnen, in Familie und Bekanntenkreis der Eltern. Bei der Schule haben wir schon das Innere nach außen gekehrt, aber dort waren schon ein paar Hundert Personen über sämtliche Spuren gelaufen. Wir haben in einer Toilettenschüssel eine Regenjacke des mutmaßlichen Täters gefunden. Ein Täterprofil wird gerade erstellt. Fragt sich nur, was wir damit anfangen sollen, morgen auf der Pressekonferenz. Außerdem haben wir permanente Wachtposten bei den Eltern und der Schule. Am Ende werden wir noch wahnsinnig von den Journalisten. Die Eltern sind schon dreimal angerufen worden. Ich habe mittlerweile alle Chefredakteure der Zeitungen kontaktieren lassen und hoffe, dass sie ihre Mitarbeiter ein bisschen unter Kontrolle halten. Das ist alles, was mir momentan eingefallen ist.«
Es herrschte kurz Stille.
»Darf ich etwas sagen?« Mathieu Stork schaute die Anwesenden der Reihe nach an.
Die Frau Bürgermeisterin nickte müde.
»Ich glaube, wir verschwenden nur unsere Zeit. Ich glaube, dass das Baby von selbst wieder zurückkommt. Der alte Mann hat in einer emotionalen Anwandlung den Kinderwagen mitgenommen. Vielleicht hatte er gar nicht mitbekommen, dass da ein Baby drinlag. Erst versuchte er, den Kinderwagen ungesehen wieder zurückzubringen, aber da kam etwas dazwischen. Wahrscheinlich die marokkanischen Jugendlichen, vielleicht irgendetwas anderes. Macht keinen großen Unterschied. Danach war es ein bisschen zu spät, um noch einen Versuch zu unternehmen. Und er hat die Eltern angerufen, um sie zu beruhigen. Anders lässt sich dieser Anruf überhaupt nicht erklären. Deshalb lautet mein Rat: Erst mal gar nichts tun.«
»Unmöglich!«, schnauzte die Bürgermeisterin ihn an. »Nichts tun kommt gar nicht infrage. Was meinst du, wie man darauf reagieren wird? Dann werd ich in den Erdboden gestampft. Nein, wir setzen auf einen breiten, energischen Ansatz.«
Stork stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Ja, du hast leicht seufzen, Mathieu, aber Nichtstun ist einfach nicht drin.«
»Wenn bekannt wird, dass wir nichts tun, haben wir ein Problem«, stimmte der Polizeipräsident seiner Bürgermeisterin zu.
»Meines Erachtens ist das einzige echte Problem das verschwundene Baby.« Stork seufzte erneut. Zu oft hatte er sich schon erfolglos gegen sogenanntes energisches Auftreten ausgesprochen. Zu oft hatte er sich über die Silberrücken (m/w) ärgern müssen, die an der Macht waren. Über ihre Kurzsichtigkeit. Darüber, wie sie immer wieder dieselben Fehler begingen. Über ihr sklavisches Schielen auf die öffentliche Meinung.
Staatsanwalt Mathieu Stork hatte einfach die Energie nicht mehr.
»Morgen zehn Uhr Pressekonferenz. Ich schlage vor, dass wir uns um acht Uhr wieder hier treffen, um uns zu besprechen. Wenn sich früher etwas ergibt, hören wir es ja automatisch.« Sie schaute in den kleinen Kreis. Niemand erhob Einspruch. »Gute Nacht, soweit möglich.« Sie zog ihre schicke Jacke an und ging.
»Wie steht es eigentlich mit den Marokkanern, Wiebe?«, fragte Stork.
»Noch ruhig, aber morgen Mittag erwarte ich eventuelle Krawalle«, sagte der Polizeipräsident. »Ich habe vier mobile Einheiten zur Verfügung. Die Polizei verhält sich so ruhig wie möglich. Und ich werde morgen früh ankündigen, dass eine Untersuchungskommission gegründet wird mit ein paar Marokkanern.«
»Und wenn wir uns gleich im Voraus entschuldigen?«
»Das hat unser Minister verboten, sonst hätte ich mich um des lieben Friedens willen schon entschuldigt. Aber er hat extra angerufen, dass auch in diesem Fall keine Ausnahme von der Regel gemacht werden soll, dass zu laufenden Ermittlungen keine Erklärungen abgegeben werden.«
»Na ja, dann lad ihn doch mal zu den Krawallen ein«, meinte Stork gelassen. »Gute Nacht. Beziehungsweise: bis bald.«