KAPITEL 8

Kayu Besi – Papua

2009

Ich nahm ein kleines Bleigewicht aus meiner Brusttasche und legte es in den Wurfbeutel. Das Katapult hatte ich an einer drei Meter langen Stange befestigt und die dicke schwarze Gummischlinge bis zum Boden runtergezogen. Sie hatte ein bisschen geknirscht, als sie so extrem gedehnt wurde, und ein Blick auf das alte, pockennarbige Gummi genügte als Warnung, mir nicht zu viel Zeit zu lassen. Ich atmete langsam aus und wartete, bis ich das Ziel ganz ruhig im Visier hatte, dann ließ ich los. Mit einem lauten Knall schnalzte die Schlinge zurück, und die Angelschnur entrollte sich zischend. Zu meiner Erleichterung hatte ich gut gezielt, und der Wurfbeutel segelte glatt über den Ast 45 Meter über mir, um auf der anderen Seite wie ein Stein herabzufallen und sich in den Blätterteppich des Waldbodens zu graben. Kaum war er gelandet, rannte der junge Bursche neben mir auch schon los, um ihn zurückzuholen – mit einem Triumphschrei, als er ihn nach ein paar Sekunden gefunden hatte.

Als ich mich umdrehte, war ich von strahlenden Mienen und billigendem Gemurmel umgeben. Ein kleines Publikum aus Korowai-Kriegern hatte sich versammelt, um dieses seltsame Ritual zu beobachten, und selbst Aliom und Anom, zwei der Stammesältesten, hatten kurz mal ihre strengen Mienen abgelegt und schmunzelten mir augenzwinkernd zu. Ich war genauso überrascht wie sie, dass mir der Schuss auf Anhieb geglückt war, aber ein bisschen Erwartungsdruck durch Publikum ist immer hilfreich, und ich war froh, mich nicht blamiert zu haben. Nasé, einer der jüngeren Männer, feierte das Ereignis, indem er johlend auf der Stelle hüpfte, wobei sein aus dem Schnabel eines Nashornvogels bestehendes Penisfutteral auf und nieder wippte. Alle brachen in Gelächter aus, und ich musste daran denken, wie gastfreundlich der Stamm mich aufgenommen hatte, seit ich vor drei Tagen ins Dorf gekommen war.

Einige von den Korowai trugen Langbögen, und obgleich sie nie zuvor ein Katapult gesehen hatten, war ihnen gleich klar gewesen, was ich damit vorhatte. Jetzt kamen sie heran, um das Katapult zu inspizieren, drehten und wendeten es in den Händen und zogen probehalber an der dicken Gummischlinge. Hier einte uns das gleiche Interesse, und es tat gut, sich trotz der Sprachbarriere mit ihnen verbunden zu fühlen. Ich überließ Anom das Katapult und machte mich auf in den Wald, um mein Kletterseil hochzuziehen. Der junge Korowai hatte interessiert zugesehen, wie ich versuchte, den Wurfbeutel mit meinen ungeschickten Fingern und abgekauten Nägeln aufzuknoten. Er nahm ihn mir ab, löste den Knoten in Sekundenschnelle und legte mir den Beutel grinsend zurück in die Hand.

Es waren gute Leute, trotz ihres Rufes, rätselhaft und sogar furchterregend zu sein. Ich sah, wie sie sich jetzt alle auf einem umgefallenen Stamm niederließen, um zu schwatzen und zu rauchen. Aliom holte ein Bällchen Tabak aus seinem üblichen Aufbewahrungsort hinter dem Ohr hervor und stopfte es in den Kopf seiner langen Bambuspfeife. Er entzündete sie an einem glimmenden Kohlenstück, das in einen gegabelten Zweig eingeklemmt war, und reichte sie weiter, während die Gruppe angeregt zu diskutieren begann. Der Rhythmus ihres Wortwechsels war erfrischend höflich und rücksichtsvoll; jeder sagte ruhig, was er zu sagen hatte, und ließ die anderen ausreden.

Anom nahm einen tiefen Zug, senkte den Kopf in einer blauen Rauchwolke und legte ihn dann ins Genick, um die Äste des Baumes, der über uns aufragte, zu betrachten. Sie hatten ihn sorgfältig als denjenigen auserkoren, in dem sie ein traditionelles Korowai-Haus bauen wollten. Aber es sollte kein gewöhnliches Baumhaus werden. Es würde oben in den höchsten Ästen des Baumriesen balancieren, mehr als 30 Meter über dem Boden, und dabei groß genug sein, dass zehn Leute darin Platz zum Übernachten fänden. Ich war Teil eines kleinen Teams, das von der BBC hergeschickt worden war, um das Ganze zu filmen. Doch während ich Seile und Gurte und die ganze Ausrüstung des modernen Kletterers mitgebracht hatte, besaßen die Leute hier nur das, was der Wald ihnen liefern konnte. Ich war gespannt zu sehen, wie sie es anstellten. Allein schon ohne Seile hochzukommen wäre eine Meisterleistung, ganz zu schweigen davon, zehn Stockwerke über dem Boden ein Haus zu bauen, ohne Nägel und fast ohne Metallwerkzeuge. Aber ich hatte bereits gelernt, diese unglaublichen Leute nicht zu unterschätzen; bestimmt würden die nächsten zwei Wochen so abenteuerlich werden wie nur irgendwelche irren Geschichten, die ich je erlebt hatte.

Ich ging zu ihnen herüber, ließ mich am Rand nieder und hörte dem Auf und Ab der Unterhaltung zu. Wayu, ein starker Mann mit grimmigem Blick, dessen Brust die rituellen Schmucknarben des Kriegers zierten, schien der Wortführer zu sein. Aber nach und nach versanken alle in schweigender Betrachtung des Baumes. Wayu hob die Hand und zeichnete, tief in Gedanken, mit den Fingern die Form der Äste nach.

Dieser Baum war seiner Stärke wegen ausgesucht worden. Ich erkannte ihn als eine Art von Eisenholz. Wie der Name schon sagt, haben solche Bäume das widerstandsfähigste Holz auf dem Planeten. Es gibt viele verschiedene Arten von Eisenholz – oder kayu besi – in ganz Indonesien, und ich weiß bis heute nicht, um welche Art es sich bei diesem hier handelte. Was ich aber bezeugen kann, ist das erstaunliche Gefühl von Kraft, das er ausstrahlte, wenn man ihn berührte. Als sei er aus Urgestein gemeißelt. Die Korowai hatten eine gute Wahl getroffen; es war der ideale Baum, um ein Haus darin zu errichten.

