In der darauffolgenden Woche kamen mir bei allen möglichen Gelegenheiten die Tränen. Beim Aufwachen wusste ich, dass meine Mutter tot war. Ich hatte schwere Träume, von denen ich nichts erinnerte, außer dass meine tote Mutter in ihnen vorgekommen war. Ich tat nur das Notwendigste, einkaufen, kochen, Wäsche waschen. Oft vergaß ich, in welcher Reihenfolge die Dinge erledigt werden mussten, ich hielt inne, nachdem ich das Gemüse geschält hatte, und der nächste Schritt, es waschen, fiel mir erst nach längerem Nachdenken ein. Lesen war unmöglich. Einmal ging ich hinunter in den Keller, dort befand sich der Koffer meiner Mutter mit ihrem Portemonnaie, einer Sommerhandtasche und Halstüchern. Ich stand traurig vor dem weit geöffneten Koffer. Am schlechtesten ging es mir draußen, in der Stadt. Ich fuhr Auto, und urplötzlich: »Sie wird nie mehr irgendwo auf dieser Welt sein.« Ich verstand das normale Verhalten der Menschen nicht, und wenn sie in der Metzgerei mit großer Sorgfalt dieses oder jenes Stück Fleisch aussuchten, überkam mich Grauen.
Dieser Zustand verschwindet nach und nach. Freude, dass es kalt und regnerisch ist wie am Monatsanfang, als meine Mutter noch lebte. Momente der Leere, jedes Mal, wenn ich feststelle: »Es ist sinnlos« oder »es ist nicht mehr nötig« (dies oder jenes für sie zu tun). Ein Abgrund bei dem Gedanken: der erste Frühling, den sie nicht erleben wird. (Jetzt die Kraft solcher Alltagssätze spüren, sogar die von Klischees.)
Morgen wird die Beerdigung drei Wochen her sein. Erst gestern habe ich die Angst davor überwunden, oben auf ein leeres Blatt Papier – als Anfang eines Buchs, nicht als Brief an jemanden – zu schreiben: »Meine Mutter ist gestorben.« Ich konnte mir auch Fotos von ihr ansehen. Auf einem sitzt sie am Ufer der Seine, mit angewinkelten Beinen. Ein Schwarz-Weiß-Foto, aber mir ist, als könnte ich ihr rotes Haar und das Schimmern ihres schwarzen Kostüms aus Alpakawolle sehen.
Ich werde weiter über meine Mutter schreiben. Sie ist die einzige Frau, die mir ernsthaft etwas bedeutet hat, und sie war seit zwei Jahren dement. Vielleicht sollte ich warten, bis ihre Krankheit und ihr Tod Teil meiner Vergangenheit geworden sind, so wie andere Ereignisse auch, der Tod meines Vaters und die Trennung von meinem Mann, damit ich den Abstand gewinne, der die Analyse der Erinnerungen erleichtert. Doch im Moment kann ich ohnehin nichts anderes tun, als über sie zu schreiben.
Es ist ein schwieriges Unterfangen. Für mich hat meine Mutter keine Geschichte. Sie war schon immer da. Mein erster Impuls beim Schreiben, sie in zeitlosen Bildern festhalten: »Sie war wütend«, »sie war eine Frau, die alles verbrannte«, einzelne Szenen, in denen sie vorkommt, ungeordnet aneinanderreihen. So finde ich aber nur die Frau aus meiner Vorstellung, dieselbe Frau, die ich seit ein paar Tagen in meinen Träumen sehe, wieder lebendig, unbestimmten Alters, in einer Atmosphäre der Spannung, wie in einem Horrorfilm. Ich möchte aber auch die Frau zu fassen bekommen, die außerhalb von mir existiert hat, die Frau, die am ländlichen Rand einer Kleinstadt in der Normandie geboren wurde und auf der geriatrischen Station eines Krankenhauses in einem Vorort von Paris gestorben ist. Was ich zu schreiben hoffe, um ihr gerecht zu werden, liegt vermutlich an der Nahtstelle von Familie und Gesellschaft, Mythos und Geschichte. Mein Vorhaben ist literarischer Art, denn es geht darum, nach einer Wahrheit über meine Mutter zu suchen, die nur durch Worte gefunden werden kann. (Was bedeutet, weder Fotos noch meine Erinnerungen noch die Erzählungen von Verwandten können mir diese Wahrheit liefern.) Gleichzeitig will ich sozusagen unterhalb dessen bleiben, was gemeinhin als Literatur gilt.
Yvetot ist eine kalte Stadt, erbaut auf einer windigen Ebene zwischen Rouen und Le Havre. Zu Beginn des Jahrhunderts war sie das Handels- und Verwaltungszentrum einer rein landwirtschaftlichen Region in den Händen von Großgrundbesitzern. Mein Großvater, Fuhrmann auf einem Bauernhof, und meine Großmutter, Weberin in Heimarbeit, hatten sich ein paar Jahre nach ihrer Hochzeit dort niedergelassen. Beide stammten aus einem drei Kilometer entfernten Dorf. Sie mieteten ein kleines, niedriges Haus mit Hof, das jenseits der Eisenbahngleise am Stadtrand lag, in einer ländlichen Gegend mit unklaren Grenzen, zwischen den letzten Kneipen am Bahnhof und den ersten Rapsfeldern. Meine Mutter kam dort zur Welt, 1906, als viertes von sechs Kindern. (Ihr Stolz, wenn sie sagte: »Ich bin nicht auf dem Land geboren.«)
Vier der Kinder haben Yvetot nie verlassen, meine Mutter hat drei Viertel ihres Lebens dort verbracht. Sie haben sich der Innenstadt angenähert, aber nie dort gewohnt. Man ging »in die Stadt«, zur Messe, zum Metzger, für eine Postanweisung. Heute hat meine Cousine eine Wohnung im Zentrum, durchschnitten von der Nationalstraße 15, auf der Tag und Nacht Lastwagen fahren. Sie gibt ihrer Katze Schlafmittel, damit sie nicht rausläuft und überfahren wird. Das Viertel, in dem meine Mutter ihre Kindheit verbracht hat, ist bei Bessergestellten sehr gefragt, wegen der Ruhe und den alten Häusern.
Meine Großmutter hatte das Sagen und erzog ihre Kinder mit Geschrei und Schlägen zu »Gehorsam«. Sie war eine schwer arbeitende, barsche Frau, ihre einzige Entspannung war die Lektüre von Fortsetzungsromanen. Sie schrieb schöne Briefe und ihr Abgangszeugnis von der Volksschule war das Beste im ganzen Bezirk, sie hätte Lehrerin werden können. Die Eltern erlaubten ihr nicht, das Dorf zu verlassen. Die Gewissheit, dass es Unglück bringt, sich von der Familie zu entfernen. (Im Dialekt der Normandie bedeutet »ambition« nicht nur »Ehrgeiz, Ambition«, sondern auch »Trennungsschmerz«, ein Hund kann vor »ambition« sterben.) Um ihr Leben zu verstehen, das im Prinzip vorbei war, als meine Großmutter elf Jahre alt wurde, muss man sich die vielen Sätze in Erinnerung rufen, die mit »früher« beginnen: früher ging man nicht so lange zur Schule, früher gehorchte man seinen Eltern etc.
Sie war eine gute Hausfrau, das heißt, sie schaffte es, die Familie mit sehr wenig Geld zu ernähren und zu kleiden, reihte Kinder ohne Löcher und Flecken in der Kirchenbank aneinander und näherte sich so einem Leben in Würde, in dem die Familie sich nicht als Gesindel fühlen musste. Sie trennte die Kragen und Manschetten der Hemden ab und nähte sie umgekehrt wieder an. Sie verwendete alles weiter, die Haut auf der Milch und das alte Brot zum Kuchenbacken, die Asche zum Wäschewaschen, die Wärme des erloschenen Ofens zum Trocknen von Pflaumen oder Geschirrtüchern, das Wasser der morgendlichen Katzenwäsche zum Händewaschen. Sie kannte alle Gesten, die mit der Armut einhergingen. Dieses Wissen, über Jahrhunderte von Müttern an ihre Töchter weitergegeben, endet mit mir, ich bin nur noch seine Archivarin.
Mein Großvater, ein starker, sanfter Mann, starb mit fünfzig Jahren an einem Herzinfarkt. Meine Mutter war dreizehn Jahre alt und liebte ihn sehr. Verwitwet war meine Großmutter noch strenger, sie passte auf wie ein Schießhund. (Zwei Schreckensbilder, die Söhne im Gefängnis, die Töchter unehelich schwanger.) Als niemand mehr in Heimarbeit webte, wusch sie anderer Leute Wäsche, putzte Büros.
Ihr Lebensende verbrachte sie bei ihrer jüngsten Tochter und dem Schwiegersohn in einer Baracke ohne Strom direkt an den Eisenbahngleisen, in der früher die Kantine der gegenüberliegenden Fabrik untergebracht gewesen war. Meine Mutter nahm mich mit, wenn sie sie sonntags besuchen ging. Sie war eine kleine, runde Frau, die sich flink bewegte, obwohl sie von Geburt an ein verkürztes Bein hatte. Sie las Romane, sprach sehr wenig, in schroffem Ton, und liebte ihren Branntwein, den sie in der Tasse mit dem letzten Schluck Kaffee mischte. Sie starb 1952.
Die Kindheit meiner Mutter sah ungefähr so aus:
unstillbarer Hunger, auf dem Nachhauseweg vom Bäcker ein halbes Baguette verschlingen, »bis Mitte zwanzig aß ich wie ein Scheunendrescher«,
ein gemeinsames Zimmer für alle Geschwister, sich mit der Schwester ein Bett teilen, schlafwandeln, man findet sie im Hof, nicht ansprechbar, mit offenen Augen,
die Kleider und Schuhe von Schwester zu Schwester weiterreichen, als Weihnachtsgeschenk eine selbstgenähte Puppe, vom Cidre zerfressene Zähne,
aber auch auf dem Ackergaul ausreiten, im Winter 1916 auf dem zugefrorenen Teich Schlittschuh laufen, Verstecken spielen und Seil springen, den »hohen Töchtern« der Privatschule Schimpfwörter zurufen, begleitet von der rituellen Geste der Verachtung, ihnen den Rücken kehren und sich mit der flachen Hand auf den Hintern klatschen,
ein Leben, das sich draußen abspielt, das Leben eines Mädchens vom Land, das alles kann, was die Jungen können, Holz sägen, Äpfel vom Baum schütteln und Hühner schlachten, indem man ihnen eine Schere in die Kehle rammt. Der einzige Unterschied, sich nicht an die »Muschi« fassen lassen.
Sie ging mehr oder weniger regelmäßig auf die städtische Schule, abhängig von der Saisonarbeit und den Krankheiten der Geschwister. Nur wenige Erinnerungen, abgesehen von den Ansprüchen der Lehrerinnen an Sauberkeit und Höflichkeit, die Fingernägel und den Hemdkragen vorzeigen, einen Schuh ausziehen (man wusste nie, welchen Fuß man waschen sollte). Der Unterricht zog an ihr vorbei, ohne irgendwelche Sehnsüchte zu wecken. Niemand »förderte« seine Kinder, sie mussten schon »eine Begabung haben«, die Schulzeit saß man ab, bis man den Eltern nicht mehr zur Last fiel. Man konnte ruhig fehlen, man verpasste nichts. Die Messe durfte man hingegen auf keinen Fall verpassen, sie gab einem selbst auf den hinteren Bänken das Gefühl, dass man nicht wie »ein Hund« lebte, weil man am Reichtum, an der Schönheit und am Geist teilnahm (bestickte Messgewänder, goldene Kelche, Choräle). Meine Mutter zeigte früh ein lebhaftes Interesse an der Religion. Der Katechismus war das einzige Fach, für das sie leidenschaftlich lernte, sie kannte alles auswendig. (Später dieselbe atemlos freudige Art, bei den Gebeten in der Messe zu antworten, als wollte sie ihr Wissen unter Beweis stellen.)
Sie war weder glücklich noch unglücklich darüber, mit zwölfeinhalb von der Schule abzugehen, das war so üblich.[1] In der Margarinefabrik, in der sie zu arbeiten begann, litt sie unter der Kälte und Feuchtigkeit, bekam Frostbeulen an den nassen Händen, die den ganzen Winter nicht verheilten. Später konnte sie »keine Margarine mehr sehen«. Also eher keine »schwärmerische Jugend«, stattdessen das Warten auf den Samstagabend, der Mutter den Lohn aushändigen und gerade so viel behalten, um sich Le Petit Écho de la Mode und Gesichtspuder zu kaufen, Gekicher, Hassgefühle. Eines Tages verfing sich der Schal des Vorarbeiters im Keilriemen einer Maschine. Niemand kam ihm zu Hilfe, er musste sich selbst befreien. Meine Mutter stand daneben. Wie kann man das verstehen, außer man ist selbst schon einmal einer ähnlich großen Entfremdung ausgesetzt gewesen?
