KAPITEL 5
Castaña – Peru
2003
Ich schob die Steigklemmen so weit wie möglich am Seil hinauf, dann lehnte ich mich in meinen Klettergurt zurück, um mir ein Bild von der Umgebung zu machen. Ich hatte das obere Ende meines Seils erreicht, was bedeutete, dass ich mich jetzt rund 40 Meter über dem Erdboden in der Baumkronenregion des größten Regenwalds der Erde befand. Es war ein großer Augenblick für mich. Ich war zum ersten Mal im Amazonas-Regenwald, und alles an dieser Landschaft war überwältigend. Es bereitete mir schon Schwierigkeiten, mir allein den Umfang des Gebietes vorzustellen. Noch schwieriger war es, überhaupt einen freien Blick auf den Dschungel zu erhaschen. Die Baumkrone, in der ich mich befand, war so dicht, dass ich noch etwas höher klettern musste, um eine Lücke zwischen den Ästen zu finden. Also sicherte ich mich mit einem kürzeren Seil, klinkte mich aus dem Hauptseil aus und kletterte weiter von Ast zu Ast zum Wipfel des Baums empor, wo ich hoffte, mit einer ersten Aussicht über das Kronendach dieses unglaublichen Waldes belohnt zu werden.
Das Amazonas-Tiefland ist wirklich die Krönung aller Regenwälder. Es umfasst rund die Hälfte aller verbleibenden tropischen Primärwälder unseres Planeten und erstreckt sich über neun verschiedene Länder und eine Fläche von mehr als 5,4 Millionen km². Ein Gebiet, doppelt so groß wie der Kongo, siebenmal so groß wie die Insel Borneo und 26-mal so groß wie Großbritannien. Der Riesenbaum, in dem ich kletterte, war einer von geschätzten 400 Milliarden im gesamten Amazonasbecken. Das sind ungefähr 50 Bäume für jeden heute lebenden Menschen, oder anders ausgedrückt: viermal so viele Bäume wie die Gesamtzahl aller Menschen, die je gelebt haben.
Zehn Prozent der auf der Erde lebenden Arten sind in Amazonien beheimatet, darunter 20 Prozent aller bekannten Vogel- und Fischarten. Geschätzte 2,5 Millionen Insektenarten leben hier, neben 427 Arten von Säugetieren, 378 Arten von Reptilien und mehr als 400 Arten von Amphibien. Von diesen Zahlen allein kann einem schon leicht schwindlig werden.
Doch von den Tieren abgesehen, sind es natürlich vor allem die Pflanzen, die den dominierenden Teil eines jeden Dschungels ausmachen, und im Amazonasbecken gibt es rund 40 000 verschiedene Spezies. Zum Vergleich: Auf Borneo sind es 15 000, im Kongo 10 000. Von diesen 40 000 Pflanzenarten sind allein 16 000 einheimische Baumarten. In Großbritannien gibt es rund 54. Und das auch nur an guten Tagen.
Die ungeheure biologische Vielfalt des Amazonas-Tieflands ist einzigartig, und angesichts der Tatsache, dass die große Mehrheit dieser Organismen hoch oben in den Bäumen lebt, stellt die Erforschung der Baumkronenregion eine wahrlich unermessliche Aufgabe dar. Doch um das Große und Ganze überblicken zu können, ist es oft am besten, mit dem Kleinen anzufangen.
Das Wunder des Ökosystems Regenwald kann man nur wirklich begreifen, wenn man einige Beziehungen zwischen den dort lebenden Organismen genauer betrachtet, und das gilt erst recht für den komplexesten und vielfältigsten Regenwald auf Erden. Aus genau diesem Grund war ich hier und kletterte von Ast zu Ast höher in die Baumkrone hinauf. Ich war auf der Suche nach einer ganz besonderen Art von Blüten. Ich hatte vom Boden aus einige davon gesehen – hellgelbe Blütenstände, aufrecht stehend wie die Kerzen einer Rosskastanie in unseren Breiten. Und tatsächlich, der einheimische spanische Name dieser Baumart war castaña, »Kastanie«, obwohl dies mehr mit ihrer in der ganzen Welt bekannten Frucht zu tun hatte, die bei uns unter dem Namen Paranuss gehandelt wird.
Paranussbäume sind für die Bestäubung ihrer Blüten auf eine einzige Bienenart angewiesen, und diese besondere Beziehung zwischen Blüte und Insekt war der Anlass, der mich hergeführt hatte, und zwar als Mitglied eines Filmteams, das versuchen sollte, diesen Vorgang zu dokumentieren. Es war eine faszinierende Geschichte, anhand derer einige der komplexen ökologischen Zusammenhänge beleuchtet werden konnten, aus denen das System des Amazonas-Regenwalds entstanden ist.
Doch zuerst musste ich die Blüten finden, und obwohl ich mich jetzt in der oberen Region der Krone befand, konnte ich sie nirgendwo entdecken. Anscheinend wuchsen sie nur an den Spitzen der Zweige, hinter dem dichten Blätterwerk, das ringsherum herunterhing wie ein riesiger struppiger Sonnenschirm. Ich musste wohl noch ein bisschen höher klettern und mich auf einem der großen Äste nach außen bewegen, um sie zu Gesicht zu bekommen.
Ich warf ein Seilbündel über einen riesigen Ast, der fast waagerecht über mir wuchs, klinkte mich ein und schwang mich hinaus in den leeren Raum darunter. Die Aussicht auf den Wald war immer noch verdeckt, aber ich hatte soeben einen Blick auf einige gelbe Blüten erhascht, was mich hoffnungsvoll stimmte. Sonnenlicht, das auf den kleineren Zweigen über mir spielte, ließ mich dort eine Lücke vermuten. Ich kletterte höher hinauf.
Weiter oben drehte ich mich zum Licht und konnte jetzt durch ein Fenster im Blätterwerk hinausschauen. Der Baum, in dem ich kletterte, stand am Rande einer Hochebene, und der Ausblick über den Regenwald, der jetzt unter mir lag, war überwältigend, im wahrsten Sinn des Wortes Ehrfurcht gebietend. Mir stockte der Atem, nicht nur wegen der ungeheuren Ausdehnung des Waldes oder der unendlich vielen Baumwipfel, die sich bis zum Horizont erstreckten, sondern auch wegen der unglaublichen Vielfalt ihrer Gestalt, Größe, Form und Farbe. Mein Blick wurde sofort von einem über das Kronendach hinausragenden Riesen in voller Blüte angezogen, der sich einige hundert Meter entfernt in die Höhe reckte. Seine Krone war übersät von leuchtend rosafarbenen Blüten, sodass der ganze Baum wirkte wie ein Leuchtfeuer über dem grünen Wald. Weiter entfernt zu meiner Linken standen noch zwei weitere Bäume der gleichen Art. Bei genauerem Hinsehen gab es sogar eine ganze Menge davon, die sich in größeren Abständen über den Wald verteilten, und der Gedanke faszinierte mich, dass all diese Bäume durch unsichtbare Fäden miteinander verknüpft waren, indem genetisches Material durch Insekten und Vögel von einem zum anderen übertragen wurde.