In den Tropen auf Bäume zu steigen ist nicht das Gleiche wie bei uns zu Hause, wo man genau weiß, mit was für einer Art von Baum man es zu tun hat, und man beurteilen kann, was man von seinem Holz zu erwarten hat. Verglichen mit einem tropischen Regenwald hat Großbritannien kaum eine Handvoll Baumarten. Befindet man sich im New Forest, ist man vielleicht von einem halben Dutzend verschiedenen Baumarten umgeben. In den Tropen dagegen kann man diese Zahl mit zehn multiplizieren, und viele dieser Baumarten sind dem Kletterer, was die Stärke und Verlässlichkeit des Holzes betrifft, völlig unbekannt. Also war es schon von Vorteil, wenigstens zu wissen, dass es sich hier um eine Art von Eisenholz handelte. Ihrer Stärke wegen hatten diese Bäume praktisch Kultstatus, so wie eine englische Hainbuche oder Eibe; ich hatte volles Vertrauen zu ihnen.

Doch ich hatte gelernt, nicht allzu selbstsicher zu sein, und sah mir unser Exemplar erst einmal gründlich an. Sein gerillter Fuß war von leuchtend grünem Moos überzogen, aber darüber ragte der schlanke Stamm völlig frei von Bewuchs 25 Meter empor, um sich dann in einer offenen Krone zu entfalten. Die langen Äste streckten sich fast senkrecht in den Himmel. Selbst von hier unten aus konnte ich an ihrer langsam gewachsenen, sich schlängelnden Form erkennen, dass sie unermesslich stark waren. Die nächste Inspektion machte ich sodann durchs Fernglas. Keine Hornissennester, keine Risse, Höhlen oder Pilze. Keine abgebrochenen Äste oder hängendes Totholz. Der Baum war in fabelhaftem Zustand und etwa 55 Meter hoch, womit er die meisten Bäume ringsumher ein wenig überragte.

Im Lauf der Jahre hatte ich ähnliche Bäume in Borneo und Sumatra gesehen, doch Eisenhölzer von dieser Größe und Reife wurden allmählich selten. Sie fielen bevorzugt dem illegalen Holzeinschlag zum Opfer, denn sie erzielten hohe Preise auf dem internationalen Markt. Der Baum, der da über mir aufragte, war einfach eine Schönheit – die perfekte Verkörperung natürlicher Form und Anmut. Ihm mit der Kettensäge zu Leibe zu rücken wäre ein Sakrileg. Aber Holz, das so stark wir Stahl ist, weckt Begehrlichkeiten, und leider wird es – wie das Elfenbein der Stoßzähne – grundsätzlich von Leuten begehrt, die mehr Geld als Verstand besitzen.

Zum Glück hatten die Korowai natürlich nicht vor, den Baum zu fällen. Es betrübte mich aber trotzdem, dass er nie wieder so vollkommen aussehen würde wie in diesem Moment. Genau wie bei unserem Ebana in Gabun würde das weitere Schicksal dieses Kayu Besi fortan vom Menschen bestimmt werden. Die Errichtung eines Baumhauses würde ihn nicht umbringen, und doch empfand ich so etwas wie Wehmut bei dem Gedanken, dass es mit seiner majestätischen Ruhe und Unberührtheit nun für immer vorbei war.

Die Männer waren immer noch in ihr Gespräch vertieft, ich aber wollte so schnell wie möglich hinauf in diese starken Äste. Der, an dem mein Seil hing, befand sich 45 Meter über dem Boden, etwa zehn Meter unterhalb des Wipfels.

Bis ich mein Seil um den Fuß eines Nachbarbaums verankert und meinen Klettergurt angelegt hatte, standen die Männer mit verschränkten Armen um mich herum und ließen sich keine meiner Bewegungen entgehen. Ich reichte ihnen einen Karabiner, den sie sich ansehen sollten. Soweit ich wusste, besaß der ganze Clan nur zwei Dinge aus Metall: eine Machete und ein Beil, sonst nichts. Ihr ganzes restliches Werkzeug war aus Holz, Stein oder Knochen. Keine Kochtöpfe, Uhren, Münzen – es schien hier praktisch nichts aus Metall zu geben, sodass ihnen Form und Funktion eines Karabiners völlig fremd sein musste. Sie ließen ihn mit milder Neugier von Hand zu Hand gehen, schienen sich aber nicht weiter dafür zu interessieren, wozu er wohl taugte. Für sie war es einfach ein abstraktes Stück Technik. Im Gegensatz zu mir waren sie problemlos in der Lage, den Eisenholz ohne solche Kinkerlitzchen zu erklettern, und plötzlich wurde ich mir der gigantischen kulturellen Kluft zwischen uns bewusst.

Sobald ich mit meinem ganzen Gewicht am Seil hing, konzentrierte ich mich voll auf den Anstieg, auch wenn mir nicht entging, dass ein paar der Männer auf ein fernes Johlen hin ihre Bögen nahmen und sich in Richtung Dorf aufmachten. Aber die anderen nahmen wieder auf ihrem Baumstamm Platz, zündeten sich noch eine Pfeife an und machten es sich gemütlich, um das Schauspiel zu genießen.

Mein Seil baumelte drei Meter neben dem Eisenholzstamm, und ich drehte mich beim Steigen langsam um mich selbst. Beim ersten Ast angekommen, nahm ich mir die Zeit, mich in den Anblick der Baumkrone zu vertiefen; ich sog ihre Atmosphäre auf wie ein Schwamm. Ich habe das schon hundertmal getan, und es war jedes Mal ein unglaubliches Gefühl, denn jeder Wald unterscheidet sich auf subtile Weise von jedem anderen; aber die Regenwälder in Papua sind ganz einzigartig. Die Luft ist voller Tierlaute, die einem vertraut vorkommen, bis man sich erinnert, dass es sich durchweg um Vogelstimmen handelt. Papua hat keine Primaten und bis auf die scheuen endemischen Beuteltiere nur wenige Säuger. Also beherrschen die Vögel den Dschungel und halten fast jede Nische besetzt. Jedes Kreischen, Bellen oder Heulen stammt von irgendeinem Vogel, und auch ohne Säugetiere wimmelt es im Regenwald von Leben.