Mit der zunehmenden Industrialisierung der Zwanzigerjahre eröffnete eine große Seilerei, die die gesamte Jugend der Umgebung anlockte. Meine Mutter fand dort Arbeit, genau wie ihre Schwestern und ihre zwei Brüder. Der Einfachheit halber zog meine Großmutter um, sie mietete ein kleines Haus hundert Meter von der Fabrik entfernt, um den Haushalt kümmerte sie sich abends mit ihren Töchtern. Meiner Mutter gefiel es in den sauberen, trockenen Werkhallen, in denen es nicht verboten war, sich bei der Arbeit zu unterhalten und zu lachen. Stolz, Arbeiterin in einer großen Fabrik zu sein: in gewissem Sinne zivilisierter als die Mädchen vom Land, die immer noch wie Wilde hinter den Kühen herliefen, und freier als die Dienstmädchen, die ihrer bürgerlichen Herrschaft »den Arsch pudern« mussten wie Sklavinnen. Trotzdem spürte sie sehr deutlich, was sie auf nicht greifbare Weise von ihrem Traum trennte: in einem Laden arbeiten.
Wie viele Großfamilien war auch die meiner Mutter eine Sippe, das heißt, meine Großmutter und ihre Kinder hatten dieselbe Art, sich zu verhalten und als Arbeiter in einer ländlichen Kleinstadt zu leben, etwas, was sie als »die D…« erkennbar machte. Sie schrien alle herum, Männer wie Frauen. Waren überschwänglich fröhlich, aber misstrauisch, gerieten schnell in Rage und »redeten nicht um den heißen Brei herum«. Vor allem waren sie stolz auf ihre Arbeitskraft. Sie gaben es nur ungern zu, wenn jemand tüchtiger war als sie. Den Grenzen, die sie umgaben, setzten sie die ständige Gewissheit entgegen, »jemand zu sein«. Vielleicht daher der Furor, mit dem sie sich auf alles stürzten, Arbeit, Essen, Tränen lachen und eine Stunde später verkünden, »ich ertränke mich im Wasserspeicher«.
Von allen Familienmitgliedern hatte meine Mutter die größte Wut und den größten Stolz, sie blickte mit rebellischer Klarsicht auf ihre niedrige gesellschaftliche Stellung und weigerte sich, ausschließlich danach beurteilt zu werden. Eine ihrer wiederkehrenden Bemerkungen über reiche Leute, »wir sind genauso viel wert«. Sie war eine hübsche, kräftige Blondine (»für meine Gesundheit hätten andere viel Geld bezahlt!«), mit grauen Augen. Sie las alles, was sie in die Finger bekam, sang die neuesten Chansons, schminkte sich, ging mit Freundinnen ins Kino, sah sich im Theater Roger la Honte und Le Maître de forges an. Immer bereit, »sich zu amüsieren«.
Doch in einer Kleinstadt, in der das gesellschaftliche Leben hauptsächlich darin bestand, möglichst viel über die Nachbarn herauszufinden, und zu einer Zeit, in der Frauen ganz selbstverständlich unter ständiger Beobachtung standen, konnte man nur zwischen dem Drang, »seine Jugend zu genießen«, und der Angst, dass die Leute »mit dem Finger auf einen zeigen«, gefangen sein. Meine Mutter bemühte sich, dem vorteilhaftesten Urteil über die Fabrikmädchen zu entsprechen: »Arbeiterin, aber anständig«, sie ging in die Messe, zur Beichte, empfing die Kommunion, bestickte ihre Aussteuer bei den Nonnen im Waisenhaus und ging nie allein mit einem Jungen in den Wald. Sie ahnte nicht, dass ihre kurzen Röcke, ihr Bubikopf, ihr »frecher Blick« und vor allem die Tatsache, dass sie mit Männern zusammenarbeitete, verhinderten, dass man sie als das betrachtete, als was sie gelten wollte, ein »achtbares junges Mädchen«.
Die Jugend meiner Mutter, zumindest teilweise:
große Anstrengungen, um dem naheliegenden Schicksal zu entgehen, sichere Armut, mögliche Alkoholsucht. All dem, was einer Arbeiterin drohte, wenn sie »sich gehen ließ« (rauchen zum Beispiel, sich abends auf der Straße herumtreiben, in schmutzigen Kleidern vor die Tür gehen) und kein junger Mann »mit ernsten Absichten« sie mehr wollte.
Ihre Brüder und Schwestern entgingen dem nicht. Vier sind in den letzten fünfundzwanzig Jahren gestorben. Schon lange ertränkten sie ihre Leere und Wut im Alkohol, die Männer in der Kneipe, die Frauen zu Hause (nur die jüngste Schwester, die nicht trinkt, lebt noch). Vergnügt und gesprächig waren sie irgendwann nur noch ab einem gewissen Pegel. Den Rest der Zeit erledigten sie stumm ihre Arbeit, »ein guter Arbeiter«, eine Hausfrau, an der es »nichts auszusetzen gibt«. Sich im Laufe der Jahre an die Blicke der Leute gewöhnen, daran, nur nach dem Grad der Trunkenheit beurteilt zu werden, »beschwipst sein«, »einen sitzen haben«. An einem Pfingstsamstag begegnete ich auf dem Nachhauseweg von der Schule meiner Tante M… Wie an allen freien Tagen war sie in der Stadt unterwegs, mit ihrer Tasche voller leerer Flaschen. Sie küsste mich auf die Wangen, schwankte auf der Stelle, konnte kein Wort sagen. Ich glaube, ich werde niemals so schreiben können, als hätte ich meine Tante an jenem Tag nicht getroffen.
Für eine Frau war die Ehe eine Frage von Leben und Tod, die Hoffnung, es zu zweit leichter zu haben, oder der endgültige Absturz. Also musste man den Mann erkennen, der »eine Frau glücklich machen konnte«. Natürlich kein Bauerntrampel, selbst wenn er reich war, der dich in einem Dorf ohne Strom Kühe melken ließ. Mein Vater arbeitete in der Seilerei, er war groß, gepflegt und hatte das »gewisse Etwas«. Er trank nicht und legte seinen Lohn für einen eigenen Hausstand beiseite. Er hatte ein ruhiges, heiteres Naturell und war sieben Jahre älter als sie (man nahm keinen »Bubi«!). Sie errötete, wenn sie lächelnd erzählte: »Ich war umschwärmt, mehrere Männer haben um meine Hand angehalten, aber ich habe mich für deinen Vater entschieden.« Oft fügte sie hinzu: »Er hatte etwas Außergewöhnliches.«
Die Geschichte meines Vaters ähnelt der meiner Mutter, Großfamilie, der Vater Fuhrmann, die Mutter Weberin, mit zwölf von der Schule ab, in seinem Fall, um als Knecht auf einem Hof zu arbeiten. Allerdings hatte sein älterer Bruder einen Posten bei der Eisenbahn ergattert, und zwei Schwestern hatten Verkäufer geheiratet. Als ehemalige Dienstmädchen wussten sie, wie man spricht, ohne zu schreien, wie man möglichst leise geht, wie man sich unsichtbar macht. Bereits mehr »Würde«, aber auch eine Tendenz, auf Fabrikarbeiterinnen wie meine Mutter herabzuschauen, deren Aussehen und Verhalten sie zu sehr an die Welt erinnerten, die sie im Begriff waren zu verlassen. Ihrer Meinung nach hätte mein Vater »was Besseres« finden können.
Sie heirateten 1928.
Auf dem Hochzeitsfoto hat sie ein blasses, ebenmäßiges Madonnengesicht mit zwei Schmachtlocken unter einem Schleier, der den Kopf einrahmt und bis zu den Augen reicht. Kräftige Brüste und Hüften, hübsche Beine (das Kleid bedeckt die Knie nicht). Kein Lächeln, ein ruhiger Gesichtsausdruck, etwas leicht Amüsiertes, Neugieriges im Blick. Er, mit kleinem Schnurrbart und Fliege, wirkt viel älter. Er runzelt die Stirn, sieht besorgt aus, vielleicht hat er Angst, das Foto könne misslingen. Er umfasst ihre Taille, sie hat ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Sie stehen auf einem Weg vor einem Garten mit hohem Gras. Hinter ihnen bilden die sich berührenden Äste von zwei Apfelbäumen eine Kuppel. Im Hintergrund die Fassade eines niedrigen Hauses. Das ist eine Szene, die ich spüren kann, die trockene Erde des Wegs, die aus dem Boden ragenden Steine, der Geruch der Natur im Frühsommer. Aber das ist nicht meine Mutter. Selbst wenn ich so lange auf das Foto starre, bis ich mir einbilde, die Gesichter würden sich bewegen, sehe ich nichts als eine glatte, ein wenig unbeholfene junge Frau in einem Filmkostüm der Zwanzigerjahre. Nur ihre breite Hand, die ein Paar Handschuhe hält, und die Art, das Kinn zu recken, verraten mir, dass sie es ist.
Dass die junge Braut glücklich und stolz ist, dessen bin ich mir fast sicher. Über ihre Sehnsüchte weiß ich nichts. An den ersten Abenden – das gestand sie einer ihrer Schwestern – behielt sie beim Zubettgehen den Schlüpfer unter dem Nachthemd an. Das hat nichts zu bedeuten, schließlich konnte man nur im Schutz der Scham miteinander schlafen, aber wenn man »normal« war, musste man miteinander schlafen, und zwar richtig.
Anfangs die Aufregung, feine Dame im eigenen Haushalt zu spielen, das neue Geschirr und die bestickte Tischdecke der Aussteuer einweihen, am Arm ihres »Gatten« ausgehen, lachen, streiten (sie konnte nicht kochen), sich versöhnen (sie war nicht nachtragend), das Gefühl eines neuen Lebens. Doch die Löhne stiegen nicht mehr. Sie mussten die Miete und die Raten für die Möbel zahlen. Mussten an allem sparen und die Eltern um Gemüse bitten (sie hatten keinen eigenen Garten), letztlich dasselbe Leben wie vorher. Sie lebten es verschieden. Bei beiden derselbe Wille zum Aufstieg, aber bei ihm größere Angst vor dem täglichen Kampf, den das bedeutete, die Versuchung, sich mit den Umständen abzufinden, bei ihr eher die Überzeugung, dass sie nichts zu verlieren hatten und alles daransetzen mussten, ihre Lage zu verbessern, »um jeden Preis«. Stolz, eine Arbeiterin zu sein, aber nicht so sehr, dass sie es immer bleiben wollte, von dem einzigen Abenteuer träumen, dem sie sich gewachsen fühlte: einen Lebensmittelladen führen. Er folgte ihr, in ihrer Ehe war sie diejenige mit den gesellschaftlichen Ambitionen.
1931 nahmen sie einen Kredit auf und pachteten eine Gaststätte mit Lebensmittelladen in Lillebonne, einer Arbeiterstadt mit 7000 Einwohnern, fünfundzwanzig Kilometer von Yvetot entfernt. Der Laden lag in La Vallée, einem Viertel mit Webereien aus dem neunzehnten Jahrhundert, die den Alltag und das Leben der Menschen von der Geburt bis zum Tod bestimmten. Noch heute muss man nur vom La Vallée der Vorkriegszeit sprechen und jeder weiß, was gemeint ist, die höchste Konzentration von Alkoholikern und alleinstehenden Müttern in der ganzen Region, vor Feuchtigkeit triefende Wände und Säuglinge, die innerhalb von zwei Stunden an Durchfall starben. Meine Mutter war fünfundzwanzig Jahre alt. Hier muss sie zu der Frau geworden sein, von der ich lange dachte, sie hätte schon immer existiert, mit diesem Gesicht, diesen Vorlieben, diesem Verhalten.
Weil der Laden nicht genug einbrachte, nahm mein Vater Arbeit auf Großbaustellen an, später in einer Raffinerie an der Seine, wo er bis zum Vorarbeiter aufstieg. Sie führte das Geschäft allein.
Von Anfang an war sie mit Leidenschaft dabei, »immer ein Lächeln«, »für jeden ein freundliches Wort«, mit unendlicher Geduld: »Ich hätte auch Steine verkauft!« Sie stellte sich sofort auf das industrielle Elend ein, das dem ähnelte, das sie kannte, nur noch härter, im Bewusstsein, dass sie ihren Lebensunterhalt Menschen verdankte, die selbst nicht genug zum Leben hatten.
Wahrscheinlich keinen Moment für sich selbst zwischen dem Laden, der Kneipe und der Küche, in der ein kleines Mädchen heranwuchs, geboren kurz nach dem Umzug nach La Vallée. Geöffnet von morgens um sechs (wenn die Arbeiterinnen der Weberei Milch holen kamen) bis abends um elf (wenn die Karten- und Billardspieler gingen), zu jeder Tageszeit »die Kundschaft bedienen« müssen, die Leute waren es gewohnt, mehrmals am Tag für eine kleine Besorgung vorbeizukommen. Bitterkeit, kaum mehr als eine Arbeiterin zu verdienen, Angst, »es nicht zu schaffen«. Aber auch eine gewisse Macht – half sie den Familien nicht dabei, sich über Wasser zu halten, indem sie sie anschreiben ließ? –, die Freude am Reden und Zuhören – im Laden wurden so viele Geschichten erzählt –, im Grunde das Glück eines größeren Horizonts.