Hier und da ragten einzeln stehende Riesenbäume wie derjenige, auf dem ich mich befand, über alle anderen hinaus und badeten im ungetrübten tropischen Sonnenschein. Andere trugen Früchte, sie hatten ihre Blätter abgeworfen, und an den nackten Zweigen hingen Tausende von Samenkapseln. Ich erkannte sie, es waren Kapokbäume – wahre Giganten der Neuen Welt, ihre riesigen, auseinanderstrebenden Äste reckten sich wie im Gebet zum Himmel. Kapokbäume sind als Nistplätze bei den Harpyien beliebt, den scheuesten und physisch stärksten Greifvögeln der Welt. Allerdings erfüllte sich meine Hoffnung nicht, einen von ihnen in den offenen Baumkronen dieser Bäume zu entdecken.
Manche Indianerstämme benutzen die flauschigen »Pflanzendaunen«, die sich in den Kapok-Samenkapseln befinden, für die Enden ihrer Blasrohrpfeile, und ich musste daran denken, dass in diesem Wald, auf den ich jetzt hinunterblickte, auch eine unbekannte Anzahl isolierter indigener Gruppen lebte. Diese Tatsache hat mich immer am meisten an Amazonien fasziniert, und sie ist ein Indiz dafür, welch ungeheuer ausgedehnte, undurchdringliche Wildnis sich vor mir auftat. Ich fragte mich, ob es in diesem Augenblick irgendwo tief im Innern dieser Landschaft eine Gruppe von Menschen gab, die so wild und frei lebten wie seit Tausenden von Jahren.
In der äußersten Ferne, weit über allem anderen schwebend wie eine eigene Welt, dehnte sich eine lange Kette schneebedeckter Bergen aus: die hohen Anden. Der Anblick dieser kristallinen Gipfel reichte aus, um jede Erinnerung an die auf dem Dschungelboden 50 Meter unter mir herrschende erstickende Feuchtigkeit zu vertreiben.
Ich genoss die Harpyien-Aussicht auf den Amazonas-Regenwald in all seiner Pracht. Aus der Sicht eines Baumkletterers war sie kaum zu übertreffen. Doch genauso aufregend war für mich die Tatsache, dass ich hier, kaum drei Meter von mir entfernt, auf die Blüten stieß, derentwegen ich die lange Anreise aus England unternommen hatte. Es war einer von mehreren Blütenständen, die hier an der Außenseite der Baumkrone wuchsen, dort, wo es am sonnigsten war.
* * *
Zuallererst gilt es hervorzuheben, dass Paranussbäume oder castañas außerordentlich schön sind. Oft sind es sogenannte Baumriesen, die weit über das Kronendach der anderen Bäume hinausragen. Sie können bis zu 60 Meter hoch werden und gehören in meinen Augen zu den ganz wenigen tropischen Bäumen der Neuen Welt, die sich mit der natürlichen Grazie und eleganten Gestalt der Flügelfruchtbäume auf Borneo messen können. Ihre Stämme sind lang und gerade, ihr Holz ist sehr hart, und ihre Kronen sind weit und ausgebreitet. Aus Sicht des Baumkletterers sind es eigentlich die perfekten Bäume, und das Exemplar, das ich gerade erklettert hatte, war ein klassisches Beispiel, wie wunderschön sie im Alter werden können. Dieser Baum brachte es leicht auf sechs oder sieben Jahrhunderte, er war somit präkolumbianisch.
Der Wald unterhalb von mir schmachtete unter der schwülen Hitze von 35 Grad, doch hier oben wurde ich durch die langen grünen Blätter des Kronendachs der castaña von der Sonne abgeschirmt. Versteckt unter diesem dichten Blätterwerk hingen Dutzende von großen runden Fruchtkapseln, von denen jede bis zu 30 der uns geläufigen Paranüsse enthielt. Jede Kapsel hatte die Größe einer Pampelmuse, war steinhart und wog an die zwei Kilo. Sie hingen wie riesige Christbaumkugeln an den Blütenständen des vergangenen Jahres und schaukelten im Wind. Sie würden noch einige Monate brauchen, um reif genug zum Abfallen zu werden, doch dessenungeachtet war ich froh, dass ich meinen Kletterhelm trug. Obwohl noch fraglich war, inwieweit er mir bei einem direkten Aufprall nützen würde. Doch trotz dieser latenten Gefahr war es eine reine Freude, hier oben zu sein, auf den Ästen eines der beeindruckendsten Regenwaldbäume der Welt.
Es waren jedoch die blassen, wächsernen Blüten des Paranussbaums, die meine größte Aufmerksamkeit erregten. Denn wenn es eine sinnträchtige Metapher gibt, welche die Vollkommenheit der Zusammenhänge in der Ökologie der Regenwälder illustriert, dann ist es die außerordentliche Geschichte der Beziehung des Paranussbaums zu einer Biene, einer Orchidee und einem großen bodenbewohnenden Nagetier. Doch um diese Geschichte richtig zu erzählen, mussten wir als Erstes die Biene beim Bestäuben einer Blüte filmen.
Trotz des klaren nachmittäglichen Himmels kündigte ein fernes Donnergrollen den nächsten Regen an. Die Blüten würden sich nicht über Nacht aus dem Staub machen, und da weit und breit keine Insekten zu sehen waren, beschloss ich, früh am nächsten Morgen zurückzukehren, um mit etwas Glück Zeuge einer Bestäubung zu werden. Auf jeden Fall war es ein gutes Gefühl, die Blüten endlich gefunden zu haben. Ich warf also einen letzten Blick auf sie und auf die verlockende Aussicht dahinter, dann ließ ich mich wieder in die erstickend heiße Düsternis der unteren Stockwerke des Regenwalds hinab und machte mich auf den Weg zum Camp, um dem restlichen Team die gute Nachricht mitzuteilen.