Nach ein paar Minuten stieg ich weiter bis zum Ende meines Seils, 45 Meter über dem Boden. Die Eisenholzäste befanden sich jetzt in Reichweite und fühlten sich beruhigend stark an. Ich hing mit meinem ganzen Gewicht an einem Ast, der nicht dicker war als mein Arm. Zur Sicherheit hatte ich das Seil auch noch über einen zweiten Ast geschlungen, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Ich hing dort oben wie an einem Stahlbalken. Der dynamische Zug, den das Seil beim Hinaufkraxeln auf den Ast ausübte, brachte den Baum nicht aus der Ruhe, und der Ast, der mein Gewicht trug, bog sich kaum.

Hier oben war die Rinde dünn und schuppig, rötlich und elfenbeinfarben gescheckt. Jede meiner Bewegungen ließ kleine Flocken in langsamen Spiralen wie Sykomorensamen zu Boden rieseln. Ich befand mich jetzt schon in größerer Höhe als die meisten der umstehenden Bäume, und obwohl es keinen 360-Grad-Rundblick gab, konnte ich stellenweise bis zum Horizont sehen. Der Wald dehnte sich vor mir wie ein endloses grünes Meer. Gleichmäßig, geheimnisvoll und verlockend, so weit das Auge reichte.

Wenn ich in die Mitte der Baumkrone hinabblickte, konnte ich mir gut vorstellen, wo das Haus gebaut würde. Wie eine bergende Hand ragten die Riesenäste unter mir auf und boten die perfekten Auflage. Mit Hilfe meiner Reepschnüre kraxelte ich hinüber zu einem anderen, fast senkrecht aufragenden Ast und glitt hinab in die Mitte des Baums. Eine Spinne, so groß wie meine Hand, huschte blitzschnell an dem Stamm neben mir hoch. Sie war perfekt getarnt, wurde eins mit der Rinde, sobald sie innehielt. Hier oben gab es jede Menge Leben, zum Beispiel eine ganze Ameisenstraße auf dem Ast zu meiner Linken. Eine einzelne Arbeitsameise hielt sich reglos daneben auf, und irgendwie wirkte sie anders als die übrigen Ameisen. Bei genauerer Betrachtung entpuppte sie sich als winzige Gottesanbeterin, von der gleichen Farbe und Form wie die Ameisen. Blitzartig fuhr sie zwischen die Reihe und pickte sich ein Opfer heraus, das sie bei lebendigem Leib vertilgte, während der Todeskandidat sich zuckend zwischen den winzigen, malmenden Kiefern wand. So eine tropische Baumkrone kann einem manchmal wie ein anderer Planet vorkommen.

Nachdem ich mich mit dem Baum vertraut gemacht hatte, in dem wir filmen würden, machte ich mich an den Abstieg. Ein paar Augenblicke später fing es an zu regnen, und bis ich am Boden anlangte, waren sämtliche Korowai auf und davon, und ich war allein. Da ich ohnehin schon durchweicht war, brauchte ich mich gar nicht erst um einen Unterschlupf zu bemühen und ließ mir Zeit dabei, meinen Klettergurt am Fuß des Baumes im Rucksack zu verstauen.

Es war ein guter Tag gewesen. Diesen Eisenholzbaum zu erklettern war eine reine Freude, und er hatte eine wunderbare Ausstrahlung. Manche Bäume sind echte Persönlichkeiten, und ich habe schon viele bestiegen, die von Anfang bis Ende nichts als Freude gemacht haben. An ebenso vielen bin ich allerdings auch gescheitert – Bäume, die scheinbar einfach keinen Menschen in ihrer Nähe dulden wollten. Ich weiß nicht, warum manche Bäume so wirken, es ist eben so. Und wie bei Menschen kann der Schein trügen: Es sind nicht immer unbedingt die, die danach aussehen, mit denen man sich am schwersten tut.

* * *

Die Korowai hatte ich besuchen wollen, seit ich vor vielen Jahren ein Foto von ihren Baumhäusern in National Geographic gesehen hatte. Jetzt auf einmal hier bei ihnen zu sein kam mir beinahe unwirklich vor. Ihre Dschungelheimat war sehr weit weg von England, aber es war nicht nur die gewaltige Entfernung, die diesen Ort so unendlich fern wirken ließ. Wie im Kongo hatte man das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein, fast so, als hätte man durch eine Tür eine andere Dimension betreten. Während ich durch den Schlamm zum Camp zurückstapfte, dachte ich an den unfassbaren Moment, als ich meinen ersten Korowai-Krieger getroffen hatte. Inzwischen kannte ich ihn als Anom, aber an jenem ersten Abend erschien er mir wie den Nebeln einer anderen Welt entstiegen.

Die Reise von Bristol hierher war von geradezu epischer Länge gewesen: sieben Flüge in einer Woche, dazu eine ganztägige Bootsfahrt. Schließlich hatten das Team und ich ein kleines Dorf namens Yafufla erreicht, das an einem Steilhang oberhalb des Becking River in Südostpapua thronte. Yafufla lag am südlichen Rand des Korowai-Gebietes und war unsere letzte Übernachtungsstätte, bevor wir das Dorf des Stammes tief im Wald erreichten.

Unsere Hütte stand auf windschiefen Stelzen einen Meter über dem Boden und wackelte jedes Mal, wenn jemand sich im Schlaf umdrehte oder zum Pinkeln ging. Wir waren zu sechst dort untergebracht: Gavin, der Chefkameramann, mit dem ich schon in Gabun zusammengearbeitet hatte; Rachel und Tom von der BBC; Jim, ein amerikanischer Anthropologe; und Bob, unser indonesischer Mittelsmann. Eine coole Truppe, aber leider stellte sich bald heraus, dass einer von ihnen ein schlimmes Geheimnis verbarg: Unsere Hütte wankte im Rhythmus eines Weltklasseschnarchens, und mir wurde ganz flau bei dem Gedanken, diesen Krach jetzt wochenlang ertragen zu müssen. Aber da es nun mal keine Privatsphäre gab, mussten wir alle supertolerant miteinander umgehen, und außerdem bin ich selbst auch nicht immer der pflegeleichteste Reisegefährte. Ich rede im Schlaf, werde biestig, wenn ich Hunger habe, und pfeife zu viel vor mich hin.