Und »kultivierter« wurde sie auch. Sie musste überall selbst hin (aufs Finanzamt, ins Rathaus), Lieferanten und Vertreter treffen, sie lernte, auf ihre Ausdrucksweise zu achten, sie ging nicht mehr »barhäuptig« aus dem Haus. Sie begann sich zu fragen, ob ein Kleid »schick« war, bevor sie es kaufte. Die Hoffnung, später die Gewissheit, dass sie nicht mehr »wie ein Mädchen vom Land« aussah. Neben Delly und katholischen Schriften von Peter dem Einsiedler las sie Bernanos, Mauriac und Colettes »anstößige Geschichten«. Mein Vater wurde nicht so schnell »kultiviert«, er bewahrte sich die schüchterne Steifheit desjenigen, der tagsüber Arbeiter war und sich abends als Wirt nicht an seinem Platz fühlte.
Es folgten die schwarzen Jahre der Wirtschaftskrise, die Streiks, Léon Blum, der Mann, der »endlich etwas für die Arbeiter tat«, die Sozialgesetze, Feiern in der Kneipe bis spät in die Nacht, Besuche der Verwandtschaft meiner Mutter, für die in allen Zimmern Matratzen auf den Boden gelegt wurden und die mit Taschen voller Vorräte wieder abreiste (meine Mutter gab gern, und war sie nicht die Einzige, die der Armut entkommen war?), Streitigkeiten mit der »anderen Seite« der Familie. Schmerz. Ihre kleine Tochter war unruhig und fröhlich. Auf einem Foto wirkt sie groß für ihr Alter, mit dünnen Beinen und knochigen Knien. Sie lacht, eine Hand über der Stirn, um nicht von der Sonne geblendet zu werden. Auf einem anderen, neben einer Cousine im Kommunionskleid, ist sie ernst, spielt aber mit den Fingern, die sie aneinandergelegt und gespreizt hat. 1938 stirbt sie drei Tage vor Ostern an Diphterie. Sie wollten nur ein einziges Kind, damit es glücklicher ist.
Schmerz, der vernarbt, Trauer, die verstummen lässt, Gebete und der Glaube an eine »kleine Heilige im Himmel«. Ein neues Leben, Anfang 1940 erwartete sie wieder ein Kind. Ich würde im September zur Welt kommen.
Jetzt habe ich das Gefühl, als schriebe ich über meine Mutter, um sie dadurch zur Welt zu bringen.
Vor zwei Monaten habe ich angefangen, als ich oben auf ein Blatt Papier schrieb: »Meine Mutter ist gestorben, am Montag, den 7. April.« Mittlerweile kann ich diesen Satz ertragen, ihn sogar lesen und empfinde dabei nichts weiter, als wenn er von jemand anderem stammen würde. Aber ich ertrage es nicht, in den Stadtteil des Krankenhauses und des Pflegeheims zu fahren, und auch nicht, mich plötzlich an Details zu erinnern, die ich vergessen hatte, vom letzten Tag, als sie noch lebte. Anfangs glaubte ich, dass ich schnell schreiben würde. Tatsächlich verbringe ich viel Zeit damit, über die Anordnung dessen nachzudenken, was ich sagen will, über die Auswahl und Reihenfolge der Wörter, als gäbe es eine ideale Anordnung, die allein eine Wahrheit über meine Mutter auszudrücken vermag – auch wenn ich nicht weiß, worin diese besteht –, und für mich zählt beim Schreiben nichts anderes, als genau diese Anordnung zu finden.
Der Exodus: sie fuhr mit Nachbarn über Landstraßen bis nach Niort, schlief in Scheunen, trank »Landwein« und kam allein auf dem Fahrrad zurück, passierte deutsche Straßensperren, um im Monat darauf zu Hause ihr Kind zur Welt zu bringen. Furchtlos und bei ihrer Ankunft so schmutzig, dass mein Vater sie nicht wiedererkannte.
Unter der deutschen Besatzung versammelte sich La Vallée um den Lebensmittelladen, in der Hoffnung auf Versorgung. Meine Mutter bemühte sich, alle zu ernähren, vor allem die kinderreichen Familien, ihr Wille, ihr Stolz, nützlich und gut zu sein. Während der Bombenangriffe wollte sie nicht in einem der Gemeinschaftsbunker am Hang Zuflucht suchen, sie wollte lieber »zu Hause sterben«. Nachmittags, zwischen zwei Fliegeralarmen, schob sie mich im Kinderwagen durch die Straßen, damit ich an die frische Luft kam. Es war eine Zeit der schnell geschlossenen Freundschaften, auf Parkbänken lernte sie wohlerzogene junge Frauen kennen, die mit ihrem Stickzeug am Sandkasten saßen, während mein Vater den leeren Laden hütete. Die Engländer, die Amerikaner hielten Einzug in Lillebonne. Panzer rollten durch La Vallée und warfen Schokolade und Tütchen mit orangefarbenem Pulver ab, die wir vom Boden aufsammelten, die Kneipe jeden Abend voller Soldaten, hin und wieder Schlägereien, aber immer gute Stimmung, shit for you sagen lernen. Später erzählte sie von den Kriegsjahren, als wären sie ein Roman, das große Abenteuer ihres Lebens. (Sie liebte Vom Winde verweht sehr.) Das gemeinschaftliche Unglück vielleicht eine Art Innehalten im Kampf um den Aufstieg, der sinnlos geworden war.
Die Frau dieser Jahre war hübsch, mit rotgefärbtem Haar. Sie hatte eine dröhnende Stimme und schrie oft in grässlichem Ton herum. Sie lachte auch viel, ein kehliges Lachen, bei dem sie Zähne und Zahnfleisch entblößte. Sie sang beim Bügeln, Le temps des cerises, Riquita jolie fleur de Java, trug Turbanhüte, ein breitgestreiftes blaues Sommerkleid, ein anderes aus beigem Waffelpiqué. Sie puderte sich mit einer Quaste vor dem Spiegel über der Spüle, trug Lippenstift auf, wobei sie mit dem kleinen Herz in der Mitte begann, tupfte sich Parfüm hinter die Ohren. Wenn sie ihr Korsett schnürte, drehte sie sich zur Wand. Die Haut trat zwischen den sich überkreuzenden Riemen hervor, die sie unten zu einer Schleife band. Mir entging kein Detail ihres Körpers. Ich glaubte, dass ich wie sie sein würde, wenn ich groß wäre.
An einem Sonntag picknicken sie an einem Hang in der Nähe eines Waldes. Eine Erinnerung, wie ich zwischen ihnen sitze, in einem Nest aus Stimmen und warmen Körpern, ständigem Gelächter. Auf dem Nachhauseweg geraten wir in einen Luftangriff, ich sitze bei meinem Vater auf der Fahrradstange, sie fährt vor uns den steilen Weg hinab, kerzengerade auf dem Sattel, der ihr zwischen den Pobacken klemmt. Ich habe Angst vor den Bomben und dass sie stirbt. Ich glaube, wir waren beide in meine Mutter verliebt.
1945 zogen sie aus La Vallée fort, wo ich wegen des Nebels pausenlos hustete und mich nicht gut entwickelte, und kehrten nach Yvetot zurück. In der Nachkriegszeit lebte es sich schwerer als im Krieg. Die Rationierungen gingen weiter, die »Schwarzmarktprofiteure« tauchten auf. Während meine Eltern darauf warteten, dass sie wieder einen Laden fanden, schob meine Mutter mich durch die von Trümmern gesäumten Straßen der zerstörten Innenstadt, nahm mich zum Beten mit in die Kapelle, die in einem Theater eingerichtet worden war, als Ersatz für die niedergebrannte Kirche. Mein Vater ging arbeiten, er füllte Bombenkrater auf, sie wohnten in einer Zweizimmerwohnung ohne Strom, in der ihre auseinandergebauten Möbel an den Wänden lehnten.
Drei Monate später lebte meine Mutter wieder auf, als Inhaberin eines Lebensmittelladens mit Kneipe in einem ländlich geprägten Viertel abseits der Innenstadt, das vom Krieg verschont geblieben war. Nur eine winzige Küche und im ersten Stock ein Zimmer und zwei Mansarden, um essen und schlafen zu können, ohne den Blicken der Gäste ausgesetzt zu sein. Dafür ein großer Hof, mehrere Schuppen zur Lagerung von Brennholz, Heu und Stroh, eine Obstpresse und vor allem eine Kundschaft, die fast immer bar bezahlte. Neben der Arbeit in der Kneipe baute mein Vater Gemüse an, züchtete Hühner und Kaninchen, stellte Cidre her, den wir verkauften. Nach zwanzig Jahren als Arbeiter kehrte er zu einer beinahe bäuerlichen Lebensweise zurück. Sie kümmerte sich um den Lebensmittelladen, die Bestellungen und Abrechnungen, herrschte über das Geld. Nach und nach erreichten sie eine bessere Situation als die der Arbeiter in der Nachbarschaft, zum Beispiel konnten sie das Haus kaufen, in dem sich der Laden und die Kneipe befanden, und das einstöckige Nebengebäude dazu.
In den ersten Jahren kamen an Feiertagen ehemalige Kunden aus Lillebonne zu Besuch, ganze Busladungen von Familien. Man lag sich weinend in den Armen. Die Tische in der Kneipe wurden zusammengeschoben, man aß, sang, erinnerte sich an die deutsche Besatzung. Anfang der Fünfzigerjahre hörten die Besuche auf. Meine Mutter sagte: »Das ist Vergangenheit, man muss nach vorne blicken.«
Bilder von ihr, zwischen vierzig und sechsundvierzig Jahren: an einem Wintermorgen wagte sie es, in meine Klasse zu kommen und von der Lehrerin zu fordern, man solle nach meinem Wollschal suchen, den ich auf der Toilette vergessen hatte und der sehr teuer gewesen war (ich erinnerte mich noch lange an den Preis).
in einem Sommer sammelte sie am Strand von Veules-les-Roses mit einer jüngeren Schwägerin Miesmuscheln. Ihr Kleid, lila mit schwarzen Streifen, war gerafft und vorne zusammengeknotet. Mehrmals gingen die beiden in ein Café, das in einer Baracke am Strand untergebracht war, um ein Gläschen zu trinken und ein Stück Kuchen zu essen, sie lachten die ganze Zeit.
in der Kirche sang sie inbrünstig das Marienlied J'irai la voir un jour, au ciel, au ciel (»eines Tages werde ich sie im Himmel besuchen«). Mir war zum Weinen zumute, ich hasste sie.
sie besaß farbenfrohe Kleider und ein schwarzes Kostüm aus Strukturstoff, sie las Confidences und La Mode du Jour. Sie warf ihre blutigen Damenbinden auf dem Dachboden in eine Ecke und wusch sie erst am Dienstag, dem Waschtag.
wenn ich sie zu lange ansah, regte sie sich auf, »willst du mich kaufen?«.
am Sonntagnachmittag hielt sie in Unterkleid und Strümpfen Mittagsschlaf. Ich durfte zu ihr ins Bett kriechen. Sie schlief schnell ein, ich las, an ihren Rücken geschmiegt.
bei einem Kommunionsessen war sie betrunken und musste sich neben mir übergeben. Von da an überwachte ich bei jedem Fest ihren auf dem Tisch ausgestreckten Arm, der das Glas hielt, inständig hoffend, dass sie es nicht anhob.
Sie war sehr dick geworden, neunundachtzig Kilo. Sie aß viel und hatte immer Zuckerstücke in der Kitteltasche. Um abzunehmen, besorgte sie sich in einer Apotheke in Rouen Pillen, hinter dem Rücken meines Vaters. Sie verzichtete auf Brot und Butter, verlor aber nur zehn Kilo.
Sie schlug mit Türen, polterte mit den Stühlen, wenn sie sie auf die Tische hob, um den Boden zu fegen. Alles was sie tat, war laut. Sie stellte die Dinge nicht ab, sondern schmiss sie regelrecht hin.
Man sah es ihr sofort an, wenn ihr etwas nicht passte. Innerhalb der Familie sagte sie mit harten Worten, was sie dachte. Sie nannte mich Frechdachs, Schmutzfink, kleines Biest oder schlicht »Nervensäge«. Sie schlug mich wegen Kleinigkeiten, hauptsächlich Ohrfeigen, manchmal auch Faustschläge gegen die Schulter (»Ich hätte sie umgebracht, wenn ich mich nicht zurückgehalten hätte!«). Fünf Minuten später drückte sie mich an sich, ich war wieder ihr »Püppchen«.