Der Anblick der Berge hatte mich daran erinnert, was für eine unglaubliche Reise ich hinter mir hatte, um bis hierher zu gelangen. Wir waren von Lima aus nach Osten über die Anden geflogen, mit einer Zwischenlandung in Cusco, wo die Luft so dünn war, dass ich spürte, wie mein Herz zu pochen anfing. Als wir im Sinkflug über die letzten Ausläufer der Anden glitten, sah ich zum ersten Mal durch das Fenster das peruanische Amazonasgebiet. Selbst aus 6000 Metern Höhe dehnte sich der Wald in jede Richtung bis zum Horizont aus. Wir landeten in der drückenden Hitze des tropischen Tieflands in Puerto Maldonado, wo die Luft wiederum so dick war, dass sie sich wie Sauerstoffsuppe anfühlte. Von Puerto Maldonado fuhren wir mit dem Boot fünf Stunden den Río Madre de Dios aufwärts, bevor wir schließlich hier ankamen, in der Biologischen Station Los Amigos. Die Station liegt am Rande von 146 000 Hektar geschützten Amazonasurwalds, der wiederum nur ein Teil eines 8,1 Millionen Hektar großen geschützten Regenwaldgebiets in dieser entlegenen Ecke im Südosten von Peru ist.
Es war Oktober, das Ende der trockenen Jahreszeit, und obwohl dies eigentlich der Höhepunkt der Blütezeit sein sollte, war der Paranussbaum, auf den ich gerade geklettert war, der erste, an dem wir Blüten gefunden hatten. Mirko, ein Biologe der Station, und ich hatten die ganze letzte Woche den Dschungel auf der Suche nach einem geeigneten Kandidaten durchstreift. Paranussbäume wachsen in größeren Gruppen, und wir hatten uns wohl an die 100 Bäume mit wachsendem Frust angesehen. Manche hatten grüne, noch geschlossene Blütenknospen, während die anderen ihre Blüte schon seit vielen Tagen beendet hatten. Meine Aufgabe bestand darin, ein System von Seilen in der Baumkronenregion anzubringen, mit dessen Hilfe Kameramann Kevin in die richtige Position gebracht werden konnte, zusammen mit David, einem Ökologen des Smithsonian Tropical Research Institute, der den wissenschaftlichen Kommentar für die Zuschauer sprechen sollte.
Vor ein oder zwei Tagen glaubten wir schon, den richtigen Baum gefunden zu haben. Ein Riese, größer noch als derjenige, auf den ich gerade geklettert war. Vom Boden aus hatte er perfekt ausgesehen, seine obere Baumkrone war voller Blüten. Daher hatte ich mein Seil in seine gewaltigen Äste hinaufgeschossen und den Aufstieg begonnen, doch auf halber Strecke stieß ich auf ein verstecktes Bienennest. Glücklicherweise waren es keine Honigbienen, nur eine einheimische Art ohne Stachel, doch dafür besaßen sie kräftige zangenförmige Kiefer, und meine anfängliche Erleichterung verwandelte sich in Panik, als sie zu Hunderten auf mich losgingen und gnadenlos zubissen.
Sie klammerten sich schmerzhaft an Lippen, Nase und Augenlider, wuselten überall auf meiner Haut herum und sonderten ein seltsames klebriges Harz ab. Hilflos spürte ich, wie sie mir den Rücken hinunterkrabbelten, mir in Haare und Ohren krochen. Als sie auch an meinen Beinen hochkrochen, gab ich endgültig auf und seilte mich rasch wieder zum Boden ab. Sie verfolgten mich, um nun auch Mirko zu umschwirren, worauf der Wald von derben spanischen Flüchen widerhallte.
Weniger lustig war die Sache mit der über zwei Zentimeter langen Tropischen Riesenameise, die mir übers Gesicht krabbelte, als ich auf halber Höhe in einem anderen Paranussbaum kletterte. Sie hatte mich zweimal in die linke Backe gestochen, während ich 30 Meter über dem Boden baumelte. Der Schmerz trat augenblicklich ein und war extrem stark, als hätte jemand eine Zigarre auf meiner Haut ausgedrückt, die gesamte linke Gesichtshälfte wurde taub und meine Lippen kribbelten. Der Kopfschmerz, der danach folgte, hätte ein Nashorn umgehauen, außerdem lief ich zwei Tage lang mit einem blauen Auge herum. Tropische Riesenameisen verfügen über das stärkste Gift im gesamten Insektenreich. Ihr Stich steht an oberster Stelle des Schmidt-Stichschmerz-Index und ist noch schlimmer als der mörderische Stich einer Tarantula-Wespe – was ich persönlich bezeugen kann, da ich einmal in Sumatra von einer solchen Wespe in die Stirn gestochen wurde. Riesenameisen sehen aus wie martialische schwarze Hornissen ohne Flügel, und das Biest, das mich gestochen hatte, krabbelte danach weiter über mein Hemd, bevor ich es abschütteln konnte, knapp an Mirko vorbei, der mir daraufhin brüllend androhte, mein Seil durchzuschneiden.
Auch bei diesem Baum gab es nur eine weitere Fehlanzeige, was die Stimmung nicht gerade verbesserte. Denn was ich vom Boden aus für frische Blüten gehalten hatte, stellte sich oben in der Baumkrone als alt und verwelkt heraus. Wir waren ein paar Tage zu spät gekommen.
Und darin lag das ganze Problem: Die Blütezeit des Paranussbaums ist so kurz, dass es sehr schwierig ist, ein Exemplar zu finden, das gerade in voller Blüte steht. Mehrmals waren wir auf große Flächen gestoßen, wo das trockene Laub am Boden vollständig von den abgefallenen weißgelben Blütenblättchen bedeckt war. Wir hatten uns hingekniet, um die langen Straßen von Blattschneiderameisen zu beobachten, die das Konfetti zu ihrem Nest abtransportierten. Nichts wird im Regenwald verschwendet, doch so faszinierend dieser Anblick auch war, es war nicht das, wonach wir suchten, und so machten wir uns wieder auf den Weg.
Vorgestern waren wir dann endlich doch noch auf den richtigen Baum gestoßen. Nachdem ich hinaufgeklettert war, um die Blüten zu prüfen und die Aussicht zu genießen, war ich gerade wieder im Camp angelangt, als die Vorwarnung der Donnerschläge sich bestätigte und der Himmel seine Schleusen öffnete. Schwarze Wolken standen über dem Wald, und der Starkregen hielt über Nacht an. Vor dem Einschlafen war mein letzter banger Gedanke, ob so zarte Blüten ein solches Unwetter wohl überstehen würden.
Zwei volle Tage wüteten Gewitter und Regen über Los Amigos. Die Trockenzeit ging zu Ende, dies war seit Wochen der erste länger anhaltende Regen, der in der Region fiel, und er schien sich für das lange Ausbleiben revanchieren zu wollen. Jede Sturmbö, die mit noch größerer Wucht als die vorherige auf den Wald niederpeitschte, ließ meine Hoffnung schwinden, noch irgendeine intakte Blüte hoch oben im Paranussbaum zu finden. Wenn das so weiterging, könnten wir von Glück reden, wenn im gesamten Wald überhaupt noch welche übrig blieben, die man filmen konnte.