Irgendwann nickte ich doch ein, nur um mitten in der Nacht wieder aufzuwachen. Das Schnarchen war nun durch Stimmengemurmel vor der Hütte abgelöst worden. Feuerschein flackerte durch die Ritzen in der Bretterwand, also stieg ich in meine Shorts, um nachschauen zu gehen, was da los war. Als ich auf unseren kleinen Balkon trat, sah ich Bob am Feuer zwei Männern gegenübersitzen, wie ich noch nie welche gesehen hatte. Sie warfen einen Seitenblick in meine Richtung und verstummten, während Bob sich umdrehte und mir mit einem Wink zu verstehen gab, dass ich mich neben ihn setzen sollte. Ich versuchte mich so unauffällig wie möglich zu verhalten und lehnte mich in den Schatten zurück, um Bobs Gesprächspartner verstohlen zu beobachten. Solche Typen waren mir neu. Bisher hatten wir hierzulande nur Leute in westlicher Kleidung getroffen, die ihnen von der Missionsstation weiter unten am Fluss freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde. Aber diese Männer trugen die traditionelle Tracht der Korowai, das heißt so gut wie nichts.

Anom war der Ältere der beiden, und Bob erklärte mir leise, dass er als Botschafter der Korowai gekommen sei, um uns durch ihr Stammesgebiet zu führen. Klein, dunkel und sehnig war Anom schon in den Fünfzigern, aber so straff und muskulös, dass er nur halb so alt aussah. Er trug ein Stirnband aus gewobenen Fasern und eine Halskette aus kleinen weißen Muschelsplittern. Zwei Rattanringe gürteten seine Taille, und seine Männlichkeit war von einer Samenhülse bedeckt. Sein auffälligster Schmuck aber waren ein spitzes weißes Knochenstück, das quer in seiner Nasenscheidewand steckte, und eine winzige Kaurimuschel, die in seine Nasenspitze eingelassen war. Sein Gesicht war zerklüftet und sein Haar zerzaust. Er hätte ein entfernter Verwandter von Keith Richards sein können. Hinter ihm – die schwarz polierte Oberfläche im Feuerschein wie Öl schimmernd –, stand ein zwei Meter hoher Langbogen. Eine äußerst effektive Waffe, die er zweifellos meisterhaft beherrschte. Daneben stand ein Köcher mit Pfeilen, manche mit breiten Bambusspitzen, andere mit bösartigen Widerhaken versehen, die in zierlicher Feinarbeit aus Knochen geschnitzt waren. Sie waren gut einen Meter zwanzig lang und ungefiedert, eher wie Speere.

Sein Gefährte war jünger, trug aber einen ähnlichen Aufzug, nur dass in seinem gewobenen Gürtel noch ein langer Kasuarknochendolch steckte. Eine dicke Kriegerkette aus Schweinezähnen hing in einem weiten Halbkreis über seiner dunklen Brust, und das Spiel seiner Muskeln war unübersehbar, während er sich, eine von Bobs Zigaretten rauchend, langsam hin und her wiegte.

Die Schatten der Männer tanzten im Feuerschein, während ich dasaß und dem weichen Singsang einer Sprache lauschte, die ich noch nie gehört hatte. Nicht so guttural wie Indonesisch und viel fließender als Englisch. Wie das sanfte Gemurmel der Blätter in einem Wald. Ich war gebannt.

Nach einer Weile legten sie sich hin, um neben der Glut zu dösen, also ging ich wieder ins Bett, wo ich wach lag und daran dachte, was der Morgen wohl bringen würde, wenn wir endlich unsere letzte Etappe durch den Dschungel angehen würden, hinein ins Korowai-Gebiet.

Zum ersten Mal in den Eisenholz zu steigen war eine fantastische Methode gewesen, mir nach der langen Reise die Muskeln zu lockern. Um diesen Schwung zu nutzen, wollte ich gleich am nächsten Tag wieder hinauf und ein paar Kamerapositionen einrichten. Aber den nächsten Morgen konnte man total abschreiben. Anders als Costa Rica war dieser Dschungel ein Regenwald, der seinem Namen alle Ehre machte. Bis zum Vormittag hatte es 17 Stunden lang ununterbrochen geregnet, ein gnadenloser Dauerguss, der jegliche Farbe aus dem Wald sog und alle Versuche, sich zu unterhalten, ertränkte. Wir Briten denken, wir hätten in Sachen Regen nichts mehr dazuzulernen. Falsch. Britisches Unwetter rauscht meist ziemlich zügig durch, während die Wolken über den Niederungen des Regenwalds oft tagelang hängen bleiben. Es sind die Bäume selbst, die das bewirken, indem sie Stoffe ausdünsten, welche die Verbindung von Wassermolekülen fördern. Bäume beeinflussen ihre Umgebung, und jeder, der im Dschungel leben will, muss damit klarkommen, regelmäßig bis auf die Knochen durchnässt zu werden.

Kameramann Gavin und ich hockten unter einer Plane nahe bei dem Eisenholz und sahen zu, wie das Fallbeil aus Wasser einen Graben im Schlamm um uns herum grub. Die Plumpsklos im Camp waren nachts übergelaufen, und jetzt schwamm unser Basislager in Jauche, in der obendrein auch noch ein Schwein ertrunken war. Kein vielversprechender Auftakt für den Tag, also hatten wir beschlossen, uns in den Wald zurückzuziehen, in der Hoffnung, in unsere Baumkrone aufsteigen zu können, sobald der Regen nachließ. Anom hatte sich zu uns gesellt und konnte sich nicht beruhigen, als Gavin und ich uns darüber zankten, wie man am besten ein Feuer anzündete, um Teewasser zu kochen. Es war das erste Mal von vielen, dass wir ihn über unser komisches Getue lachen sahen, wobei er vergnügt einen einsamen gelben Zahn bleckte.

Erst am Nachmittag ging der Regen in ein leises Nieseln über, und wir konnten uns an die Arbeit machen. Zunächst zog ich ein Seil in einem hohen, schlanken Baum hoch, der direkt neben dem Eisenholz stand. Inzwischen waren wir von mehreren Korowai umringt, Männern und Frauen; als mein Kletterseil in einer hohen Astgabel hängen blieb, erbot sich einer von ihnen hinaufzusteigen, um es loszumachen. Ich wollte abwinken, aber da war er schon dabei, die 25 Meter freihändig hochzukraxeln, und blitzschnell war das Problem gelöst. Mit Händen und Füßen hielt er jederzeit drei Kontaktpunkte und bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit, stets darauf bedacht, keinen Ast zu überlasten oder zu erschüttern. Mit das beste Freiklettern, das ich je gesehen hatte. Die Leute waren offensichtlich eins mit den Bäumen, und doch war diese Vorstellung nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte.

