04:30 Uhr — Hendriks Wohnung
Gott sei Dank hat ein wenige Monate altes Baby noch keinen Begriff von unheimlich, sonst hätte die kleine Christina nicht so zufrieden an der Flasche genuckelt, die ihr von der runzligen Hand eines zerknitterten alten Kerls mit eingefallenem, zahnlosem Mund, einem Dreitagebart und senkrecht vom Kopf stehenden grauen Haaren hingehalten wurde. Als ich mich bei Evert vorsichtig erkundigte, ob er ein bisschen geschlafen hätte auf dem Sofa, nörgelte er, er sei, als er endlich weggedöst sei, von der Couch gefallen. Auf seine Brille. Die saß ihm jetzt schief auf der Nase.
Ich selbst hatte zwar bequemer gelegen, aber auch kein Auge zugemacht. Jetzt stand ich neben dem Teekessel, um gleich zur Stelle zu sein, wenn er lospfiff. Als ich dachte, dass das Wasser in etwa heiß genug war, goss ich zwei Tassen Tee auf. Danach schmierte ich zwei Brote mit Erdnussbutter, gab Evert eines und fing an, das andere selbst zu essen.
»Soll ich sie dir mal kurz abnehmen?«
»Gut. Dann kann ich kurth nachthauen, ob eth wath geholfen hat mit meinem Gebith.«
»Wie bitte?«
»Dath du die Kleine kurth haben kannth.«
Vorsichtig legte mir Evert Christina in die Arme.
Vor dem Schlafengehen hatte er das abgebrochene Stück wieder angeklebt und zwei Gummibänder darumgespannt, damit die zwei Teile fest aufeinandergedrückt wurden, und das Ganze auf einen Teller gelegt, den er auf die Heizung gestellt hatte. Vorsichtig hob er sein Gebiss hoch, nahm die Gummibänder ab, schob es sich in den Mund und holte drei Sekunden später die zwei losen Teile wieder raus. Dabei war gar kein Knacken zu hören gewesen.
»O nein.«
»Tja, so ein Kraftkleber klebt alles. Bloß nicht besonders lang«, sagte ich, »und das bedeutet, dass es keine Meinungsverschiedenheit darüber gibt, wer von uns gleich einen Anruf tätigt.«
Evert schaute auf sein Gebiss und überlegte. »Hathu vielleicht Klebeband? Kle-be-band«, wiederholte er, als ich ihn fragend anschaute.
Christina ließ einen kräftigen Rülpser los, mit dem ein kleiner Schwall Milch wieder rauskam, der mir über Hand und Hemd lief. Ich gab Evert das Baby zurück und ging ins Bad, um mir mit lauwarmem Wasser die Milch aus dem Hemd zu waschen.
»Wir müssen so gehen«, sagte ich kurz darauf. Evert schob sich gerade seine Prothese mit ziemlich viel Kraft an den mehr oder weniger richtigen Platz im Mund. Er hatte das abgebrochene Stück mit Klebeband wieder angeklebt, aber das war der Passform nicht zuträglich gewesen. Es sah aus, als würden ihm die Zähne frei im Mund herumschweben.
»Sag mal was.«
»Fiffaf Fitth fitht fithe Fithe.«
Ich musste lachen. Das kleine Baby auf meinem Arm lachte mit. Evert vergaß sein Gebiss schlagartig.
»Ich zieh ihr schnell Jacke, Schuhe und Fäustlinge an. Und die Mütze nicht zu vergessen. Schau du doch in der Zwischenzeit nach, ob du eine große Tasche im Flurschrank findest.« Evert verschwand im Flur und kam kurz darauf mit einer feuerwehrroten Einkaufstasche aus Segeltuch zurück.
»Eine Supermarkttasche! Das geht doch nicht! Man tut doch ein Baby nicht in eine Supermarkttasche.« Ich war aufrichtig schockiert.
»Es war die größte, die ich finden konnte.«
»Hm.« Ich machte die Tasche weit auf und schätzte die Größe des Babys ab. Wahrscheinlich würde es gerade eben nicht passen. Ich überlegte kurz, dann holte ich eine Schere aus der Küche und schnitt seitlich ein Loch in die Tasche. »Da müssen ihre Beinchen durch.«
Wir legten ein doppelt zusammengelegtes Handtuch hinein, ließen das Mädchen vorsichtig in die Tasche gleiten, schoben ihre Füßchen durch das Loch an der Seite und deckten sie mit einem zweiten Handtuch und einer Abfalltüte zu. Über die Füße zogen wir zwei Paar Ziegenwollsocken von mir. Und darüber kam auch wieder eine Pausenbrottüte aus Plastik, gesichert mit einem Gummiband. Zwei Stäbe, die ich einmal benutzt hatte, um Farbeimer umzurühren, sorgten dafür, dass die Taschenwände weit genug auseinander blieben. Christina gab keinen Laut von sich und schien ganz zufrieden mit ihrem neuen Reisebettchen.
»Heb mal kurz hoch«, sagte ich.
Evert hob die Tasche hoch, lief ein paarmal damit im Zimmer auf und ab und setzte sie dann wieder ab.
»Prima.«
»Wie spät ist es?«
»Kurz vor fünf.«
»Okay, dann gehen wir los. Du weißt den Weg, oder?«
»Ich geh hier rechts die Straße runter, dann bei der Ampel rüber, folge dem Fahrradweg ungefähr dreihundert Meter, bis zur ersten Unterführung. Dort geb ich Christina ein Küsschen und stell sie unter eine Laterne.«
»Sehr gut. Dann los.«
So leise wie möglich gingen wir zur Tür hinaus und betraten den Lift. Während wir nach unten fuhren, schaute ich noch einmal andächtig in die Supermarkttasche. Unten räusperte ich mich. »Viel Erfolg, Evert.«
»Ja, dir auch. Bis nachher.«