* * *
Der Regen hörte schließlich zwei Tage später um drei Uhr morgens auf. Um halb fünf machte ich mich mit meinem Klettergerät auf den Weg. Ich war allein und wollte die Feuerpause voll ausnutzen, um auf den Baum zu klettern und nachzuprüfen, was von den Blüten übrig geblieben war. Es dauerte nicht lange, bis ich in der feuchten Dunkelheit des Waldes nassgeschwitzt war, und ich musste meine Stirnlampe in der Hand halten, um die Wolken kleiner Stechfliegen abzuwehren, die von ihrem Licht angezogen wurden. Auf halber Strecke bemerkte ich einen hin- und herpendelnden orangefarbenen Schein, der mir auf dem Pfad entgegenkam. Ich blieb stehen und sah fasziniert zu, wie ein Käfer mit grünen Scheinwerfern an der Brust und roten Rücklichtern am Hinterleib an meinem Gesicht vorbeiflog. Etwas Vergleichbares hatte ich noch nie gesehen – wie ein winziges Raumschiff.
Am Fuß des Paranussbaums angekommen, ging ich die Seile durch, die ich dort zurückgelassen hatte, um sicherzustellen, dass sie nicht von Nagetieren oder Ameisen angeknabbert worden waren, dann stieg ich in meinen Klettergurt. Der Himmel hellte sich allmählich auf, doch bis zum Sonnenaufgang würde es noch eine halbe Stunde dauern, und dann wollte ich oben in der Baumkrone sein und nach Insekten Ausschau halten, die sich eventuell unter den Blüten aufhielten. David hatte mir beschrieben, wonach ich suchen musste – eine bestimmte Art von Prachtbiene –, und falls diese Bienen dort oben herumschwirrten, würde ich das Seilsystem für ihn und Kevin einrichten, und wir könnten am nächsten Tag die Bestäubung filmen. Zu diesem Zeitpunkt war ich jedoch eher in Sorge, ob ich überhaupt noch intakte Blüten finden würde. Eine bedenkliche Anzahl von Blütenblättchen lag am Fuß des Baumes auf dem Boden verstreut.
Glücklicherweise waren die Blüten großenteils heil geblieben. Es grenzte an ein Wunder, dass so viele überlebt hatten, obwohl sie ziemlich mitgenommen aussahen und es zahlreiche nackte Stiele gab, an denen ganze Blütenstände vom Wind abgerissen worden waren. Ich kletterte weiter zu der Stelle im obersten Teil der Krone, wo ich die Blüten zuerst gesehen hatte, und kam dort genau zur richtigen Zeit an, um den Sonnenaufgang über dem Regenwald zu erleben.
Tief unter mir lag der Río Madre de Dios, der Nebel stieg auf und enthüllte das Blätterdach des Dschungels, alles schien in der vom Sturm rein gewaschenen Luft zu glitzern. Mehrere Paare von Gelbbrustaras flogen vorbei, kreischten sich etwas zu, und aus der Tiefe des Waldes hörte ich das Gezwitscher der Sakiaffen, die auf der Suche nach einem schmackhaften Frühstück durch die Baumkronen turnten.
Es dauerte nicht lange, und eine kleine metallisch grüne Biene tauchte auf und landete auf den gelben Blättchen einer Blüte ganz in meiner Nähe. Es handelte sich ohne Zweifel um eine Prachtbiene, obwohl sie nicht so aussah wie die Spezies, die David mir beschrieben hatte. Auf jeden Fall war sie auf der Suche nach Nektar, daher sah ich genau zu, wie sie versuchte, sich durch die Blütenblätter hindurchzuzwängen. Doch die Blüte war nicht bereit, ihren wertvollen Schatz irgendeiner hergelaufenen alten Biene zu überlassen, und nachdem sie sich vergebens bemüht hatte, zum Nektar zu gelangen, gab sie schließlich auf und flog davon, um ihr Glück woanders zu versuchen. Das war also noch nicht der entscheidende Einblick in das Funktionieren des Regenwalds. Doch da der Geruchssinn der Bienen eine Million Mal empfindlicher ist als der unsrige, hoffte ich, dass es nicht allzu lange dauern würde, bis der rechtmäßige Bestäuber auftauchte. Daher machte ich es mir auf meinem Ast bequem und blickte wieder auf den Regenwald hinunter. Am Horizont leuchteten die verschneiten Hänge der Anden in den ersten Strahlen des neuen Tages zartrosa auf.
Eine halbe Stunde später wurde meine Aufmerksamkeit wieder auf dieselbe Blüte gelenkt, als eine große gelbe Biene, die ich noch nie gesehen hatte, auf ihr landete. Sie war etwa doppelt so groß wie die metallisch grüne und schien genau auf Davids Beschreibung zu passen. Sie machte den Eindruck, als wisse sie genau, wie sie vorgehen müsse, und schickte sich ohne Umschweife an, sich Zutritt zu den verborgenen Schätzen der Blüte zu verschaffen. Kein langes Herumprobieren, sie zwängte Kopf und Brust durch einen winzigen Spalt und schob den Deckel aus Blütenblättern zur Seite. Ihre starken Hinterbeine, deren Körbchen mit orangefarbenem Pollen beladen waren, strampelten und drückten die Biene bis tief ins Innere der Blüte. Die Blättchen schlossen sich hinter ihr wieder, sodass nichts mehr von ihr zu sehen war und ich nur noch das Brummen aus dem Innern hörte. Ein paar Sekunden später tauchte sie wieder auf, eingepudert vom wertvollen Pollen des Paranussbaums und gestärkt durch einen energiereichen Schluck Nektar. Sie blieb kurz sitzen, um sich mit den Vorderbeinen die Fühler zu säubern, dann brummte sie davon und machte sich auf die Suche nach der nächsten Mahlzeit. Ich war soeben Zeuge eines relativ unspektakulären und doch sehr bedeutsamen Zusammenspiels im Amazonas-Regenwald geworden. Höchste Zeit für das Frühstück, daher seilte ich mich ab und ging zum Camp zurück, um den Rest der Ausrüstung zu holen, damit ich am folgenden Morgen Kevin und David zum Drehen in die Baumkrone befördern konnte.
An den beiden darauffolgenden Tagen konnten wir erfolgreich filmen, wie Dave in der Baumkrone des Paranussbaums neben den Bienen hing. Es war ein guter Anfang, doch was hatte es mit der Orchidee und dem Nagetier auf sich, den beiden anderen Lebewesen, die für den Lebenszyklus des Paranussbaums unabdingbar waren?