Sie schenkte mir zu jedem Anlass Spielsachen und Bücher, Familienfeiern, Krankheiten, Ausflüge in die Stadt. Sie ging mit mir zum Zahnarzt, zum Lungenspezialisten, kaufte mir gute Schuhe und warme Kleider und alle Schulsachen, die die Lehrerin vorschrieb (sie hatte mich aufs Pensionat geschickt, nicht auf die städtische Schule). Wenn ich zum Beispiel erwähnte, dass eine Klassenkameradin eine unzerbrechliche Schiefertafel hatte, fragte sie sofort, ob ich auch eine wolle: »Ich möchte nicht, dass es heißt, du hättest es schlechter als andere.« Ihr größter Wunsch war es, mir alles zu geben, was sie selbst nicht gehabt hatte. Doch das bedeutete für sie so viel Arbeit, so viele Geldsorgen und ein so neues Bemühen um das Glück des Kindes im Vergleich zu dem, was früher in der Erziehung üblich gewesen war, dass sie es sich nicht verkneifen konnte zu bemerken: »Du kostest uns ganz schön viel Geld« und »du hast so viel und bist trotzdem nie zufrieden«.
Ich versuche, die Wut, die überschwängliche Liebe und die Vorwürfe meiner Mutter nicht nur als individuelle Charakterzüge zu betrachten, sondern sie in ihrer Lebensgeschichte und ihrer gesellschaftlichen Stellung zu verorten. Diese Form des Schreibens, die mir in die Richtung der Wahrheit zu gehen scheint, hilft mir, aus der Einsamkeit und Dunkelheit der individuellen Erinnerung herauszutreten, indem ich nach einer allgemeineren Bedeutung suche. Aber ich spüre, wie sich etwas in mir dagegen sträubt, etwas, das sich reine Gefühlsbilder meiner Mutter bewahren möchte, Wärme oder Tränen, ohne ihnen einen Sinn zu geben.
Meine Mutter war Verkäuferin, das heißt, sie gehörte zuallererst der Kundschaft, der wir unseren »Lebensunterhalt« verdankten. Ich durfte sie nicht stören, wenn sie bediente (hinter der Tür warten, die den Laden von der Küche trennte, um sie um Stickgarn zu bitten oder zu fragen, ob ich draußen spielen durfte, etc.). Wenn sie zu viel Lärm hörte, tauchte sie auf, gab mir wortlos eine Ohrfeige, ging zurück in den Laden. Sehr früh brachte sie mir bei, ihre Regeln im Umgang mit den Kunden einzuhalten – mit klarer Stimme grüßen, nicht in ihrer Gegenwart essen oder streiten, niemanden kritisieren – und immer misstrauisch sein, niemals glauben, was sie erzählen, sie nicht aus den Augen lassen, wenn sie allein im Laden sind. Sie hatte zwei Gesichter, eins für die Kundschaft, eins für uns. Wenn die Ladenglocke läutete, betrat sie lächelnd die Bühne und stellte mit geduldiger Stimme die rituellen Fragen nach der Gesundheit, den Kindern, dem Garten. Zurück in der Küche verschwand das Lächeln, und sie stand einen Moment lang schweigend da, erschöpft von einer Rolle, die sie gleichzeitig mit Freude und Bitterkeit erfüllte, weil sie sich für Menschen abrackerte, denen sie unterstellte, sie könnten jederzeit wegbleiben, wenn sie »woanders etwas billiger fanden«.
Sie war eine Mutter, die alle kannten, quasi eine öffentliche Mutter. Im Pensionat, wenn ich an die Tafel geschickt wurde: »Wenn Ihre Frau Mutter zehn Päckchen Kaffee zu dem und dem Preis verkauft« und so weiter (natürlich nie das andere, genauso reale Beispiel, »wenn Ihre Frau Mutter drei Aperitifs zu dem und dem Preis serviert«).
Sie hatte nie Zeit, weder zum Kochen noch dazu, den Haushalt so zu führen, »wie es sich gehört«, der mir fehlende Knopf wurde morgens vor der Schule schnell noch angenäht, die Bluse auf einer Ecke des Küchentischs gebügelt, bevor sie sie anzog. Um fünf Uhr morgens schrubbte sie Kacheln und packte Waren aus, im Sommer jätete sie die Rosenbeete, bevor sie den Laden aufschloss. Sie arbeitete mit Schnelligkeit und Kraft und zog ihren größten Stolz aus den schwersten Arbeiten, über die sie trotzdem laut schimpfte, Bettwäsche waschen, die Dielen im Schlafzimmer mit Stahlwolle schrubben. Es war ihr unmöglich, sich auszuruhen oder zu lesen, ohne sich zu rechtfertigen, »jetzt habe ich mir aber wirklich ein Päuschen verdient« (und dennoch versteckte sie, sobald eine Kundin den Laden betrat, die Zeitung mit dem Fortsetzungsroman unter einem Haufen auszubessernder Wäsche). Die Streitigkeiten zwischen ihr und meinem Vater hatten nur ein Thema, wer von beiden mehr arbeitete. Sie beschwerte sich, »ich mache hier alles«.
Mein Vater las nur die Regionalzeitung. Er weigerte sich, Orte aufzusuchen, an denen er sich »fehl am Platz« fühlte, und sagte von vielen Dingen, das wäre nichts für ihn. Er liebte seinen Garten, Domino, Kartenspiele, Herumwerkeln. Er legte keinen Wert darauf, sich »gut auszudrücken« und benutzte weiter Redewendungen aus dem normannischen Dialekt. Meine Mutter hingegen war bemüht, fehlerfreies Französisch zu sprechen, und sagte nicht »mein Mann«, sondern »mein Gatte«. Hin und wieder ließ sie in einem Gespräch uns ungeläufige Ausdrücke fallen, die sie irgendwo gelesen oder sich bei der »besseren Gesellschaft« abgehört hatte. Zögern, sogar Erröten, weil sie Angst hatte, sie falsch zu gebrauchen, Gelächter meines Vaters, der sich über ihre »geschwollene Sprache« lustig machte. Fühlte sie sich sicherer, brachte sie die Ausdrücke bei jeder Gelegenheit an, und lächelte, wenn es sich um eine Redewendung handelte, die sie für poetisch hielt (»er trägt das Herz auf der Zunge«, »wir sind nur Besucher auf dieser Welt«), als wollte sie die Anmaßung herunterspielen, die ihr über die Lippen kam. Sie liebte »schöne« und »elegante« Kleider, die sie am liebsten im Printemps kaufte, weil das »schicker« war als die Nouvelles Galeries. Natürlich genauso beeindruckt wie er von den Teppichen und Gemälden in der Praxis des Augenarztes, aber immer bemüht, ihre Verlegenheit zu überwinden. Sie sagte oft: »Da hab ich mir einen Ruck gegeben« (dies oder jenes zu tun). Auf Bemerkungen meines Vaters zu einem neuen Kleidungsstück oder ihrem vor dem Ausgehen sorgfältig aufgetragenen Make-up erwiderte sie vehement: »Man muss doch standesgemäß auftreten!«
Sie wollte dazulernen: Verhaltensregeln (Angst, dagegen zu verstoßen, Zweifel, wie sie anzuwenden waren), was modern war, was es Neues gab, die Namen der großen Schriftsteller, welche Filme herauskamen (aber sie ging nie ins Kino, aus Zeitmangel), wie die Blumen im Garten hießen. Wenn andere über Dinge sprachen, von denen sie keine Ahnung hatte, hörte sie aufmerksam zu, aus Neugier und weil sie zeigen wollte, wie aufgeschlossen sie war. Der Aufstieg war für sie vor allem eine Frage von Bildung (sie sagte, »der Geist braucht Nahrung«), es gab nichts Schöneres als Wissen. Bücher waren die einzigen Dinge, mit denen sie behutsam umging. Sie wusch sich die Hände, bevor sie sie anfasste.
Sie lernte durch mich weiter dazu. Beim Abendessen erkundigte sie sich nach der Schule, dem Unterrichtsstoff, den Lehrern. Sie gebrauchte mit Vorliebe meine Wörter: »große Pause«, »Franz«, »Gymi«. Sie fand es normal, dass ich sie »verbesserte«, wenn sie ein Wort »falsch gebrauchte«. Nach der Schule fragte sie nicht mehr, ob ich »einen Happen essen«, sondern ob ich »eine Kleinigkeit zu mir nehmen« wolle. Sie fuhr mit mir nach Rouen, wo wir historische Bauwerke besichtigten und ins Museum gingen, und nach Villequiers zum Familiengrab von Victor Hugo. Immer bereit, alles zu bewundern. Sie las dieselben Bücher wie ich, Empfehlungen des Buchhändlers. Manchmal blätterte sie auch im Hérisson, den ein Gast liegen gelassen hatte, lachend: »So was Albernes, aber man liest es trotzdem!« (Vielleicht ging sie nicht so sehr deswegen mit mir ins Museum, weil sie sich selbst an den ägyptischen Vasen erfreute, sondern weil sie stolz darauf war, mich an Dinge heranzuführen, von denen sie wusste, dass sie dem Geschmack und den Interessen gebildeter Menschen entsprachen. Die Steingräber in der Kathedrale, die Romane von Dickens und Daudet statt Confidences, die sie irgendwann abbestellte, das alles sollte eher mich glücklich machen als sie.)
Ich hielt sie meinem Vater gegenüber für überlegen, weil sie meinen Lehrern ähnlicher zu sein schien als er. Ihre Strenge, ihre Wünsche, ihr Ehrgeiz, so vieles an ihr war wie in der Schule. Zwischen uns gab es ein heimliches Einverständnis, gemeinsame Lektüren, Gedichte, die ich für sie aufsagte, Kuchenessen in einem Café in Rouen, alles Dinge, von denen er ausgeschlossen war. Er ging mit mir auf den Jahrmarkt, in den Zirkus, in Filme mit Fernandel, er brachte mir Radfahren bei und welches Gemüse im Garten wuchs. Mit ihm hatte ich Spaß, mit ihr »unterhielt ich mich«. Sie war die dominante Figur, das Gesetz.
Als sie auf die fünfzig zugeht, verkrampftere Bilder von ihr. Weiterhin lebhaft und stark, großzügig, mit blondem oder rotem Haar, aber jetzt immer öfter mit missmutiger Miene, wenn sie nicht mehr für die Kundschaft lächeln musste. Die Tendenz, einen nichtigen Vorfall oder eine dahingesagte Bemerkung zum Anlass zu nehmen, sich über ihre Lebensumstände zu beschweren (ihr kleiner Stadtteilladen wurde von den neuen Geschäften der wiederaufgebauten Innenstadt bedroht), sich mit ihren Geschwistern zu streiten. Nach dem Tod meiner Großmutter trug sie lange Trauer und machte es sich zur Gewohnheit, unter der Woche zur Frühmesse zu gehen. Etwas »Romanhaftes« in ihr war erloschen.
1952. Der Sommer, in dem sie sechsundvierzig wurde. Wir machen einen Tagesausflug mit dem Bus nach Étretat. Sie läuft durchs hohe Gras, erklimmt die Kreidefelsen in ihrem blauen Kreppkleid mit dem großen Blumenmuster, sie hat es sich hinter einem Felsen angezogen, anstelle des schwarzen Trauerkostüms, das sie bei der Abfahrt getragen hat, wegen der Nachbarn. Sie erreicht die Steilküste nach mir, außer Atem, das Gesicht schweißglänzend trotz des Puders. Zwei Monate zuvor hatte sie zum letzten Mal ihre Regel.
In meiner Jugend begann ich mich von ihr zu lösen, und zwischen uns beiden gab es nur noch Kampf.
In der Welt, in der sie groß geworden war, hatte sich die Frage nach den Freiheiten eines Mädchens nicht gestellt, und wenn, dann nur in einem Vokabular der Verdammnis. Über Sexualität sprach man ausschließlich in anzüglichen Bemerkungen, die nicht für »junge Ohren« bestimmt waren, oder im Sinne eines moralischen Urteils, anständig oder unanständig. Sie hat nie mit mir darüber geredet, und ich hätte nie gewagt, sie danach zu fragen, Neugier galt als der Anfang allen Lasters. Meine Angst, als ich ihr erzählen musste, dass ich meine Regel bekommen hatte, das Wort zum ersten Mal ihr gegenüber aussprechen, die Röte auf ihren Wangen, als sie mir wortlos eine Monatsbinde hinhält, ohne mir zu erklären, wie man sie benutzt.
Es gefiel ihr nicht, dass ich erwachsen wurde. Wenn sie mich unbekleidet sah, schien mein Körper sie anzuwidern. Zweifellos stellten meine Brüste und Hüften die Gefahr dar, dass ich Jungen hinterherlief und mich nicht mehr für die Schule interessierte. Sie wollte, dass ich ein Kind blieb, sagte eine Woche vor meinem vierzehnten Geburtstag, ich sei dreizehn, zwang mich, Faltenröcke, weiße Söckchen und flache Schuhe zu tragen. Bis zu meinem achtzehnten Geburtstag drehten sich fast alle unsere Streitigkeiten um das Verbot, abends auszugehen, oder um meine Kleiderwahl (zum Beispiel ihren wiederholt geäußerten Wunsch, ich solle außer Haus einen Hüfthalter tragen, »dann wärst du besser angezogen«). Bei diesem Thema steigerte sie sich in eine scheinbar unverhältnismäßige Wut hinein, »in diesem Aufzug gehst du AUF KEINEN FALL vor die Tür« (in diesem Kleid, mit dieser Frisur etc.), die mir damals aber normal vorkam. Wir wussten beide, woran wir bei der anderen waren, sie, dass ich den Jungen gefallen wollte, ich, dass sie panische Angst hatte, mir könnte »ein Unglück« passieren, sprich, ich würde mit dem Erstbesten schlafen und schwanger werden.