Sobald meine Seile angebracht waren, kletterte ich auf den Nebenbaum, um eine neue Perspektive auf den Eisenholz zu erhalten. Belohnt wurde ich mit einem perfekten Blick auf seine Krone, etwa in der Höhe, wo das zukünftige Baumhaus eingepasst werden sollte. Dreißig Meter weiter unten sah ich 40 Korowai damit beschäftigt, den Dschungel rings um den Fuß des Eisenholz zu roden. Die Frauen legten kleinere Bäume und Schösslinge mit Steinbeilen um, während die Männer sich um die wuchtigeren Exemplare kümmerten.

Obwohl sie zusammen nur über ein einziges Beil mit Stahlblatt verfügten, brachten sie die Bäume bald zu Fall. Sie wechselten sich mit dem kostbaren Metallbeil ab, schwangen es linkshändig mit brutaler Gewalt, um den Einschnitt anzubringen, der bestimmte, in welche Richtung der gefällte Baum stürzen würde. Gleichzeitig machte einer sich auf der anderen Seite mit dem traditionellen Steinbeil zu schaffen. Es war erstaunlich zu sehen, wie sie Stein und Metall zugleich benutzten; während das Stahlbeil zweifellos effektiver war, konnte auch ein Steinbeil einen großen Baum überraschend schnell umlegen. Die Luft war erfüllt von den Rufen der Leute und den rhythmischen Schlägen der Äxte, während die Bäume zwischen mir und dem Eisenholz alle nacheinander umkippten. Von der Schwerkraft angezogen, rauschten ihre Blätterkronen seufzend zu Boden. Keiner der Bäume war so groß wie der Eisenholz, aber es krachte ganz ordentlich, wenn sie umstürzten, und jeder Sturz wurde vom Triumphgeschrei der Korowai begleitet.

Sieben Kleinkinder stolperten zwischen den gefällten Bäumen umher und spielten mit Pfeil und Bogen im Miniaturformat. Ich erschrak, als ich all das Holz auf sie herabprasseln sah. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt, aber der Regenwald kriegte ganz schön was ab, und am Ende des folgenden Tages stand der Kayu Besi ganz allein in einem Meer der Zerstörung. Seine Freilegung unterstrich seine Größe. Es wollte mir immer noch nicht so ganz in den Kopf, wie diese Burschen ganz ohne Seile in seine Krone hinaufkommen wollten.

Viele der gefällten Bäume wurden ihrer Rinde entkleidet, die für den Bodenbelag gebraucht wurde, und die kleineren Bäume wurden zu Stangen zurechtgestutzt und gebündelt am Fuß des Eisenholz aufgehäuft. Die Männer waren jetzt schwer damit beschäftigt, hölzerne Gerüste mit Leitern bis zu den untersten Eisenholzästen zu errichten. Sie arbeiteten in unglaublichem Tempo, klammerten sich mit nackten Beinen an die aufstrebenden Äste, während Bündel von Stangen an Rattanseilen zu ihnen emporgehievt wurden. Ich filmte sie von gegenüber, an meinen Sicherungsseilen hängend, wie sie vollkommen ungesichert 15 Meter über dem Boden auf dem wackeligen Gerüst herumkletterten, mit nichts als Luft unter sich, um sie aufzufangen, falls sie abstürzten. Wie Ameisen schwärmten sie umher und arbeiteten als eingespieltes Team, um zu gewährleisten, dass ihre erfahrensten Kletterer alles hatten, was sie brauchten, um so schnell wie möglich weiter nach oben zu gelangen. Bis Sonnenuntergang hatten sie die unteren Äste des Eisenholz erreicht und eine Plattform aus Stangen rings um den Mittelstamm gebaut. Diese sollte wohl als Rampe dienen, von der aus sie in die Krone aufsteigen würden, um dort die Balken für das Fundament des Baumhauses zu befestigen.

In der Abenddämmerung blieb ich allein auf der Lichtung zurück und blickte von meiner hohen Warte aus auf die Szenerie herab. Das Resultat eines ganzen Tages Arbeit war ein Hektar Wald, der aussah wie von der Artillerie gemäht – ein Chaos aus brusthohen Stümpfen. Unfassbar: Innerhalb von 24 Stunden war ein ansehnliches Stück Urwald in einen geschundenen Haufen Splitterholz verwandelt worden. Gut, es war auch ein Stahlbeil im Spiel gewesen, aber in erster Linie war diese geschwinde Rodung von 40 Leuten mit Steinbeilen bewerkstelligt worden. Als Experiment in praktischer Archäologie könnte es nicht aufschlussreicher sein: Die Wälder des neolithischen Britannien hatten seinerzeit offensichtlich keine Überlebenschance gehabt.

* * *

Am Abend ging ich wie immer mit den anderen zum Fluss hinab, wo wir uns in dem tiefen schwarzen Wasser wuschen, das träge aus dem uns umgebenden Urwald floss. Bob, unser indonesischer Mittelsmann, dessen Zelt am Wegrand stand, hatte das zweifelhafte Vergnügen, eine Reihe halb nackter Briten in Flipflops dabei zu beobachten, wie sie über die große Pfütze vor seinem Zelt zu springen versuchten, ohne ihre Handtücher, Taschenlampen oder Seifenstücke zu verlieren. Auf den Routinegruß »N’Abend, Bob«, pflegte er mit »N’Abend, BBC, Vorsicht vor den Krokodilen« zu antworten.

An jenem Abend blieb ich stehen, um ihn etwas zu fragen, das mich schon länger beschäftigte. Ich konnte mir einfach nicht erklären, wieso die Korowai den Wald rings um ihre Baumhäuser so weiträumig rodeten. Ein paar Bäume hier und da, gut und schön. Aber war es wirklich nötig, fast einen ganzen Hektar abzuholzen? So viel Baumaterial konnte man doch gar nicht brauchen. Dieses hektische Bäumefällen hatte beinahe etwas Fanatisches. Außerdem war mir aufgefallen, dass die Korowai sich davor hüteten, von der Dunkelheit überrascht zu werden; stets achteten sie darauf, dass alle, besonders die Kinder, vor Sonnenuntergang wohlbehalten in ihren Baumhäusern waren.

Bob erklärte mir, dass die Korowai seit Jahrhunderten den Kopfjägerattacken seitens der Nachbarstämme zum Opfer gefallen waren. Das wusste ich. »Aber dieses Unwesen hat doch sicher längst ein Ende«, wandte ich ein. Im Prinzip schon, meinte Bob, aber alte Gewohnheiten lassen sich schwer abschütteln, und das Erbe dieser Unsicherheit sei ein tief verwurzeltes Misstrauen gegen dichte Bewaldung, die einen Überraschungsangriff verbergen könnte. Durchaus verständlich. Allerdings, fuhr Bob fort, lebten die Korowai auch in ständiger Angst vor einer noch unergründlicheren Bedrohung: Hexerei.

