11:20 Uhr — Polizeirevier
»Entführung Weihnachtsbaby« stand auf dem Aktenordner. Die Menge Papier war nach weniger als einem Tag bereits beeindruckend. Man hatte dem Team zwei Sekretärinnen zugeteilt, denn um die Tipp- und Computerfertigkeiten des durchschnittlichen Polizisten war es schlecht bestellt. Für die Anzeige eines Fahrraddiebstahls brauchten die meisten Polizisten fast eine halbe Stunde. »Haben Sie Ihre Zustimmung zum Abtransport des vorgenannten Zweirads gegeben?« Solche intelligenten Fragen mussten Polizisten stellen. Hunderte kostbare Stunden stecken in der korrekten Verwaltung von Kleinkriminalität. Es wäre zu kostenintensiv, danach auch noch tatsächlich etwas zu unternehmen. Neulich hatte die Polizei ein Schild beschlagnahmt, auf das die Markthändler geschrieben hatten: »Bei Diebstahl rufen wir erst den Notarzt und danach die Polizei!!«
Es wurde viel gelaufen im Büro. Polizisten und Kriminaltechniker gingen mit ihren Ordnern ein und aus. Ununterbrochen wurde telefoniert.
Im Zimmer des Polizeipräsidenten saßen drei Männer. Graven selbst, der Technikchef Vink und Staatsanwalt Stork. »Die schweren Jungs«, wie die Frau, die dem Team Kaffee brachte, sie immer nannte.
Graven machte die Tür hinter sich zu und ergriff das Wort.
»Vink, was haben wir bis jetzt?«
Vink räusperte sich. »Nicht allzu viel. Eine Jacke, vermutlich vom Täter, und ein kaputtes Fahrrad, vermutlich ebenfalls vom Täter. Des Weiteren eine vage Beschreibung: Mann, um die siebzig Jahre alt, einen Meter fünfundsiebzig groß, normale Statur, kahl werdend. Die Befragungen in der Nachbarschaft haben nichts gebracht. Motiv: keine Ahnung. Vielleicht einfach Verwirrung. Mittlerweile drei Anrufe, dass die Kleine so schnell wie möglich wieder zurückgebracht wird. Der Anrufer ist ein Mann mittleren Alters, tadellose Sprache, ohne jeden Akzent. Und zwei Anrufe, in denen Lösegeld gefordert wurde, vermutlich von einem Mann zwischen fünfzig und sechzig, nicht allzu gebildet. Anrufe von verschiedenen Telefonzellen. Wir sind gerade dabei zurückzuverfolgen, von wo angerufen wurde.« Vink legte eine Pause ein und schaute in die Runde. »Und fast dreißig telefonische Hinweise auf verdächtige ältere Männer. Von einem alten Herrn, der Babywindeln kauft, über einen Mann, der einen Kinderwagen in den Kleinanzeigen anbietet, bis hin zu einer Frau, die sich auf einmal von ihrem älteren Nachbarn kein Ei mehr borgen durfte. Wir gehen allen halbwegs seriösen Meldungen nach, aber es sollte mich überraschen, wenn wir hiermit weiterkämen. Und das ist alles, was wir im Moment haben.«
»Das ist in der Tat nicht viel«, pflichtete ihm Graven bei. »Und die Überwachungskameras?«
»Wir haben zwei Sekunden mit einem unscharfen Bild«, sagte Vink, »auf einer Kamera vor einem Schuhgeschäft.«
»Was wollte er denn da in Gottes Namen?«, fragte Graven.
»Er hat keine Schuhe gekauft. Er ist nur an den Regalen entlanggegangen.«
»Ah. Und was kann man da sehen?«
»So gut wie nichts. Ein älterer Mann in einer Regenjacke geht mit einem Kinderwagen vorbei. Alles sehr unscharf.«
»In welche Richtung ist er gegangen?«, mischte Stork sich ins Gespräch ein.
»Er ging in die Rembrandtstraat Richtung Jan Steenstraat.«
»Entschuldigung, aber kannst du uns die Straßen mal auf der Karte zeigen?«, fragte Stork.
Graven hantierte an seinem Computer herum, und siehe da, zu seiner eigenen Überraschung wurde eine Karte auf eine Leinwand projiziert. »Das ist das erste Mal, dass ich das hinkriege«, seufzte er erleichtert, »der Höhepunkt der Woche bis jetzt.«
Vink stellte sich taub, und Stork schaute in die andere Richtung.