Manchmal stellte ich mir vor, dass mir ihr Tod nichts ausmachen würde.
Beim Schreiben sehe ich mal die »gute«, mal die »schlechte« Mutter vor mir. Um diesem Hin und Her zu entkommen, das tief in meine Kindheit zurückreicht, versuche ich die Dinge so zu beschreiben und zu erklären, als würde es sich um eine andere Mutter handeln und um eine Tochter, die nicht ich ist. Also schreibe ich so neutral wie möglich, auch wenn manche Sätze (»hoffentlich passiert dir kein Unglück!«) für mich alles andere als neutral sind, im Unterschied zu anderen, abstrakteren (»eine Ablehnung des Körpers und der Sexualität« zum Beispiel). Wenn ich mich an diese Sätze erinnere, überkommt mich dasselbe Gefühl der Mutlosigkeit wie mit sechzehn, und flüchtig verwechsle ich die Frau, die mein Leben am stärksten geprägt hat, mit afrikanischen Müttern, die ihren Töchtern die Arme auf dem Rücken festhalten, während eine Beschneiderin die Klitoris entfernt.
Sie hörte auf, mein Idol zu sein. Ich wurde empfänglich für das Frauenbild, das Zeitschriften wie L'Écho de la Mode vermittelten und dem die Mütter meiner kleinbürgerlichen Klassenkameradinnen auf dem Pensionat nahekamen: schlanke, zurückhaltende Frauen, die kochen konnten und ihre Töchter »Schätzchen« nannten. Ich fand, meine Mutter nahm zu viel Raum ein. Ich sah weg, wenn sie sich eine Flasche zum Entkorken zwischen die Beine klemmte. Ich schämte mich für ihren barschen Ton und ihr forsches Auftreten, umso mehr, als ich ahnte, wie ähnlich ich ihr war. Ich warf ihr vor, so zu sein, wie ich, die ich dabei war, in ein anderes Milieu zu wechseln, nicht mehr sein wollte. Und ich begriff, dass zwischen dem Wunsch nach Bildung und tatsächlicher Bildung Welten lagen. Meine Mutter musste im Lexikon nachschlagen, wer van Gogh war, und von den großen Schriftstellern kannte sie nur den Namen. Sie verstand meine Schullaufbahn nicht. Ich hatte sie vorher zu sehr bewundert, um ihr jetzt nicht übel zu nehmen, mehr noch als meinem Vater, dass sie mich nicht unterstützen konnte, dass sie mich in der Welt der Schule und der Freundinnen mit Bibliothek im Wohnzimmer allein ließ, dass sie mir nur ihre Ängste und ihr Misstrauen mitgeben konnte, »mit wem warst du unterwegs, machst du wenigstens deine Hausaufgaben?«.
Wenn wir miteinander sprachen, war der Tonfall jetzt immer streitsüchtig. Ich begegnete den Versuchen, unsere alte, unmöglich gewordene Vertrautheit wiederherzustellen (»seiner Mutter kann man doch alles sagen«), mit Schweigen: wenn ich von Sehnsüchten erzählte, die nichts mit der Schule zu tun hatten (Reisen, Sport, Partys), oder über Politik diskutieren wollte (den Algerienkrieg), hörte sie mir erst gern zu, glücklich, dass ich sie ins Vertrauen zog, nur um mich dann plötzlich anzuherrschen: »Schluss damit. Das steigt dir nur zu Kopf. Die Schule geht vor!«
Ich begann, gesellschaftliche Konventionen, religiöse Praktiken und Geld zu verachten. Ich schrieb Gedichte von Rimbaud und Prévert ab, klebte Fotos von James Dean auf meine Schulhefte, hörte Brassens' La mauvaise réputation, langweilte mich. Ich lebte meine jugendliche Rebellion auf romantische Weise aus, als würden meine Eltern dem Bürgertum angehören. Ich identifizierte mich mit unverstandenen Künstlern. Für meine Mutter hatte die Rebellion nur einen einzigen Zweck gehabt, der Armut entkommen, und nur eine einzige Form, arbeiten und Geld verdienen, damit man es genauso gut hatte wie andere. Daher der bittere Vorwurf, den ich nicht begriff, genauso wenig, wie sie mein Verhalten verstand: »Wenn wir dich mit zwölf in die Fabrik geschickt hätten, wärst du jetzt nicht so. Du weißt gar nicht, wie gut du es hast.« Und auch die wütende Bemerkung, die sie oft machte: »Da geht sie schon aufs Pensionat und taugt trotzdem nicht mehr als andere.«
Manchmal stand ihr in Gestalt ihrer Tochter der Klassenfeind gegenüber.
Ich träumte nur noch davon wegzuziehen. Sie willigte ein, mich aufs Gymnasium nach Rouen gehen zu lassen, später nach London. Zu jedem Opfer bereit, damit ich ein besseres Leben hatte als sie, selbst dem größten, der Trennung von ihr. Fernab ihres Blicks stieg ich in den Abgrund dessen hinab, was sie mir verboten hatte, stopfte mich anschließend erst mit Essen voll und nahm dann wochenlang gar nichts zu mir, bis zur Benommenheit, bis ich lernte, frei zu sein. Ich vergaß unsere Konflikte. Als Studentin an der geisteswissenschaftlichen Fakultät hatte ich ein geschöntes Bild von ihr, ohne Geschrei und Wutausbrüche. Ich war mir ihrer Liebe und folgender Ungerechtigkeit sicher: sie verkaufte von morgens bis abends Kartoffeln und Milch, damit ich in einer Vorlesung über Platon sitzen konnte.
Ich freute mich, sie wiederzusehen, ich vermisste sie nicht. Ich suchte vor allem dann ihre Nähe, wenn ich Liebeskummer hatte, von dem ich ihr nicht erzählen konnte, obwohl sie mir inzwischen flüsternd anvertraute, wer in der Nachbarschaft mit wem ein Verhältnis und wer eine Fehlgeburt gehabt hatte: Es galt quasi als abgemacht, dass ich alt genug war, solche Dinge zu hören, dass sie mich aber nie selbst betreffen würden.
Wenn ich ankam, stand sie hinter der Theke. Die Kundinnen drehten sich um. Sie errötete leicht und lächelte. Wir umarmten uns erst in der Küche, nachdem die letzte Kundin gegangen war. Fragen nach der Fahrt, dem Studium, »leg mir deine Sachen zum Waschen raus«, »ich habe dir alle Zeitungen aufgehoben«. Liebenswürdigkeit, fast schon Befangenheit, wie das so ist, wenn man nicht mehr zusammenlebt. Jahrelang bestand unsere Beziehung nur aus diesen Momenten der Rückkehr.
Mein Vater war am Magen operiert worden. Er ermüdete schnell und hatte nicht mehr die Kraft, schwere Kisten zu heben. Sie übernahm das und arbeitete für zwei, ohne zu klagen, fast mit Genugtuung. Seit ich nicht mehr da war, stritten die beiden seltener, sie näherte sich ihm wieder an, nannte ihn oft zärtlich »Väterchen« und war nachsichtiger, was seine Gewohnheiten anging, Rauchen zum Beispiel, »man muss sich doch auch mal was gönnen«. Im Sommer fuhren sie sonntags mit dem Auto raus aufs Land oder besuchten einen Cousin, eine Cousine. Im Winter ging meine Mutter zur Abendmesse und unterhielt sich anschließend mit alten Leuten. Auf dem Nachhauseweg durchquerte sie die Innenstadt und blieb in einer Ladenpassage, wo sich die Jugendlichen nach dem Kino versammelten, vor einem Fernseher stehen.
Die Kunden sagten weiterhin, sie sei eine schöne Frau. Immer noch mit gefärbtem Haar und hohen Absätzen, jetzt aber mit Flaum am Kinn, den sie heimlich absengte, und Bifokalbrille. (Belustigung und stille Schadenfreude meines Vaters, der darin eine ausgleichende Gerechtigkeit für ihren Altersunterschied sah.) Sie trug keine leichten Kleider in leuchtenden Farben mehr, sondern nur noch graue oder schwarze Kostüme, selbst im Sommer. Um es bequemer zu haben, steckte sie die Bluse nicht in den Rock.
Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr dachte ich, ich sei schuld daran, dass sie alterte.
Niemand weiß, dass ich über sie schreibe. Ich schreibe auch nicht über sie, vielmehr habe ich den Eindruck, mit ihr zusammen an Orten und in einer Zeit zu sein, in der sie noch lebt. Manchmal stoße ich im Haus auf Dinge, die ihr gehört haben, vorgestern auf ihren Fingerhut, den sie immer auf die Kuppe ihres gekrümmten Zeigefingers, der in der Seilerei in eine Maschine geraten war, gesetzt hatte. Sogleich überwältigt mich das Gefühl, dass sie tot ist, und ich bin wieder in der realen Zeit, in der sie nie mehr sein wird. Unter diesen Umständen bedeutete »ein Buch veröffentlichen« nichts, außer den endgültigen Tod meiner Mutter. Das Bedürfnis, alle zu beschimpfen, die mich lächelnd fragen: »Wann kommt denn Ihr nächstes Buch?«
Auch wenn ich nicht mehr zu Hause wohnte, gehörte ich, solange ich unverheiratet war, ihr. Wenn Verwandte und Kunden nach mir fragten, antwortete sie: »Zum Heiraten hat sie noch Zeit. In ihrem Alter ist nichts verloren«, nur um sogleich hinzuzufügen, »ich will sie nicht bei mir behalten. Mann und Kinder, das gehört zum Leben dazu.« Sie lief rot an und begann zu zittern, als ich ihr in einem Sommer erzählte, dass ich einen Studenten der Politikwissenschaften aus Bordeaux heiraten wolle, suchte nach Gründen, die dagegensprachen, fand zurück zu einem bäuerlichen Misstrauen, das sie eigentlich für rückständig hielt: »Aber er kommt nicht von hier.« Später ruhiger, sogar erfreut, dass die Leute in der Kleinstadt, in der die Ehe ein wesentliches Kriterium zur Einordnung von Menschen ist, nicht sagen konnten, ich hätte »einen Arbeiter genommen«. Eine neue Vertrautheit vereinte uns um den Kauf des Bestecks und des Kochtopfsets, die Vorbereitungen für den »großen Tag«, später um die Kinder. Eine andere würde es zwischen uns nicht mehr geben.
Mein Mann und ich hatten dasselbe Bildungsniveau, wir diskutierten über Sartre und die Freiheit, sahen uns Antonionis Die mit der Liebe spielen im Kino an, vertraten dieselben linken Ansichten, stammten nicht aus derselben Welt. In seiner war man nicht unbedingt reich, aber man hatte studiert, hatte zu jedem Thema etwas Kluges zu sagen, spielte Bridge. Die Mutter meines Mannes, genauso alt wie meine, hatte einen schlank gebliebenen Körper, ein glattes Gesicht, gepflegte Hände. Sie konnte jedes Klavierstück vom Blatt spielen und war eine »gute Gastgeberin« (der Typ Frau, den man in Boulevardstücken im Fernsehen sieht, um die fünfzig, mit Perlenkette und Seidenbluse, »herrlich naiv«).
Angesichts dieser Welt war meine Mutter hin- und hergerissen zwischen der Bewunderung, die die guten Manieren, die Eleganz und die Bildung ihr einflößten, dem Stolz, dass ihre Tochter dazugehörte, und der Angst, dass man hinter der Fassade ausgesuchter Höflichkeit auf sie herabblickte. Das ganze Ausmaß ihres Gefühls der Unwürdigkeit, von dem sie mich nicht ausnahm (vielleicht brauchte es noch eine weitere Generation, um dieses Gefühl loszuwerden), in dem Satz, den sie am Tag vor meiner Hochzeit zu mir sagte: »Versuch, deinen Haushalt gut zu führen, damit er dich nicht rauswirft.« Und vor ein paar Jahren über meine Schwiegermutter: »Man merkt gleich, dass sie aus anderen Verhältnissen stammt als wir.«
Aus Angst, nicht um ihrer selbst willen geliebt zu werden, hoffte sie, für das geliebt zu werden, was sie uns gab. Sie wollte uns in unserem letzten Studienjahr unbedingt finanziell unterstützen und fragte immer beflissen, worüber wir uns freuen würden. Die Eltern meines Mannes waren humorvoll und originell, sie fühlten sich zu nichts verpflichtet.