Khakhua sind Hexer in Gestalt eines Stammesangehörigen, den sie völlig unter ihre Kontrolle gebracht haben und zu Gewalttaten zwingen. Wer als angeblicher Khakhua eines Verbrechens bezichtigt wird, sei es von dem Opfer, sei es von der Allgemeinheit, wird hingerichtet und zerstückelt, die Körperteile sodann an die Nachbarstämme verteilt, um bei kannibalistischen Ritualen verzehrt zu werden. Die Korowai glauben, dass dies die einzige Methode sei, den bösen Geist des Khakhua für immer zu besiegen. Jeder kann jederzeit der Hexerei bezichtigt werden, und so lebt jeder innerhalb der Korowai-Gesellschaft sein ganzes Leben lang mit diesem Damoklesschwert über sich. Leute wurden gezwungen, nahe Verwandte den Angehörigen von Opfern auszuhändigen, die sie auf dem Totenbett beschuldigt hatten. Sie vermögen es nicht, die grausige Abschlachtung und rituelle Einverleibung ihrer Lieben zu verhindern.

»Die bösen Geister leben im Dschungel rings um ihre Häuser, und durch das Bäumefällen sorgt man dafür, dass sie sich nicht heimlich in die Häuser schleichen«, sagte Bob.

Finstere Mechanismen. Kein Wunder, dass die Korowai Zuflucht in den Bäumen suchten, um solchen Drohungen zu entkommen.

Während er all dies beim Abendessen aus Käferlarven unserem Anthropologen Jim erzählte, setzte Bob hinzu: »Aliom ist hier der Schamane vom Dienst: Es ist seine Aufgabe, den Stamm vor solchen Geistern zu beschützen.«

Das überraschte mich überhaupt nicht. Obwohl ich Aliom respektierte und mittlerweile sogar recht gern mochte, war er mir manchmal unheimlich. Er war etwas älter als Anom, der andere Stammesälteste, und hatte irgendein Hautleiden, das ihm eine graue, fast gespenstische Farbe verlieh. Er war so sehnig wie die anderen, aber seine Haut schlug merkwürdige Falten, als sei sie ihm eine Nummer zu groß. Er hatte extrem flinke, huschende Augen und eine schwere, oft gerunzelte Stirn, während sein Mund in gewohnheitsmäßig schiefem Grinsen halb offen stand. Ein humorloses wölfisches Grinsen, das den Eindruck vermittelte, man werde von ihm taxiert. Ein rasselnder Husten zerriss ihm alle paar Sekunden die Brust, ansonsten aber verhielt er sich still, gab sich damit zufrieden, uns verstohlen zu beobachten, und ignorierte das Auge der Kamera ebenso wie unsere Versuche, uns mit ihm zu verständigen.

Er hatte etwas Jenseitiges an sich, und es überraschte mich nicht zu erfahren, dass Aliom früher mit ziemlicher Sicherheit an kannibalistischen Ritualen teilgenommen hatte.

»Wie vermutlich alle älteren Männer hier«, fügte Jim rasch hinzu. »Gefangene aus kriegerischen Auseinandersetzungen wurden manchmal der gleichen Prozedur unterzogen.«

Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte, aber so gern ich sie mochte, konnte ich die älteren Krieger – inklusive Anom – jetzt nicht mehr auf die gleiche Weise sehen wie vorher.

* * *

Am nächsten Morgen stieg Gavin auf das Gerüst, um ein paar Nahaufnahmen von den Männern zu machen, während ich wieder auf den Nachbarbaum stieg, um die ganze Szene aus der Entfernung zu filmen. Eine Frau in Bastrock und mit Hundezahnkette brachte in ein Blatt verpackte Glut, um ein gemeinschaftliches Feuer anzuzünden. Ich sah die dünne blaue Rauchfahne, die hinter ihr aufstieg, während sie barfuß über einen liegenden Baumstamm balancierte und dann heruntersprang, um sich zu den Frauen zu gesellen, die schon unter einem Dach aus Palmblättern saßen. Der Rauch von dem Feuer erfüllte allmählich die Lichtung, und die Morgensonne schien in breiten Strahlen hindurch, was diese ohnehin wie aus der Zeit gefallene Szene in eine magische Stimmung tauchte. Es kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit, seit wir zuletzt die Sonne gesehen hatten. Dies war unser erster Tag ohne Regen, und alle waren guter Dinge und entschlossen, ihn nach Kräften zu nutzen.

Die meisten Männer befanden sich schon oben auf dem Turm. Manche trugen Stangenbündel auf den Schultern, während sie die Leitern emporstiegen, andere schulterten schlangengleich eingerollte Rattanranken. Alles schwirrte vor Geschäftigkeit; ich musste an die Szene in Gullivers Reisen denken, wo die Liliputaner Gulliver mit Seilen festbinden. Ein ähnliches Heer winziger Gestalten arbeitete jetzt emsig daran, den riesigen Kayu Besi mit einem dicht verwobenen Netz zu überziehen. Die Korowai waren unermüdlich, arbeiteten pausenlos, als fürchteten sie, der Baum könnte plötzlich aufwachen und weglaufen, bevor er ordentlich festgezurrt war.

Bis zum Vormittag war der Turm auf fast 30 Meter Höhe angewachsen und reichte schon bis hinauf in die gigantische Baumkrone. Von hier aus nahm das Konstrukt ganz neue Formen an. Bald war ein raffiniert ausgetüfteltes Gitterwerk entstanden, das die Baumkrone wie ein Weidenkorb zu umschließen schien. Ein achtjähriger Junge, der höher hinaufgestiegen war, um sich hervorzutun, wurde von einem älteren, erfahreneren Burschen barsch nach unten beordert und verbrachte die nächsten zehn Minuten damit, wie ein Irrer durch den Baum zu turnen. Was sicher nicht so gefährlich war, wie es aussah; schließlich lernten die Korowai, auf Bäume zu klettern, kaum dass sie laufen konnten. Doch ich fand es beruhigend, dass der Kleine unter Aufsicht stand, denn allzu viel Selbstgefälligkeit war hier fehl am Platze. Die Männer hier oben wussten genau, was ein Sturz aus 30 Metern Höhe bedeutete, selbst wenn es den Kindern noch nicht klar war. Also konnte ich mich halbwegs entspannt zurücklehnen und mich daran freuen, wie der ganze Bau vor meiner Kameralinse Gestalt annahm.