Nun, die Prachtbiene war nur eine von ganz wenigen Arten, die stark genug sind, in das Innere der Blüten vorzudringen. Selbst die männlichen Exemplare dieser Arten sind zu kümmerlich, um sich Zugang zu verschaffen, daher erfolgt die gesamte Bestäubung der Paranussbäume durch die Weibchen. Die männliche Prachtbiene spielt dennoch eine wichtige Rolle. Um die Weibchen zur Paarung anzulocken, muss sie sich mit einem Duftstoff versehen, den sie in der Blüte einer bestimmten Orchidee gewinnt. Was das mit dem Paranussbaum zu tun hat? Nun, keine Orchideen, keine Paarung. Keine Paarung, keine weiblichen Bienen, um die Blüten zu bestäuben, also auch keine Paranüsse. In der Summe beruht die Fortpflanzung des Paranussbaums ganz allein auf der Vorliebe der weiblichen Prachtbiene für einen bestimmten Duftstoff, und damit letztlich auch der gesamte internationale Handel mit Paranüssen mit einem Volumen von 45 Millionen Euro pro Jahr.
Und was hat es mit dem Nager auf sich? Um diese zweite Hälfte der Geschichte zu erzählen, mussten wir nach Ablauf einiger Monate ein zweites Mal nach Peru zurückkehren, und zwar in der Jahreszeit, in der die Kapselfrüchte des Paranussbaums reif genug sind, um auf den Boden des Dschungels zu fallen.
2004
Die neuerliche Ankunft in Puerto Maldonado begann für meinen Kreislauf mit einem Schock. Beim letzten Mal hatte ich gedacht, es sei drückend schwül, doch inzwischen war es Januar, der Höhepunkt der nassen Jahreszeit, mit einer durchschnittlichen Luftfeuchtigkeit von 90 Prozent und Temperaturen um die 32 Grad. Ganz nett, wenn man am Strand liegt, aber brutal hart, wenn man auf Bäume klettern soll. Wir hatten England in einem Schneesturm zurückgelassen, ich hatte mit angesehen, wie ein Wagen im Schneegestöber auf der M4 ins Rutschen geriet und nur knapp an einem Sattelzug vorbeischlidderte. All das kam mir vor wie ein ferner Traum, als ich jetzt auf meinem Bett im Hotel lag und den Deckenventilator verwünschte, weil er sich nur so langsam drehte. Draußen stieg Dampf von den Straßen auf. Es hatte soeben aufgehört zu regnen, und das Wasser verdunstete in der Hitze der Sonne. Mit einem Mal fing das ganze Zimmer zu wackeln an, und als ich den Kopf zum Fenster im ersten Stock hinausstreckte, sah ich einen riesigen, mit Holz beladenen Lastzug inmitten einer blauen Dieselwolke die Straße heraufkriechen. Dicke Stämme von frisch im Urwald gefälltem Mahagoni lagen zusammengekettet auf der Ladefläche, und hinter den großen Rädern blieben lange Streifen Rinde im Matsch zurück. Eine ernüchternde Erinnerung an die grassierenden Umweltprobleme, die in diesem Teil der Welt allgegenwärtig waren.
Puerto Maldonado ist – oder war – die typische Pioniersiedlung mitten im Dschungel. Gegründet in der wilden Zeit des Kautschukbooms, war es ein Schmelztiegel von Viehzüchtern, Goldsuchern, Holzfällern, Drogenhändlern und Prostituierten. Heutzutage ist die Umgebung der Stadt praktisch abgeholzt, doch die illegale Goldwäsche stellt immer noch ein großes Problem dar, eine wirkliche Katastrophe für die Umwelt, weil dabei Tag für Tag große Mengen von flüssigem Quecksilber in den Río Madre de Dios eingeleitet werden. Ironischerweise ist gerade der Ökotourismus heute zu einer wichtigen Einnahmequelle geworden. Doch vor 13 Jahren konnte man seinen Drink noch mit Goldstaub bezahlen und zuschauen, wie Tankwagen reines Öl auf die nicht asphaltierten Straßen kippten, um den Staub zu binden. Ich konnte es kaum erwarten, die Stadt hinter mir zu lassen und wieder auf die Bäume zu klettern.
Kevin war mit dem Produzenten Rupert wieder unterwegs nach Los Amigos, um zu filmen, während Mirko und ich den Río Madre de Dios in entgegengesetzter Richtung befuhren. Unser Ziel: Lago Valencia, ein Altwasserarm an der Grenze zu Bolivien. Mirko hatte mir versichert, dass es Hunderte von Paranussbäumen im Primärwald in der Nähe des Sees gebe, daher hatte ich den Plan gefasst, eine Seilkamera im größten Baum, den wir finden konnten, zu installieren und die reifen Samenkapseln zu filmen.
Mit dem Zwölf-PS-Motor unseres Bootes waren wir kaum schneller als die Strömung, Mirko und ich brutzelten in der Hitze, während wir immer wieder an den in der Mitte des Stroms verankerten schwimmenden Hütten der Goldwäscher vorbeiglitten. An jeder dieser primitiven Hütten war ein dieselbetriebenes Förderband installiert, das Schlamm und Quecksilber zurück in den Fluss spülte, nachdem zuvor der wertvolle Staub ausgesiebt worden war.
Fünf Stunden später lenkte der Bootsführer den Bug in einen kleinen Seitenarm, und wir ließen den Hauptstrom hinter uns. Der Dschungel schloss sich über uns, ich beobachtete die welligen Spiegelungen an der Unterseite der Blätter, während wir langsam den Flussarm durchfuhren. Eisvögel spielten Bockspringen mit unserem Boot, flogen eine Weile voraus, um sich dann durch den Wald zurückfallen zu lassen, wenn wir sie einholten. Schließlich gelangten wir zu einem marode wirkenden Kontrollposten der Polizei. Eine kleine, im Matsch stehende Wachhütte aus Beton, davor drei schwitzende Beamte mit freiem Oberkörper: bolivianische Grenzpolizisten. Sie winkten uns nachlässig zu, und wenige Minuten später öffnete sich der See vor uns. Im Gegensatz zu den vielen Strudeln und Stromschnellen im Hauptstrom wurde hier die Oberfläche nur mehr von gemusterten punktierten Linien gekräuselt, wie Fingerabdrücke auf dem Wasser, wodurch der See eine wunderbare Klarheit und Ruhe ausstrahlte. Fünfzig Familien lebten an seinen Ufern am Rande des Waldes. In der einen Hälfte des Jahres fischten sie Arapaimas, sehr große, Luft aufnehmende Fische, die bis zu 200 Kilo wiegen können, in der anderen Hälfte arbeiteten sie als castañeros und sammelten Paranüsse. Schon vom Boot aus entdeckte ich die typischen gewölbten Kronen hoher Paranussbäume, und ich konnte es kaum erwarten, sie näher zu inspizieren.