Wir zogen erst nach Bordeaux, dann nach Annecy, wo mein Mann einen Posten in der Stadtverwaltung bekommen hatte. Zwischen dem Unterrichten an einem vierzig Kilometer entfernten Gymnasium in den Bergen, einem Kind und der Küche wurde auch ich zu einer Frau, die nie Zeit hat. Ich dachte kaum an meine Mutter, sie war genauso weit weg wie mein Leben vor der Hochzeit. Ich antwortete kurz auf die alle vierzehn Tage eintreffenden Briefe, die mit »meine lieben Kinder« begannen und in denen sie ständig bedauerte, zu weit weg zu sein, um uns zu helfen. Einmal im Jahr fuhr ich sie für ein paar Tage im Sommer besuchen. Ich beschrieb ihr Annecy, die Wohnung, die Skistationen. Sie war sich mit meinem Vater einig, »ihr habt es gut, das ist die Hauptsache«. Unter vier Augen schien sie zu hoffen, dass ich ihr private Dinge über meinen Mann und unsere Ehe erzählte, und wirkte enttäuscht, weil sie wegen meines Schweigens die Frage, die sie vermutlich mehr als alles andere beschäftigte, nicht beantworten konnte, »macht er sie wenigstens glücklich?«.
1967 starb mein Vater innerhalb von vier Tagen an einem Infarkt. Diese Zeit kann ich nicht beschreiben, weil ich das bereits in einem anderen Buch getan habe, was bedeutet, dass niemals eine andere Erzählung möglich sein wird, mit anderen Worten, einer anderen Reihenfolge der Sätze. Nur sagen, dass ich vor mir sehe, wie meine Mutter nach dem Tod meines Vaters sein Gesicht wusch, ihm ein sauberes Hemd und den Sonntagsanzug anzog. Dabei redete sie beruhigend auf ihn ein wie auf ein Kleinkind, das man badet und ins Bett bringt. Angesichts dieser einfachen, präzisen Handgriffe dachte ich, dass sie immer gewusst hatte, dass er vor ihr sterben würde. In der ersten Nacht legte sie sich noch einmal neben ihn ins Bett. Bis die Angestellten des Bestattungsinstituts ihn abholen kamen, ging sie zwischen zwei Kunden zu ihm nach oben, so wie sie es auch während seiner viertägigen Krankheit getan hatte.
Nach der Beerdigung wirkte sie matt und traurig, sie sagte zu mir: »Es ist schwer, seinen Gefährten zu verlieren.« Sie führte den Laden und die Kneipe weiter. (Vor Kurzem las ich in einer Zeitung, »Verzweiflung ist ein Luxus«. Dass ich die Muße und das Geld habe, nach dem Tod meiner Mutter dieses Buch zu schreiben, ist zweifellos auch ein Luxus.)
Sie sah ihre Verwandten jetzt öfter, unterhielt sich im Laden stundenlang mit jungen Frauen und schloss die Kneipe, die mittlerweile stärker von der Jugend frequentiert wurde, später als sonst. Sie aß viel, nahm wieder zu und war redselig, mit einer Neigung, sich anderen anzuvertrauen wie ein junges Mädchen, geschmeichelt erzählte sie mir, zwei Witwer hätten sich für sie interessiert. Im Mai 68, am Telefon: »Selbst hier bewegt sich was, es bewegt sich was!« Dann im folgenden Sommer für die Wiederherstellung der Ordnung (und später empört, dass Linke in Paris den Feinkostladen Fauchon verwüstet hatten, den sie sich ähnlich wie ihren Laden vorstellte, nur größer).
In ihren Briefen versicherte sie mir, für Langeweile habe sie keine Zeit. Aber im Grunde hatte sie nur eine Hoffnung, mit mir zusammenleben. Eines Tages, schüchtern: »Wenn ich zu dir ziehen würde, könnte ich dir den Haushalt machen.«
Wenn ich in Annecy an sie dachte, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Wir wohnten in einem »großen bürgerlichen Haus«, wir bekamen ein zweites Kind: sie »hatte nichts davon«. Ich stellte sie mir mit ihren Enkeln vor, in einem komfortablen Leben, das ihr vermutlich gefallen hätte, weil sie es für mich gewollt hatte. 1970 verkaufte sie den Lebensmittelladen als Wohnhaus, weil sie keinen Käufer für das Geschäft gefunden hatte, und zog zu uns.
Es war ein milder Januartag. Sie traf am Nachmittag ein, mit dem Umzugswagen, während ich in der Schule war. Als ich nach Hause kam, fand ich sie im Garten, sie hatte ihren einjährigen Enkel auf dem Arm und überwachte den Transport der Möbel und Umzugskartons voller Konservendosen, den Resten des Ladenbestands. Ihr Haar war vollkommen weiß, sie lachte, sprühte vor Vitalität. Von Weitem rief sie mir zu: »Nur keine Eile!« Mit einem Mal dachte ich deprimiert, »von jetzt an werde ich immer vor ihren Augen leben«.
Anfangs war sie weniger glücklicher als erwartet. Von heute auf morgen war ihr Leben als Ladeninhaberin vorbei, die Angst vor den Rechnungen, die Erschöpfung, aber auch das Kommen und Gehen und die Gespräche mit der Kundschaft, der Stolz, »sein eigenes Geld zu verdienen«. Jetzt war sie nur noch »Großmutter«, niemand in der Stadt kannte sie, und zum Reden hatte sie nur uns. Schlagartig war ihr Universum trist und eng, sie fühlte sich wie ein Nichts.
Dazu: bei der Tochter und dem Schwiegersohn zu leben, bedeutete, an einer Lebensweise teilzuhaben, auf die sie stolz war (zu den Verwandten: »Die beiden leben in sehr guten Verhältnissen!«). Es bedeutete aber auch, die nassen Geschirrtücher nicht auf der Heizung im Flur zu trocknen, im Umgang mit den Dingen »aufzupassen« (Schallplatten, Kristallvasen), auf »Hygiene« zu achten (den Kindern nicht mit dem eigenen Taschentuch die Nase putzen). Merken, dass dem, was ihr wichtig war, keine Bedeutung beigemessen wird, Lokalnachrichten, Verbrechen, Unfälle, ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn, ständig Angst, anderen »zur Last zu fallen« (dass sogar über diese Sorgen gelacht wurde, was sie schockierte). Es bedeutete, in einer Welt zu leben, die sie einerseits aufnahm, andererseits ausgrenzte. Eines Tages, wütend: »Ich passe hier nicht ins Bild.«
Also ging sie nicht ans Telefon, selbst wenn es neben ihr klingelte, klopfte demonstrativ an, bevor sie das Wohnzimmer betrat, wo ihr Schwiegersohn sich im Fernsehen ein Fußballspiel ansah, verlangte andauernd nach Arbeit, »wenn ihr mir nichts zu tun gebt, bleibt mir nichts anderes übrig, als wieder zu gehen«, und mit einem halbherzigen Lachen, »ich muss mir schließlich meine Stellung verdienen!«. Wegen dieser Einstellung gab es Streit zwischen uns, ich warf ihr vor, sich absichtlich zu erniedrigen. Es dauerte, bis ich begriff, dass meine Mutter in meinem Haus dasselbe Unbehagen empfand, das ich als Jugendliche in »besseren Kreisen« empfunden hatte (als wäre es nur an den »Schwächeren«, an Unterschieden zu leiden, die die anderen für irrelevant halten). Und dass sie, indem sie so tat, als verstehe sie sich als Hausangestellte, die reale kulturelle Überlegenheit der Tochter und des Schwiegersohns, die Le Monde lasen und Bach hörten, instinktiv zu einer imaginierten wirtschaftlichen Überlegenheit umdeutete, der Überlegenheit eines Chefs über seine Arbeiter: eine Form der Rebellion.
Sie lebte sich ein und fand eine Aufgabe, widmete ihre Energie und Begeisterung der Versorgung der Enkel, übernahm einen Teil des Haushalts. Sie hätte mich am liebsten von allen körperlichen Arbeiten befreit und bedauerte, dass sie mir das Einkaufen, Kochen und die Bedienung der Waschmaschine überlassen musste, vor der sie Angst hatte: sie wollte den einzigen Bereich, in dem sie Anerkennung fand und sich nützlich fühlte, mit niemandem teilen. Wie früher war sie die Art von Mutter, die jede Hilfe ablehnte, mit derselben Missbilligung, wenn sie mich mit den Händen arbeiten sah, »lass das, du hast Besseres zu tun« (als ich zehn Jahre alt war, für die Schule lernen, jetzt, meinen Unterricht vorbereiten und mich als Intellektuelle geben).
Wieder redeten wir in diesem ganz bestimmten Ton miteinander, einer Mischung aus Genervtheit und ewigem Vorwurf, der immer zu Unrecht den Eindruck erweckte, wir würden streiten, ein Ton zwischen Mutter und Tochter, den ich in jeder Sprache erkennen würde.
Sie liebte ihre Enkel und widmete sich ihnen hingebungsvoll. Nachmittags setzte sie den Jüngeren in den Kinderwagen und erkundete die Stadt. Sie besichtigte Kirchen, verbrachte Stunden auf dem Jahrmarkt, spazierte durch die Altstadt und kehrte erst im Dunkeln zurück. Im Sommer stieg sie mit beiden Kindern auf den Hügel von Annecy-le-Vieux, ging mit ihnen an den See, erfüllte sämtliche Wünsche nach Bonbons, Eis und Karussellfahrten. Auf Parkbänken machte sie die Bekanntschaft von Leuten, mit denen sie sich anschließend regelmäßig traf, unterhielt sich mit der Bäckerin in unserer Straße, erschuf sich von neuem ihre Welt.
Und sie las Le Monde und Le Nouvel Observateur, ging »zum Tee« zu einer Freundin (lachend, »ich mag gar keinen Tee, aber ich sage nichts!«), interessierte sich für Antiquitäten (»das ist bestimmt kostbar«). Ihr kam kein Schimpfwort mehr über die Lippen, sie bemühte sich, die Dinge »vorsichtig« anzufassen, sie »riss sich zusammen«, zügelte ihre Wut. War sogar stolz darauf, sich im Alter ein Wissen anzueignen, das bürgerliche Frauen ihrer Generation bereits in der Jugend beigebracht bekommen hatten, wie man für ein makelloses »Interieur« sorgt.
Sie trug jetzt nur noch helle Farben, nie mehr Schwarz.
Auf einem Foto vom September 1971 strahlt sie unter sehr weißem Haar, schlanker als vorher in einer Rodier-Bluse mit Arabesken. Sie hat ihren Enkeln, die vor ihr stehen, die Hände auf die Schultern gelegt. Es sind dieselben breiten Hände wie auf ihrem Hochzeitsfoto.
Mitte der siebziger Jahre folgte sie uns in einen Vorort von Paris, in eine im Bau befindliche Trabantenstadt, in der mein Mann einen höheren Posten bekommen hatte. Wir wohnten in einem Einfamilienhaus in einem Neubaugebiet, inmitten einer Ebene. Schulen und Geschäfte waren zwei Kilometer entfernt. Die Nachbarn sahen wir nur abends. Am Wochenende wuschen sie ihr Auto oder schraubten in der Garage Regale zusammen. Es war ein vager Ort, wo der Blick sich an nichts festhalten konnte und man den Eindruck hatte, ohne Gefühle und Gedanken im luftleeren Raum zu schweben.
Sie gewöhnte sich nicht daran, dort zu leben. Nachmittags ging sie durch leere Straßen mit Blumennamen spazieren, Rue des Roses, Rue des Jonquilles, Rue des Bleuets. Sie schrieb unzählige Briefe an Freundinnen in Annecy, an Verwandte. Manchmal wagte sie sich bis zum Centre Leclerc vor, dem riesigen Supermarkt jenseits der Autobahn, auf unbefestigten Straßen, vorbeifahrende Autos bespritzten sie mit Schlamm. Sie kam mit verschlossener Miene zurück. Es belastete sie, für jedes noch so kleine Bedürfnis, ein Paar Strümpfe, die Messe, den Friseur, auf mich und mein Auto angewiesen zu sein. Sie wurde reizbar und schimpfte, »man kann doch nicht immer nur lesen!«. Die neu angeschaffte Spülmaschine, die ihr eine Aufgabe wegnahm, war für sie beinahe eine Demütigung, »und was soll ich jetzt mit mir anfangen?«. In der Siedlung redete sie nur mit einer einzigen Nachbarin, einer Büroangestellten von den Antillen.