Am folgenden Morgen hatte das Gitterwerk mehr als die Hälfte des Baums überwuchert, und für Gavin und mich war es jetzt an der Zeit, zusammen mit den Korowai in die Krone zu steigen. Es würde das erste Mal seit meinem Testaufstieg vor einer Woche sein. Inzwischen hatte der Baum sich bis zur Unkenntlichkeit verändert, und obwohl meine Steigseile noch am Stamm herabhingen, wurden sie nicht mehr benötigt; jetzt würden wir über die Leitern hochklettern. Da ich gut 20 Kilo schwerer war als die meisten Korowai, bewegte ich mich anfangs sehr vorsichtig in ihrem Gitterwerk. Einige Sprossen rutschten ein paar Zoll herab, bevor sie in ihre Rattanschlingen einrasteten, doch ich war überrascht, wie stabil das Ganze sich anfühlte. Es bog und dehnte sich, aber das war Absicht. Der Kayu Besi war ein dynamisches Lebewesen, das sich in einem Sturm heftig hin und her bewegen würde, und was immer man in seine Krone hineinbaute, würde ebenfalls flexibel sein müssen, um nicht auseinandergerissen zu werden. Die Leiter, die die erste Plattform mit der oberen Baumkrone verband, hatte eine Neigung von 45 Grad, was mir eine fantastische Sicht auf den gerodeten Waldboden 30 Meter weiter unten bescherte. Dort sah ich Kinder und Hunde herumlaufen, und ich genoss das Gefühl, so hoch oben zu sein, ohne mich auf Seile verlassen zu müssen.

Die obere Plattform war genau in die mittlere Krone eingepasst. Sie würde das Fundament für das geplante Haus abgeben. Von hier aus war der Boden außer Sichtweite, weshalb eine Gruppe von Teenagern es sich rauchend und schwatzend auf der Plattform gemütlich gemacht hatte, in friedlicher Abgeschiedenheit von ihren Müttern und Schwestern dort unten. Manche Dinge sind überall gleich.

Nachdem ich es nun schon so hoch geschafft hatte, wollte ich mir die spektakuläre Aussicht zu Gemüte führen. So gut es sich auch anfühlte, frei von Seilen zu sein, schien es mir doch vernünftiger, zwei Sicherungsschnüre für Gavin und mich um einen der Stämme zu schlingen, bevor wir uns auf einer horizontalen Stange weiter nach außen wagten. Als ich in eine Astgabel griff, um mich abzustützen, entdeckte ich einen leichten Seilabrieb an der Rinde. Ich stand just an der Stelle, wo ich bei meinem ersten Aufstieg vor einer Woche in meinem Klettergurt gehangen und die Spinne beobachtet hatte. Was bedeutete, dass wir uns jetzt 36 Meter über dem Boden befanden. Es schien unmöglich, dass es sich um denselben Baum handelte. Seine herrliche Krone war nicht mehr wiederzuerkennen. Ganze Stämme fehlten, abgehackt und beiseite geschafft, um dem Haus Platz zu machen. Wo vorher lange, elegante Äste gewesen waren, gab es nur mehr ein hässliches Gestrüpp aus amputierten Stümpfen, und das Blätterdach jenseits des zerfetzten Astwerks hatte keine Ähnlichkeit mehr mit der unberührten Krone, die dort prangte, bevor die Bäume ringsum gefällt worden waren. Aber so hässlich dies auch war, hatten die Korowai doch gute Gründe, die Baumkrone auszudünnen. Blätterreiche Kronen stemmen sich dem Wind entgegen wie Segel und sind der Hauptgrund dafür, dass hohe Bäume im Sturm so sehr ins Schwanken geraten. Da das Baumhaus der Krone noch mehr Gewicht und Starre aufbürden würde, war es sinnvoll, ihr eigenes Gewicht so weit wie möglich zu verringern. Das verringerte zugleich den Windwiderstand und half, den Baum im Gleichgewicht zu halten. In dieser Höhe in einem Holzhaus zu sitzen, während es von dem sturmgepeitschten Baum zerlegt wurde, hätte wohl niemandem Spaß gemacht. Unser Baumhaus in Gabun war viel weiter unten gebaut worden, und dennoch hatten die peitschenden Äste des Ebana ihm ganz schön zugesetzt. Dieses hier, hoch oben in der Krone des Kayu Besi, würde noch weit Schlimmeres überstehen müssen.

Als ich mich umwandte, fiel mein Blick auf einen älteren Korowai-Krieger auf der Plattform, der hinter den anderen Platz genommen hatte. Er wirkte viel älter als die übrigen, und weder Gavin noch ich hatten ihn jemals zuvor gesehen. Etliche Leute waren in letzter Zeit aus benachbarten Korowai-Clans dazugestoßen, um beim Bau des Baumhauses zu helfen, doch es war immer noch überraschend, jemand völlig Unbekannten zum ersten Mal oben auf dem Baum anzutreffen. Er hockte im Schneidersitz da, hielt die Stangen unter sich mit den Zehen umklammert und verwendete lange Rattanstränge, um die Stangen aneinanderzufügen. Er machte einen etwas wackeligen Eindruck und sah reichlich wild aus, selbst für einen Korowai. Wie viele der älteren Krieger trug er eine kleine Kaurimuschel in die Nasenspitze eingepasst und ein Stirnband um den Kopf. Er war furchtbar mager, mit eingefallenen Wangen unter dem kurzen grauen Bart. Als ich mich hinhockte, um ihm bei der Arbeit zuzusehen, brach er in grellen Gesang aus. Eine Serie von Strophen, die wie beim Jodeln zwischen den Oktaven oszillierten, erklangen glockenrein durch die Baumkrone. Wahrscheinlich war er noch bis ins Gebiet des Nachbarclans zu hören. Er unterbrach seinen Gesang, um zu den Teenagern hinaufzuspähen, die wie Gibbons im Baumwipfel herumturnten. Sie schüttelten die ganze Baumkrone, und sein Stirnrunzeln zeigte deutlich, was er davon hielt. Auf einmal, als ob er mich erst jetzt bemerkte, beugte er sich zu mir vor und spähte mir ins Gesicht, so nah, dass unsere Nasen sich fast berührten. Seine Augen waren milchig vom grauen Star. Ich staunte: Ein 60-Jähriger, der kaum die Hand vor Augen erkennen konnte, kraxelte hier 35 Meter über dem Boden durch den Baum. Diese Leute waren unglaublich.