Unseren ersten Tag verbrachten wir damit, den dichten Dschungel zu durchstreifen und so viele castaña-Baumgruppen wie möglich zu erkunden. Am Fuße vieler Bäume lagen große Haufen leerer, verrottender Kapseln, die Überreste der Ernte des vergangenen Jahres. Jede war mit der Machete durchgehauen worden, und die weggeworfenen Hälften hatten sich mit Wasser gefüllt – Hunderte kleiner Aufzuchtbecken für Mückenlarven.
Obwohl wir uns an diesem Tag Dutzende von Bäumen ansahen, fanden wir keinen einzigen, der sich zum Filmen eignete. Sechs Stunden Marsch, ein 25 Kilo schwerer Rucksack, Furchenbienen, mörderische Stechmücken und eine Kletterpartie in die Baumkronenregion – und das einzige Ergebnis war, dass ich komplett ausgelaugt und geschafft war. Als wir schließlich zum Camp am Seeufer zurückkehrten, war ich hundemüde. Zum Glück wurden wir durch Ketty, der Tochter des Fischerehepaares, bei dem wir übernachteten, mit einem großen Krug Fruchtsaft begrüßt. Ein wahres Labsal, doch als ich mich schließlich schlafen legte, sah ich immer noch alles wie durch einen Schleier, und die Kerzenflamme neben meinem Bett schwankte in einem doppelten grün-gelben Lichtschein.
Ich war todmüde und fiel in einen fiebrigen Schlaf, in dem ich von turbulenten Träumen heimgesucht wurde. Am nächsten Morgen saß ich mit einer Tasse Kaffee an einen Baum gelehnt am Ufer und blickte auf die dünnen Dunstwirbel, die von der spiegelnden Wasserfläche aufstiegen. Mirko gesellte sich zu mir und meinte, ich hätte mich die ganze Nacht im Bett herumgewälzt. Ich erzählte ihm von meinen Albträumen, und es stellte sich heraus, dass sowohl er als auch Ketty ähnliche Träume gehabt hatten, in denen wilde Verfolgungsjagden durch dichtes Gestrüpp im Wald vorkamen. Danach erzählte er mir von einem Doppelmord, der hier vor 45 Jahren geschehen war. Zwei Menschen seien wegen ihres Goldes ausgeraubt und getötet worden. Er erzählte mir auch, wie Lago Valencia zu seinem Namen gekommen sei. Vor 25 Jahren habe ein Mann namens Valencia in Puerto Maldonado seine Frau mit einer Machete umgebracht, und bei seiner Flucht auf dem Río Madre de Dios sei er auf diesen entlegenen Altwassersee gestoßen, wo er sich versteckt habe, bis die Familie seiner Frau ihn gefunden und getötet habe. Laut Mirko stehe die Gegend im Ruf, böse Albträume zu wecken, und sei berüchtigt wegen ihrer bedrückenden Atmosphäre. Nun, ganz sicher hatte sie eine dunkle Vergangenheit, aber im Grunde gilt das für die meisten Orte, wenn man nur lange genug zurückblickt.
Von da an ging es an diesem Tag nur noch abwärts. Es war einfach nicht zu begreifen. Es gab so viele Paranussbäume, dass wir eigentlich die Qual der Wahl hätten haben müssen. Doch die meisten hatten ihre Samenkapseln bereits abgeworfen, und als der Vormittag immer weiter voranschritt, hatte ich genug vom ziellosen Herumlaufen, und ich beschloss, einen weiteren Paranussbaum zu erklettern, um mir von oben einen Überblick über die Baumkronen zu verschaffen. Als ich seinen Wipfel erreichte, sah ich mindestens ein Dutzend weiterer Paranussbäume in der näheren Umgebung, und obwohl einige von ihnen noch ein paar reife Samenkapseln an ihren Zweigen aufwiesen, wirkten sie zum größten Teil ziemlich nackt. Was wir jedoch brauchten, war eine Krone, die noch voller Kapseln war, sonst wären sie aus der Entfernung nicht gut durch die Kamera zu erkennen. Mit dem Kompass peilte ich das noch am ehesten brauchbare Exemplar an, einen gewaltigen Baum in einigen Hundert Metern Entfernung, der noch eine gewisse Menge Kapseln trug, dann seilte ich mich wieder ab, und wir machten uns auf den Weg dorthin.
Mirko und ich schlugen uns durch das Dickicht in die Richtung, die ich angepeilt hatte, doch nach zwei Stunden mussten wir uns eingestehen, dass wir den Baum verfehlt hatten. Der Unterwuchs war so dicht, dass es kaum möglich war, mehr als zehn Meter weit zu sehen, daher konnte eine Abweichung von wenigen Grad uns glatt an einem 60 Meter hohen Baum vorbeigeführt haben, ohne dass wir es gemerkt hatten. Das Ganze wurde allmählich zur Farce, und ich war kurz vor dem Verzweifeln. Als wir daher auf einen schmalen Pfad stießen, der sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte, schlug ich eine kleine Pause vor und setzte meinen Rucksack ab, um mich eine Weile hinzulegen. Mirko lehnte sich an einen Baum in der Nähe und schnitzte, tief in Gedanken versunken, mit seiner Machete an einem Ast herum.
Ein paar Minuten später hörte ich einen Mann, der eine schwere Last schleppte, in großer Eile auf uns zukommen. Mirko erhob sich und blickte den Pfad hinunter, und einen Augenblick später tauchte ein castañero, ein örtlicher Nusssammler, hinter der Kurve auf. Sein rotes Hemd war schweißgetränkt, und auf dem Rücken trug er einen riesigen schwarzen Sack mit Paranüssen. Ein geflochtener Gurt war um den Sack gewickelt und lief quer über seine Stirn, zusätzlich umklammerte er den Sack hinter dem Kopf mit den Händen. Mit weit vorgebeugtem Oberkörper rannte er beinahe den Pfad entlang, duckte sich unter Schlingpflanzen hinweg und wich mit großer Behändigkeit Wurzeln aus. Der Sack wog bestimmt so viel wie ich selbst. Es war wirklich eine Knochenarbeit, und ich stand aus reinem Respekt vor dem Mann auf. Er schaute zu uns auf, verlangsamte seinen Schritt, kam vor uns zum Stehen und warf den Sack ab, der mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden prallte. Mirko und er kannten sich, der castañero setzte sich auf seine schwere Last, zündete sich eine Zigarette an und lächelte uns beiden mit einem Mund voller Goldzähne zu. Er war um die vierzig, schätzte ich. Hart wie Stahl, aber überaus freundlich.