Nach sechs Monaten beschloss sie, nach Yvetot zurückzukehren. Sie bezog eine seniorengerechte Einzimmerwohnung im Erdgeschoss, in der Nähe der Innenstadt. Freude darüber, wieder unabhängig zu sein und Zeit mit ihrer jüngsten Schwester – die anderen Geschwister waren tot –, mit ehemaligen Kundinnen und verheirateten Nichten zu verbringen, die sie zu Familienfesten und Kommunionsfeiern einluden. Sie lieh sich in der Stadtbibliothek Bücher aus, unternahm im Oktober eine von der Diözese organisierte Wallfahrt nach Lourdes. Aber nach und nach auch die unvermeidliche Monotonie eines Lebens ohne Arbeit, der Ärger darüber, dass alle Nachbarn alte Leute waren (ihre vehemente Weigerung, an den Aktivitäten des »Seniorenclubs« teilzunehmen), und zweifellos eine heimliche Unzufriedenheit: die Leute in der Stadt, in der sie fünfzig Jahre lang gelebt hatte, würden niemals mit eigenen Augen sehen, wie erfolgreich die Tochter und der Schwiegersohn waren, dabei waren sie die Einzigen, denen sie es hätte vorführen wollen.
Das Einzimmerapartment würde ihre letzte eigene Wohnung sein. Ein etwas dunkles Zimmer mit Kochecke, das auf ein Gärtchen hinausging, eine Nische für Bett und Nachttisch, ein Badezimmer, eine Gegensprechanlage, um mit der Pförtnerin der Seniorenresidenz sprechen zu können. Der Raum verkürzte alle Bewegungen, in ihm gab es nichts zu tun, als dazusitzen, fernzusehen und darauf zu warten, dass es Zeit fürs Abendessen war. Jedes Mal, wenn ich zu Besuch kam, sah sie sich um und sagte: »Ich kann ja nicht klagen.« Auf mich wirkte sie viel zu jung, um dort zu leben.
Wir saßen einander gegenüber, aßen zu Mittag. Erst hatten wir uns viel zu sagen, die Gesundheit, die Schulnoten der Jungs, die neu eröffneten Geschäfte, der Urlaub, wir fielen einander ins Wort, aber schon bald, Stille. Wie gewöhnlich versuchte sie, das Gespräch wieder in Gang zu bringen, »was soll ich sagen …«. Einmal dachte ich, »diese Wohnung ist der einzige Ort seit meiner Geburt, an dem meine Mutter ohne mich gelebt hat«. Wenn ich mich verabschieden wollte, holte sie ein Schreiben hervor, das ich ihr erklären sollte, oder suchte überall nach einem Zeitschriftenartikel mit einem Schönheits- oder Haushaltstipp, den sie für mich aufbewahrt hatte.
Ich ging nicht gern zu ihr, mir war es lieber, wenn sie zu uns kam: es fiel mir leichter, sie vierzehn Tage lang in unseren Alltag zu integrieren, als drei Stunden an ihrem Leben teilzunehmen, in dem nichts mehr passierte. Sobald ich sie einlud, stieg sie in den Zug. Wir hatten die Neubausiedlung verlassen und waren in das an den Vorort grenzende alte Dorf gezogen. Hier gefiel es ihr. Sie erschien auf dem Bahnsteig, oft im roten Kostüm, mit ihrem Koffer in der Hand, den ich ihr auf keinen Fall abnehmen durfte. Kaum war sie angekommen, jätete sie die Blumenbeete. Im Departement Nièvre, wo sie in den Sommerferien einen Monat mit uns Urlaub machte, lief sie allein die Feldwege entlang, kam mit mehreren Kilo Brombeeren und zerkratzten Beinen zurück. Nie sagte sie, »dafür bin ich zu alt«, mit den Jungen angeln, zum Jahrmarkt, spät ins Bett gehen etc.
Im Dezember 79 wurde sie eines Abends gegen halb sieben auf der Nationalstraße 15 von einem Citroën CX, der die rote Ampel missachtet hatte, als sie gerade den Fußgängerüberweg betrat, erfasst. (Der Artikel der Lokalzeitung las sich so, als hätte der Fahrer des Autos Pech gehabt, weil »die Sicht durch das Regenwetter eingeschränkt war« und »die Scheinwerfer des Gegenverkehrs den Fahrer blendeten, was vermutlich einer der Gründe ist, warum er die Dreiundsiebzigjährige übersehen hat«.) Sie erlitt einen Beinbruch und eine Gehirnerschütterung. Sie war eine Woche lang bewusstlos. Der Chirurg im Krankenhaus war der Meinung, dass sie aufgrund ihrer robusten Konstitution durchkommen würde. Sie schlug um sich, wollte die Kanüle ihres Tropfs herausreißen, das Gipsbein anheben. Sie brüllte ihrer blonden Schwester, die seit zwanzig Jahren tot war, zu, sie solle aufpassen, da komme ein Auto angerast. Ich blickte auf ihre nackten Schultern, ihren Körper, sah sie zum ersten Mal hilflos, leidend. Ich hatte den Eindruck, die junge Frau vor mir zu sehen, die mich in einer Kriegsnacht unter großen Schmerzen geboren hatte. Entsetzt wurde mir klar, dass sie sterben konnte.
Sie erholte sich wieder, konnte genauso gut laufen wie vorher. Sie wollte den Prozess gegen den Fahrer des CX gewinnen und ließ alle medizinischen Untersuchungen mit hartnäckiger Schamlosigkeit über sich ergehen. Die Ärzte sagten, sie hätte großes Glück gehabt, dass sie so glimpflich davongekommen sei. Sie war stolz darauf, als wäre das Auto, das sie verletzt hatte, ein Hindernis, das sie wie gewohnt überwunden hatte.
Sie veränderte sich. Sie deckte den Tisch immer früher, um elf für das Mittagessen, um halb sieben für das Abendessen. Sie las nur noch France Dimanche und die Fotoromane, die ihr eine junge Frau vorbeibrachte, eine ehemalige Kundin (sie versteckte sie in der Anrichte, wenn ich zu Besuch kam). Sie schaltete schon morgens den Fernseher an – wenn noch gar keine Sendungen kamen, nur das Testbild und Musik –, ließ ihn den ganzen Tag laufen, schaute kaum hin und schlief abends davor ein. Sie regte sich leicht auf und sagte ständig, »das macht mich fertig«, eine Bluse, die sich schwer bügeln ließ, das Baguette, das plötzlich zehn Centimes teurer war. Auch die Tendenz, schnell in Panik zu geraten, wegen eines Rundschreibens der Rentenkasse oder eines Briefs, in dem stand, sie habe dies oder jenes gewonnen, »ich habe mit denen doch gar nichts zu tun!«. Wenn sie von Annecy sprach, den Spaziergängen mit den Kindern durch die Altstadt, den Schwänen auf dem See, hatte sie Tränen in den Augen. In ihren immer kürzer und seltener werdenden Briefen fehlten Wörter. In ihrer Wohnung begann es zu riechen.
Ihr passierten abenteuerliche Dinge. Sie stand auf dem Bahnsteig und wartete auf einen Zug, der längst abgefahren war. Wenn sie einkaufen gehen wollte, waren alle Geschäfte geschlossen. Ständig verschwanden ihre Schlüssel. La Redoute schickte Kleider aus dem Katalog, die sie nicht bestellt hatte. Sie wurde der Verwandtschaft in Yvetot gegenüber aggressiv, warf allen vor, hinter ihrem Geld her zu sein, wollte sie nicht mehr sehen. Eines Tages, als ich sie anrief: »Ich habe die Schnauze voll von diesem Scheiß!« Sie schien gegen unaussprechliche Bedrohungen anzukämpfen.
Der Juli 83 war heiß, sogar in der Normandie. Sie trank nicht genug und hatte keinen Hunger, sie beteuerte, die Medikamente würden sie ernähren. Sie wurde in der Sonne ohnmächtig und kam auf die Krankenstation des städtischen Altersheims. Ein paar Tage später, wieder mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt, ging es ihr besser, sie wollte zurück nach Hause, »sonst springe ich hier aus dem Fenster«. Dem Arzt zufolge konnte sie nicht mehr allein leben. Er empfahl, sie in einem Seniorenheim unterzubringen. Diese Lösung kam für mich nicht in Frage.
Anfang September holte ich sie mit dem Auto im Altersheim ab, um sie endgültig zu mir zu holen. Ich war von meinem Mann getrennt und lebte mit meinen beiden Söhnen zusammen. Die ganze Fahrt über dachte ich, »jetzt kümmere ich mich um sie« (so wie früher, »wenn ich groß bin, gehe ich mit ihr auf Reisen, besuchen wir zusammen den Louvre etc.«). Es war sehr schönes Wetter. Sie saß entspannt auf dem Beifahrersitz, mit ihrer Tasche auf dem Schoß. Wie üblich sprachen wir über die Kinder, deren Schulnoten, meine Arbeit. Sie erzählte fröhlich von ihren Bettnachbarinnen, nur über eine machte sie eine seltsame Bemerkung: »Das Luder hätte ich am liebsten geohrfeigt.« Es ist das letzte glückliche Bild, das ich von meiner Mutter habe.
Ihre Geschichte geht zu Ende, die, in der sie einen Platz in der Welt hatte. Sie wurde immer verwirrter. Die Krankheit heißt Alzheimer, so nennen die Ärzte eine Form der senilen Demenz. Seit einigen Tagen fällt mir das Schreiben zunehmend schwer, vielleicht, weil ich nie bei diesem Moment ankommen möchte. Dabei weiß ich, dass ich nicht leben kann, ohne im Schreiben die demente Frau, die sie geworden ist, mit der starken, strahlenden Frau, die sie gewesen ist, zu vereinen.
Sie verwechselte die Räume im Haus und fragte mich oft aufgebracht, wo es zu ihrem Schlafzimmer ging. Sie verlegte ständig ihre Sachen (immer wieder dieser Satz: »Ich kann das nicht finden«) und war verstört, wenn sie an Orten auftauchten, wo sie sie ihrer Überzeugung nach auf keinen Fall hingelegt haben konnte. Sie wollte, dass ich ihr etwas zu tun gab, nähen, bügeln, Gemüse putzen, aber jede Aufgabe ging ihr sofort auf die Nerven. Sie lebte in ständiger Ungeduld, fernsehen, Mittag essen, hinaus in den Garten, ein Wunsch folgte auf den nächsten, nichts stellte sie zufrieden.
Nachmittags setzte sie sich wie früher mit ihrem Adressbuch und einem Briefblock an den Wohnzimmertisch. Nach einer Stunde zerriss sie die Briefe, die sie begonnen hatte, aber nicht beenden konnte. In einem Brief im November: »Liebe Paulette, ich habe die Finsternis noch nicht hinter mir gelassen.«
Als Nächstes vergaß sie, wie die Dinge funktionierten und in welcher Reihenfolge sie getan werden mussten. Sie wusste nicht mehr, wie man Teller und Gläser auf dem Tisch anordnet, wie man das Licht ausschaltet (sie stieg auf einen Stuhl und versuchte, die Glühbirne herauszudrehen).
Sie trug verschlissene Röcke und gestopfte Strümpfe, von denen sie sich nicht trennen wollte: »Du musst ja reich sein, dass du alles wegwirfst.« Sie kannte keine anderen Gefühle mehr als Wut und Misstrauen. In allem, was man zu ihr sagte, witterte sie einen Angriff. Ständig quälten sie dringende Bedürfnisse, Haarspray kaufen, um ihrer Frisur Halt zu geben, wissen, an welchem Tag der Arzt kommt, wie viel Geld sie auf dem Sparbuch hat. Hin und wieder plötzlich eine aufgesetzte Fröhlichkeit, ein unbeschwertes Lachen im falschen Moment, um zu beweisen, dass sie gesund war.
Sie verstand nicht mehr, was sie las. Sie wanderte von einem Zimmer ins nächste, ständig auf der Suche. Sie leerte ihren Schrank, breitete die Kleider und Erinnerungsstücke auf dem Bett aus, räumte sie woanders wieder ein, begann am nächsten Morgen von neuem, als ob es ihr nicht gelänge, die richtige Ordnung zu finden. An einem Samstagnachmittag im Januar verstaute sie die Hälfte ihrer Kleider in Plastiksäcken und nähte die Säcke oben mit Garn zu. Wenn sie gerade nichts umräumte, saß sie mit verschränkten Armen auf einem Stuhl im Wohnzimmer und starrte ins Leere. Nichts konnte sie mehr glücklich machen.
Sie vergaß die Namen. Sie redete mich mit »Madame« an, mit weltgewandter Höflichkeit. Die Gesichter ihrer Enkel sagten ihr nichts mehr. Bei Tisch fragte sie die beiden, ob sie hier einen guten Lohn bekamen, sie glaubte sich auf einem Bauernhof, wo sie und die Jungen angestellt waren. Aber sie »sah« sich auch selbst, Scham, wenn sie sich einnässte, sie versteckte den Schlüpfer unter dem Kopfkissen, eines Morgens mit kleiner Stimme, »ich konnte es nicht mehr einhalten«. Sie versuchte, sich an der Welt festzuklammern, wollte unbedingt Handarbeiten erledigen, nähte Halstücher und Stofftaschentücher aneinander, mit schiefen Nähten. Sie hängte ihr Herz an bestimmte Gegenstände, ihren Kulturbeutel, den sie überallhin mitnahm, Panik, Tränen in den Augen, wenn sie ihn nicht fand.