Nun ging es immer schneller voran. Das Stangenfundament, auf dem das Haus stehen würde, war fast fertig, und weiteres Baumaterial für die Wände und das Dach wurde in großen Bündeln hochgehievt, die an Rattanseilen durch die Luft schaukelten.

Der Alte blickte wieder zu den Jugendlichen hinauf, die sich fünf Meter über uns im Geäst verlustierten. Sie balancierten auf fingerdicken Zweigen, hielten sich mit den Zehen fest und surften mit wedelnden Armen auf dem wippenden Blattwerk. Eisenholz ist widerstandsfähig, aber es gibt Grenzen. Nasé beorderte die Jungen herab, damit er in Ruhe damit fortfahren konnte, die Äste auszudünnen. Einer von den Jungs ignorierte ihn, worauf Nasé dem Ast, auf dem er stand, einen Hieb mit dem Steinbeil versetzte. Eine leere Drohung, doch sie verfehlte nicht ihren Zweck: in Windeseile kam der Junge heruntergerutscht. Tatsächlich war der Eisenholz viel zu hart für ein Steinbeil, also reichte Nasé die einzige Machete, die der Clan besaß, zu Wayu hinüber, der sich mit metallisch klirrenden Schlägen über die Äste hermachte. Es klang wie Schwertkampf, als ob das massive Eisenholz die Klinge parierte und sie blitzartig in unvorhersehbare Richtungen zurückschnellen ließ. Aber Wayu ließ nicht nach, und als er den Ast endlich durchtrennt hatte, ertönte das vertraute Johlen von Nasé, um die Leute unten zu warnen. Der buschige Ast kippte über die Kante der Plattform und rauschte senkrecht unter seinem Fallschirm aus Blättern zu Boden, wo er mit einem fernen, dumpfen Aufprall landete.

Die Männer pfiffen die ganze Zeit beim Arbeiten, ein Chor aus schrillen Strophen, die sich endlos wiederholten, während sie im Schneidersitz dahockten und die Stangen am Gerüst befestigten.

»Und ich dachte schon, dein Pfeifen wäre nervtötend«, meinte Gavin. »Man kommt sich hier ja vor wie in einer Horde von Briefträgern.«

Bis zum Nachmittag des folgenden Tages war das Haus fast vollendet: Wände aus hölzernen Stangen, die mit Rattan zusammengefügt waren, ein schräges, mit Sagopalmblättern gedecktes Dach und ein Boden aus Baumrinde, welche die Lücken in der tragenden Plattform überdeckte. Gavin hatte ganz einmaliges Bildmaterial von dem Bauwerk eingefangen, das um uns herum Gestalt annahm.

Noch ehe es ganz fertig war, wurde es schon von Frauen und Kindern eingeweiht. Viele hatten handgeknüpfte Beutel umgehängt, die Ferkel und Welpen enthielten. Bis Anom dem Haus seinen ersten Besuch abstattete, knisterten schon zwei Feuer in Lehmöfen, und überall tollten Kinder und Tiere herum. Anom nahm auf dem kleinen Balkon des Hauses Platz, rauchte seine Pfeife und genoss mit sichtlichem Behagen den Ausblick über den Dschungel.

Tatsächlich sahen alle glücklich aus, und das zu Recht: Was hier vollbracht worden war, war nichts weniger als phänomenal. Das Baumhaus war ganz und gar aus Materialien gefertigt, die aus dem Wald stammten: Ranken, Rinde, Holzstangen und Palmblätter – sonst nichts. Und wenn es irgendwann einmal aufgegeben würde, dann würde es auf den Boden zurückfallen und völlig in der Natur aufgehen. Der Eisenholzbaum würde überleben, die gekappten Äste würden nachwachsen, und zweifellos würde der Kayu Besi noch über viele Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte gedeihen.

* * *

Der Bau eines solchen Hauses war natürlich ein großes gesellschaftliches Ereignis für die Korowai, ein Akt, durch den sie ihre Kultur definierten. Sie waren sehr stolz auf ihr Werk, und ihre Fähigkeit, sich mit solcher Sicherheit in einem so extremen Umfeld zu betätigen, schien ein grundlegendes Element ihrer Identität zu sein. Häuser in Baumkronen zu bauen war das, was sie ausmachte, und sie machten es besser als jeder andere auf dem Planeten. Ich konnte nur hoffen, dass wir hier nicht ihrem Schwanengesang beiwohnten. Missionare drangen immer weiter flussaufwärts in Richtung der Korowai-Gebiete vor, und manche Clans hatten den Urwald schon verlassen und lebten nun in staatlich subventionierten Siedlungen aus tristen Holzhütten.

Offenbar haben die Korowai ein ebenso komplexes wie inniges Verhältnis zu dem Urwald, der ihren Lebensraum bildet. Die Bäume liefern ihnen fast alles, was sie brauchen: Materialien, Brennstoff, Zuflucht und Kultur. Selbst ihr tägliches Brot stammt von den Bäumen. Die Sagopalme liefert Kohlenhydrate (in Form von Fladen, die aus ihrem stärkehaltigen Mark gebacken werden) und Eiweiß: dicke Käferlarven, die wie Geleebohnen aus dem Stamm kullern.

Es gab so viele Fragen, die unbeantwortet blieben. Hatte ihre Verbindung zu den Bäumen auch etwas Spirituelles? Es war ja unvermeidlich, dass Bäume eine große Rolle in ihrer Folklore und Religion spielten, aber welche Rolle genau? Verehrten sie die Bäume als Götter, oder fürchteten sie sie nur als Horte böser Geister? Oder vielleicht beides, da Furcht und Verehrung oft Hand in Hand gehen?

Obgleich ich Einzelne manchmal mit Staunen zum Kayu Besi aufblicken sah, schien es im Alltag der Korowai wenig Raum für Sentimentalität zu geben. Bäume wurden nicht umarmt oder romantisiert, was mich veranlasste, meine eigene Haltung zu überdenken. War meine Zuneigung zu Bäumen einfach eine Projektion meiner eigenen spirituellen Bedürfnisse – um die Leere zu füllen, die das moderne Misstrauen gegenüber der etablierten Religion hinterlassen hatte? Ich weiß es nicht, aber sollte ich das Glück haben, jemals wieder einem Korowai zu begegnen, werde ich ihn nach seiner inneren Beziehung zu den Bäumen fragen. Obwohl man ebenso gut einen Fisch nach dem Wasser oder einen Vogel nach der Luft fragen könnte, durch die er fliegt.