Die beiden plauderten eine Weile auf Spanisch, dann öffnete der Mann einen Zipfel des Sacks und holte zwei frisch gesammelte Nüsse hervor, wovon er eine Mirko und die andere mir überreichte. Ich holte mein Taschenmesser hervor, wurde aber sofort belehrt, meine Zähne zu benutzen. Es hat seinen Grund, weshalb Paranüsse an Weihnachten immer bis zuletzt übrig bleiben, und die Vorstellung, nur mit den Backenzähnen eine davon knacken zu müssen, war nicht gerade verheißungsvoll. Doch als ich mich überwand und beherzt zubiss, war ich verblüfft, wie weich die Schale war. Sie ließ sich abschälen wie Orangenschale, und die Nuss darin hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der steinharten Importware, die bei uns in den Geschäften zu finden ist. Sie hatte die milchige Konsistenz einer frischen Kokosnuss, zerfiel leicht in weiche Flocken, die göttlich schmeckten. Ohne Frage die beste Paranuss, die ich je gegessen hatte. Später stellte sich heraus, dass gemäß internationalen Handelsbestimmungen alle Paranüsse sorgfältig getrocknet werden müssen, bevor sie das Land verlassen, um die Gefahr eines Schimmelbefalls auszuschließen. Klingt vernünftig, ist aber trotzdem eine Schande, weil die Nuss, die ich gerade gegessen hatte, einfach köstlich schmeckte, und ich mir wünschte, dass mehr Menschen zu Hause die Möglichkeit bekämen, sie in ihrem natürlichen Zustand zu probieren.
Bevor er sich wieder auf den Weg machte, gab uns der castañero noch den Rat, sich die Baumgruppe am Ende des Pfades anzusehen. Er habe den ganzen Tag dort zugebracht, aber es seien immer noch Unmengen von Kapseln da, die in 60 Metern Höhe im Wind schaukelten und demnächst abfallen würden. Wir dankten ihm und halfen ihm, seine schwere Last wieder auf den Rücken zu heben. Er holte tief Luft, streifte sich den Gurt über die Stirn, beugte sich vor und machte sich in gleichmäßigem Trab zum Ufer des Sees auf. Wir hatten nicht mehr genug Zeit, die Baumgruppe noch am selben Nachmittag aufzusuchen, beschlossen aber, uns am folgenden Morgen gleich nach Sonnenaufgang dorthin zu begeben.
* * *
Die vor mir hängende Samenkapsel hatte die Größe einer großen Pampelmuse, war schokoladenbraun und wog mindestens zwei Kilo. Sie pendelte sanft an ihrem Stiel, als ich mit dem Fingerknöchel dagegen klopfte – hart wie Eisen. Ich zupfte vorsichtig daran und war erleichtert, als ich spürte, dass sie immer noch fest an ihrem Zweig hing. Trotz ihrer Größe war es erstaunlich schwer, die Kapseln – oder cocos, wie sie hier genannt wurden – vom Boden aus zu entdecken. Ich hatte ein paar von ihnen ausmachen können, doch die Krone des Paranussbaums ist so dicht, seine dunkelgrünen Blätter sind so groß und verschachtelt, dass ich erst 50 Meter in den Wipfel dieses Riesen hinaufklettern musste, um festzustellen, dass wir am Ende doch noch den richtigen Baum gefunden hatten. Im vergangenen Jahr in Los Amigos hatte ich große Mühe gehabt, Blüten ausfindig zu machen, die ich aus größerer Nähe betrachten konnte. Ähnlich war es hier: Eine ganze Stunde war ich vom einen Ende der mächtigen Krone des Baumes zum andern geklettert, um mir ein Bild zu machen, wo die meisten cocos hingen, damit wir sie filmen konnten. Weil die Samenkapseln sich aus befruchteten Blüten entwickelten und diese Blüten nur an den äußeren Enden der Zweige wuchsen, folgte daraus, dass auch die große Mehrheit der Kapseln dort zu finden wäre. Wenn ich mich jetzt umschaute, sah ich die Umrisse von Dutzenden weiterer, die sich gegen den weißen Himmel abzeichneten. Und abermals Hunderte waren im dichten Laub der benachbarten Bäume zu sehen. Aus irgendeinem Grund hinkten die Riesen in dieser Ecke des Waldes ein paar Wochen hinter denjenigen her, die näher am See standen. Es gab sogar noch ein paar verwelkte Blütenstände, die immer noch an den Zweigen hingen. Ich staune immer wieder über diese Bäume. Die Kapseln um mich herum hatten mindestens ein Jahr benötigt, um heranzuwachsen und zu reifen. Für einen Baum ist das eine große Investition von Zeit und Energie. Und wenn man bedenkt, dass dieser Baum eine solche Riesenleistung jahrein, jahraus vollbringt, dann ist das schon äußerst bemerkenswert.
Es war großartig, wieder in diesen oberen Regionen zu sein, nach so vielen Tagen des Herumtrottens und Suchens am Waldboden. Mirko und ich hatten das Camp kurz nach der Morgendämmerung verlassen. Wir sprachen kaum ein Wort über das, was wir zu finden hofften, um das Schicksal ja nicht herauszufordern. Doch als wir eine Stunde später bei der Baumgruppe des castañero eintrafen, mussten wir beide erleichtert grinsen. Wir ließen die Rucksäcke fallen und machten uns daran, durch den dichten Unterwuchs nach oben zu spähen, um herauszufinden, auf welchen Baumriesen wir zuerst klettern sollten. Zwei große Haufen leerer Kapseln zeigten an, wo unser Freund den gestrigen Tag damit zugebracht hatte, die Kapselfrüchte zu öffnen und die Nüsse zu entnehmen, die wie die Segmente einer Orange in der Kapsel angeordnet waren. Castañeros klettern nicht auf die Bäume, sie sammeln einfach die Kapseln auf, die schon abgefallen sind. Und weil es ein stiller Tag war und kaum eine Brise die Blätter hoch über uns bewegte, dachte ich mir, man könne ohne größere Gefahr hochklettern unter diejenigen, die noch oben hingen. Dennoch bemühte ich mich, dicht am Stamm zu bleiben, in einiger Entfernung von den Rändern der Krone, wo die Samenkapseln hingen. Jedes Jahr werden Menschen von ihnen getötet – mit und ohne Helm. Stahlharte Kapseln, die zwei Kilo wiegen und über 40 Meter tief fallen, kennen keine Gnade.