Eine kurze Stille trat ein. Graven hustete gekünstelt. »Entschuldigung.«
Vink zeigte Stork auf der Karte die Schule und das Schuhgeschäft, das ungefähr siebenhundert Meter entfernt war. »Die Zeiten kommen hin. Er ging um sechzehn Uhr vierunddreißig dort entlang. Kamerazeit. Richtung Osten.«
»Wie weit ist es zu Fuß von der Schule bis zum Geschäft?«, fragte Stork.
»In ruhigem Spaziertempo ungefähr sechs Minuten. Wenn wir davon ausgehen, dass unser Entführer keine Umwege gemacht hat und nicht stundenlang durch den Regen spaziert ist und nicht in ein Auto gestiegen ist und nicht allzu weit von der Fahrradunterführung entfernt wohnt, wo das Baby abgelegt werden sollte, dann besteht eine gute Chance, dass Mann und Kind sich im Malerviertel aufhalten«, sagte Graven bedächtig.
»Das glaub ich auch.«
»Gibt es Hinweise aus der Nachbarschaft?«, fragte Stork.
»Ich hab mir die Liste noch nicht angeschaut, die ist noch in Arbeit«, sagte Vink.
»Gibt es noch andere Anknüpfungspunkte? Die Eltern des entführten Kindes vielleicht?«, versuchte es Graven.
»Außergewöhnlich gewöhnliche Menschen. Einwandfreie Langweiler. Viel zu brav für Feinde. Kein Geld, zumindest nicht viel. Ich fresse einen Besen, wenn es nicht absoluter Zufall ist, dass dieser Entführer ausgerechnet ihr Kind mitgenommen hat.«
»Du hast doch gar keinen Besen, Vink«, sagte Stork.
»Zu Hause hab ich einen.«
»Wenn ihr dann mal fertig seid mit den Haushaltsthemen – was haltet ihr ansonsten von der ganzen Geschichte?«
»Es ist ein seltsamer Fall«, antwortete Vink und schaute gequält. »Ich glaube, dass es auf alle möglichen Arten ausgehen kann.«
»Danke, damit kann ich wirklich was anfangen.«
»Ich bleibe dabei«, erklärte Stork, »dass wir nichts unternehmen müssen. Niemand ruft dreimal an, um zu sagen, dass er ein Baby, das er gar nicht hat, zurückbringen wird. Wenn wir jetzt fünfzig Mann auf den Fall ansetzen, wäre das a) schade um Geld und Energie, und b) kann es sein, dass der alte Mann in Panik gerät und seltsame Dinge macht. Deswegen würde ich sagen, wir warten in aller Ruhe ab, bis das Baby zurückgebracht wird, und danach nehmen wir den Fake-Entführer fest, wenn er das Lösegeld abholt.«
»Unsere Bürgermeisterin war nicht glücklich mit diesem Plan, das weißt du schon, oder, Mathieu? Ich hör schon, wie sie zur versammelten Presse sagt: ›Sehr geehrte Damen und Herren, wir unternehmen vorläufig überhaupt nichts und warten in aller Ruhe ab, wie der Hase läuft.‹« Graven seufzte und spürte wieder heftige Kopfschmerzen aufziehen. Sein Frühstück hatte aus Kaffee mit Paracetamol bestanden, und die Tabletten verloren langsam, aber sicher ihre Wirkung.
»Trotzdem danke, meine Herren, und haltet mich auf dem Laufenden. Ich geh jetzt zur Bürgermeisterin, und ich glaube, es wäre besser, wenn du nicht mitgehst, Mathieu. Sagen wir einfach, es gibt einige unterschiedliche Ansichten, wodurch die Atmosphäre nicht besser wird. Ich seh dich dann wieder kurz vor der Pressekonferenz.« Graven seufzte noch kurz, bevor er sein eigenes Zimmer verließ und sich auf den Weg zu Bürgermeisterin Schaarsberg-Donk machte.
Mathieu Stork schaute ihm nach.
»Wer hat die Liste mit den Hinweisen, Vink?«, fragte er.
»Braspenning sitzt gerade dran. Du kannst ja kurz bei ihm vorbeigehen. Er sitzt im Dritten.«