Nachdem Mirko und ich also endlich das große Paranuss-Los gezogen hatten, machten wir uns daran, das Seilsystem für die Seilkamera einzurichten, um damit Kamerafahrten quer durch die Baumgruppe auf Baumkronenebene machen zu können. Heutzutage würde man eine solche Sequenz mit einer ferngesteuerten Drohne drehen, doch damals – in der Ära des Zelluloidfilms – gab es noch keine Drohnen, und die Kamera allein wog fünf Kilo, daher lief das Ganze etwas anders. Am späten Nachmittag war ich schweißgebadet und erledigt. Doch in beiden Bäumen waren an den Enden der geplanten Kamerafahrt die Seile fertig eingerichtet, und wir hatten das Stahlseil für die Kamera in einer Höhe von 40 Metern über dem Boden gespannt.
Gerade als ich die letzten Justierungen am Seilsystem vornahm, zog eine Wetterfront auf. Der Himmel hatte sich im Osten immer mehr verdunkelt, und als ich mich zum Abstieg bereit machte, wehte eine erste Bö durch die Baumgruppe. Nichts allzu Heftiges, nur ein Luftkissen, das von dem nachfolgenden Regenschauer vor sich hergetrieben wurde. Doch der Windstoß reichte aus, um einige Samenkapseln von den Zweigen zu lösen. Die erste krachte mit einem dumpfen, durch die Bäume hallenden Schlag auf den Boden, gefolgt von einem Warnschrei Mirkos. Sie hatte ihn um einige Meter verfehlt, doch er rannte sofort los und suchte Schutz am Fuße des Paranussbaums, in dem ich hing, und rief mir zu, ich solle mich beeilen und sofort runterkommen – wir müssten uns so schnell wie möglich aus der Baumgruppe entfernen. Die Einschläge wurden häufiger, als der Wind stärker auffrischte, eine herunterfallende Kapsel schlug in nur drei Metern Abstand von mir gegen einen Ast, prallte zur Seite und fiel danach 30 Meter in die Tiefe. Ich brüllte eine Warnung zu Mirko hinunter und seilte mich noch schneller ab.
Als ich unten ankam, schwankte die Krone über uns wild hin und her, und wir hörten den Regen näher kommen. Ich drückte mich so nahe wie möglich an den Stamm, doch als ich mich über meinen Rucksack beugte, um das Seil hineinzustopfen, setzte eine weitere Windbö ein, und eine Kapsel von der Größe und dem Gewicht einer Kanonenkugel krachte in kaum einem Meter Abstand neben mir auf den Boden. Sie schlug mit einer solchen Gewalt ein, dass das Laub zur Seite spritzte und sie sich so tief eingrub, dass nur noch die obere Hälfte zu sehen war. An diesem Punkt hatten wir beide genug, und noch im Klettergurt rannte ich, so schnell ich konnte, hinter Mirko her. In unserem Rücken bohrten sich weitere Kapseln in den Boden, und bei jedem Einschlag zuckte ich zusammen.
* * *
Der Regen dauerte die Nacht über an, hörte jedoch kurz nach Tagesanbruch auf. Die Sonne ging auf, und der Dschungel begann zu dampfen. Auf unserem Weg zum Hain der castañas wären wir beinahe auf eine schöne Feder getreten, die in der Mitte des Pfades auf dem Laub lag. Mirko bückte sich, um sie aufzuheben, und überreichte sie mir mit einem Lächeln: »Für dich: pluma de águila arpía.« Eine Feder von der Brust einer Harpyie. Was für ein Geschenk. Sie war wunderschön. Elfenbeinfarben, in Grau übergehend, mit tiefschwarzen Binden. »Sie muss heute Morgen hier gewesen sein«, sagte er und blickte sich um, als erwarte er, sie auf einem Ast direkt über uns zu entdecken, »wahrscheinlich jagt sie Agutis.«
Die Agutis waren das fehlende Glied in unserer Paranuss-Geschichte. Sanftmütige, scheue Nagetiere, ein bisschen wie große braune Meerschweinchen. Aus größerer Nähe gesehen hatte ich bisher nur das von Mücken bedeckte unglückselige Exemplar in Costa Rica. Diese bescheidenen Kreaturen gehören jedoch zu den ganz wenigen Säugetieren im gesamten Amazonasbecken, deren Zähne scharf genug sind, um die Schale der Kapselfrüchte durchzunagen und an die Paranüsse zu gelangen. Was aber vielleicht noch wichtiger ist: Sie haben die für Nagetiere typische Eigenschaft, sich etwas zum Naschen für regnerische Tage aufzusparen. Daher tragen sie die Nüsse, die sie nicht fressen, fort und vergraben sie. Und nach guter Nagetierart vergessen sie oft, wo genau sie ihre Nüsse vergraben haben (oder sie werden von einer Harpyie geschlagen), was zur Folge hat, dass die Nüsse im Erdboden verbleiben. Daraus keimt die nächste Generation Paranussbäume heran, und alles geht von vorne los.
Wie um die Sache zu demonstrieren, fand Mirko eine frisch geöffnete Samenkapsel am Fuße unseres Baums. Eine der Kapseln, die am Tag zuvor abgefallen waren. Übrig geblieben war nur eine hohle Holzkugel mit einem frisch hineingefrästen Loch an der Seite, durch welches das Aguti die Nüsse eine nach der anderen herausgeholt hatte. Das Tier war offensichtlich den ganzen Abend gut beschäftigt gewesen, und in einer gewissen Entfernung lagen etliche Nüsse im toten Laub verstreut, die entweder zu einem späteren Zeitpunkt gefressen werden sollten oder zurückgelassen worden waren und damit eine Chance erhielten zu keimen. Eine letzte erstaunliche Tatsache in Bezug auf den Paranussbaum ist hier zu vermelden: Wenn eine Nuss einmal tatsächlich gekeimt ist, behält der Sämling über Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte seinen niedrigen Wuchs und wartet, bis sich eine größere Lücke in den Baumkronen über ihm auftut, die genügend Licht hereinlässt. Auf diese Weise kann es vorkommen, dass ein gerade mal 40 Zentimeter hohes Bäumchen bereits 30 Jahre alt ist und immer noch geduldig auf seinen Platz an der Sonne wartet.
Unser letzter Drehtag verlief erfolgreich. Mirko und ich konnten die Sequenzen drehen, die wir brauchten, und zusammen mit dem größten Teil des von Kevin und Rupert gedrehten Materials war damit die faszinierende Geschichte des Paranussbaums erzählt. Und was für eine Geschichte: Ein Baumriese, der, um zu überleben, auf die Vorliebe einer Biene für einen bestimmten Orchideenduft und auf die Vergesslichkeit eines Nagetiers angewiesen ist. Für mich verkörpern diese wunderbaren Bäume Herz und Seele dieser großartigen Landschaft, des Amazonasbeckens, des größten und vielfältigsten Regenwalds der Erde.