In dieser Zeit hatte ich zwei kleinere Autounfälle, an denen ich schuld war. Ich hatte Probleme mit dem Schlucken und Magenschmerzen. Wegen jeder Kleinigkeit schrie ich herum, musste beinahe weinen. Manchmal brachen meine Söhne und ich auch in lautes Gelächter aus, taten so, als wären die Gedächtnislücken meiner Mutter harmlose Witze, die sie mit Absicht machte. Ich erzählte Leuten, die sie nicht kannten, von ihr. Sie sahen mich schweigend an, ich hatte den Eindruck, ebenfalls verrückt zu sein. Eines Tages fuhr ich stundenlang ziellos durch die Gegend, über Landstraßen, und kehrte erst mitten in der Nacht nach Hause zurück. Ich begann ein Verhältnis mit einem Mann, der mich anwiderte.
Ich wollte nicht, dass sie wieder ein kleines Mädchen wurde, das »durfte« sie nicht.
Sie begann sich mit Gesprächspartnern zu unterhalten, die sie allein sah. Beim ersten Mal, als das passierte, korrigierte ich Klassenarbeiten. Ich hielt mir die Ohren zu. Ich dachte, »jetzt ist es vorbei«. Hinterher schrieb ich auf ein Stück Papier, »Mama führt Selbstgespräche«. (Ich schreibe gerade dieselben Worte nieder, aber anders als damals sind sie nicht nur für mich bestimmt, sollen sie das Geschehen nicht nur ertragbar, sondern auch begreiflich machen.)
Morgens wollte sie nicht mehr aufstehen. Sie aß nur noch Milch- und Süßspeisen, alles andere erbrach sie. Ende Februar beschloss der Arzt, sie ins Krankenhaus von Pontoise einzuweisen, in die Gastroenterologie. Ihr Zustand besserte sich innerhalb von wenigen Tagen. Sie versuchte, die Station zu verlassen, die Krankenschwestern mussten sie in ihrem Sessel fixieren. Zum ersten Mal reinigte ich ihr Gebiss, säuberte ihre Nägel, cremte ihr Gesicht ein.
Zwei Wochen später wurde sie auf die geriatrische Station verlegt. Ein kleiner, moderner Neubau hinter dem Krankenhaus, mit drei Stockwerken, umgeben von Bäumen. Die alten Leute, hauptsächlich Frauen, sind wie folgt untergebracht: im Erdgeschoss die Kurzzeitpatienten, im ersten und zweiten Stock diejenigen, die bis zum Tod bleiben dürfen. Der zweite Stock ist vor allem Gehbehinderten und Demenzkranken vorbehalten. Die Einzel- oder Doppelzimmer sind hell, sauber, mit Blümchentapete, einer Pendeluhr und Bildern an den Wänden, Kunstledersesseln, einem Badezimmer mit eigenem WC. Auf einen festen Platz muss man manchmal lange warten, wenn es zum Beispiel im Winter nur wenige Sterbefälle gab. Meine Mutter kam ins Erdgeschoss.
Sie war redselig, erzählte von Dingen, die sie am Vortag gesehen haben wollte, einem Raubüberfall, einem ertrinkenden Kind. Sie sagte, sie sei gerade vom Einkaufen zurückgekommen, die Geschäfte seien furchtbar voll gewesen. Ihre Ängste und ihre Wut kehrten zurück, sie regte sich darüber auf, dass sie für ihren Chef schuften müsse wie ein Sklave, ohne Lohn, dass Männer ihr nachstellen würden. Sie begrüßte mich schimpfend, »in den letzten Tagen hatte ich gar kein Geld, ich konnte mir nicht mal ein bisschen Käse kaufen«. Sie trug Baguettestücke vom Mittagessen in ihren Taschen herum.
Trotzdem resignierte sie nicht. Der Glaube in ihr war erloschen, kein Bedürfnis mehr, die Messe zu besuchen, den Rosenkranz zu beten. Sie wollte wieder gesund werden (»irgendwann müssen die Ärzte doch rausfinden, was ich habe«) und das Heim verlassen (»bei dir würde es mir besser gehen«). Sie lief die Flure entlang, hin und her, bis zur Erschöpfung. Sie verlangte nach einem Glas Wein.
An einem Abend im April, um halb sieben, schlief sie schon, ohne Decke auf dem Bett, im Unterkleid; sie hatte die Füße aufgestellt, man sah ihre Scheide. Im Zimmer war es sehr heiß. Ich weinte, weil das meine Mutter war, dieselbe Frau wie in meiner Kindheit. Ihre Brust war von blauen Äderchen übersät.
Die acht Wochen auf der Station, die sie genehmigt bekommen hatte, gingen zu Ende. Sie kam in ein privates Seniorenheim, aber nur vorübergehend, weil man dort keine »orientierungslosen« Patienten aufnahm. Ende Mai kehrte sie auf die geriatrische Station des Krankenhauses von Pontoise zurück. Im zweiten Stock war ein Platz freigeworden.
Zum letzten Mal war sie, trotz ihrer Verwirrung, sie selbst, als sie aus dem Auto stieg und durch die Eingangstür trat, aufrecht, mit ihrer Brille, dem graumelierten Wollkostüm, den guten Schuhen und Nylonstrümpfen. In ihrem Koffer befanden sich Blusen, ihre eigene Unterwäsche, Erinnerungsstücke, Fotos.
Sie betrat nun endgültig diesen Raum ohne Jahreszeiten, mit gleichbleibender Temperatur und gleichbleibendem Geruch, diesen Raum ohne Zeit, in dem es nur die reibungslose Wiederholung der Lebensfunktionen gab, essen, schlafen etc. Zwischendurch im Flur spazieren gehen, sich eine Stunde vor den Mahlzeiten an den Tisch setzen, beim Warten ständig die Serviette auseinander- und zusammenfalten, amerikanische Serien und Hochglanzwerbung auf dem Bildschirm vorbeiziehen sehen. Sicher auch Momente der Freude: der Kuchen, den wohltätige Damen jeden Donnerstag verteilten, das Glas Sekt an Silvester, die Maiglöckchen am ersten Mai. Und Liebe, auch jetzt noch, die Frauen halten Händchen, streichen einander übers Haar, schlagen sich. Dazu die sich wiederholende Philosophie der Pflegerinnen: »Kommen Sie, Madame D…, nehmen Sie ein Bonbon, das versüßt die Zeit.«
Nach wenigen Wochen verließ sie das Bedürfnis, auf sich zu achten. Sie sackte zusammen, ging gebeugt, mit gesenktem Kopf. Sie verlor die Brille, ihr Blick war trüb, das Gesicht nackt, leicht aufgedunsen von den Beruhigungsmitteln. Sie sah immer wilder aus.
Nach und nach verlegte sie all ihre Sachen, eine Strickjacke, die sie sehr gemocht hatte, die Zweitbrille, den Kulturbeutel.
Es war ihr egal, sie versuchte nicht, irgendetwas wiederzufinden. Sie wusste nicht mehr, was ihr gehörte, sie hatte nichts Eigenes mehr. Eines Tages betrachtete sie den kleinen savoyischen Schornsteinfeger, den sie seit Annecy überallhin mitgenommen hatte, »so einen hatte ich früher auch«. Wie den meisten anderen Frauen zog man ihr aus Bequemlichkeit einen am Rücken offenen Krankenhauskittel an, darüber eine geblümte Bluse. Sie schämte sich für nichts mehr, eine Windel tragen, gierig mit den Fingern essen.
Die Menschen um sie herum wurden einander immer ähnlicher. Die Worte, die zu ihr durchdrangen, verloren ihre Bedeutung, aber sie antwortete trotzdem, aufs Geratewohl. Sie hatte immer noch Lust, sich zu unterhalten. Ihr Sprachvermögen war intakt, zusammenhängende Sätze, richtig ausgesprochene Wörter, nur eben ohne Bezug zu den Dingen, der Fantasie entsprungen. Sie erfand das Leben, das sie nicht mehr führte: sie fuhr nach Paris, sie hatte sich einen Goldfisch gekauft, man hatte sie zum Grab ihres Mannes gebracht. Manchmal wusste sie allerdings: »Ich fürchte, mein Zustand wird sich nicht mehr bessern.« Oder sie erinnerte sich: »Obwohl ich alles für das Glück meiner Tochter getan habe, ist sie nicht glücklicher.«
Sie verbrachte den Sommer dort (man setzte ihr und den anderen Frauen einen Strohhut auf und führte sie in den Park auf eine Bank), dann den Winter. Silvester zog man ihr eine eigene Bluse, einen eigenen Rock an und gab ihr ein Glas Sekt zu trinken. Sie ging langsamer und hielt sich mit einer Hand an der Stange fest, die im Flur an der Wand angebracht war. Hin und wieder stürzte sie. Sie verlor den unteren Teil ihres Gebisses, dann den oberen. Die Lippen zogen sich zurück, das Kinn nahm immer mehr Raum ein. Wenn ich sie besuchte, jedes Mal die Angst, sie werde noch weniger »wie ein Mensch« aussehen. War ich nicht bei ihr, sah ich sie so, wie sie früher gewesen war, ihre Mimik, ihren Gang, nie so, wie sie jetzt war.
Im folgenden Sommer brach sie sich den Oberschenkelhals. Sie wurde nicht operiert. Ihr eine Hüftprothese einzusetzen, lohnte nicht mehr, genauso wenig wie alles andere, eine neue Brille, ein neues Gebiss. Sie stand nicht mehr aus ihrem Rollstuhl auf, die Pflegerinnen banden sie mit einem Stoffstreifen um die Taille fest. Sie schoben sie zu den anderen Frauen in den Speisesaal, stellten sie vor dem Fernseher ab.
Menschen, die sie gekannt hatten, schrieben mir, »das hat sie nicht verdient«, sie fanden, es wäre besser, wenn sie schnell »erlöst« würde. Vielleicht wird eines Tages die ganze Gesellschaft dieser Meinung sein. Sie kamen nicht zu Besuch, für sie war meine Mutter längst tot. Aber sie wollte leben. Sie versuchte immer wieder aufzustehen, indem sie sich mit ihrem gesunden Bein hochstemmte, wollte den Stoffstreifen abreißen, der sie daran hinderte. Sie streckte die Hand nach allem in ihrer Reichweite aus. Sie hatte ständig Hunger, alle Energie konzentrierte sich auf ihren Mund. Sie liebte es, wenn man ihr einen Kuss auf die Wange gab, und spitzte die Lippen, um den Kuss zu erwidern. Sie war ein kleines Mädchen, das nie erwachsen werden würde.
Ich brachte ihr Schokolade und Gebäck mit und fütterte sie mit kleinen Stücken. Anfangs kaufte ich nie die richtige Sorte, der Kuchen war entweder zu cremig oder zu trocken, sie konnte ihn nicht essen (unbeschreiblich schmerzhaft zu sehen, wie sie kämpfte, mit den Fingern, mit der Zunge). Ich wusch ihr die Hände, rasierte ihr die Wangen und das Kinn, trug ihr Parfüm auf. Eines Tages begann ich ihr das Haar zu bürsten und hörte dann wieder auf. Sie sagte, »ich mag es, wenn du mich frisierst«. Von da an bürstete ich es ihr immer. Ich saß ihr im Zimmer gegenüber. Oft griff sie nach meinem Rock und befühlte den Stoff, als wollte sie die Qualität prüfen. Mit zusammengebissenen Zähnen riss sie das Papier von dem Gebäck. Sie redete über Geld, über Kunden, warf lachend den Kopf in den Nacken. Das waren Gesten, die immer typisch für sie gewesen waren, Worte, die sie ein Leben lang begleitet hatten. Ich wollte nicht, dass sie starb.
Ich hatte das Bedürfnis, sie zu füttern, zu berühren, ihr zuzuhören.
Mehrmals der heftige Wunsch, sie mit nach Hause zu nehmen, mich nur noch um sie zu kümmern, und sofort wissen, dass ich dazu nicht imstande wäre. (Schuldgefühle, dass ich sie ins Heim gegeben hatte, auch wenn ich, wie die Leute sagten, »keine Wahl« hatte.)
Sie verbrachte einen weiteren Winter dort. Am Sonntag nach Ostern besuchte ich sie mit einem Strauß Forsythien. Es war ein kühler grauer Tag. Sie war mit den anderen Frauen im Speisesaal. Der Fernseher lief. Als ich zu ihr ging, lächelte sie. Ich schob den Rollstuhl in ihr Zimmer. Ich arrangierte die Forsythienzweige in einer Vase. Ich setzte mich neben sie und fütterte sie mit Schokolade. Man hatte ihr braune Wollstrümpfe angezogen, die bis übers Knie reichten, und einen zu kurzen Krankenhauskittel, unter dem die abgemagerten Oberschenkel zu sehen waren. Ich säuberte ihr die Hände und den Mund, ihre Haut war warm. Einmal versuchte sie, nach den Forsythienzweigen zu greifen. Später brachte ich sie zurück in den Speisesaal, im Fernsehen lief L'École des fans mit Jacques Martin. Ich verabschiedete mich mit einem Kuss auf die Wange von ihr und nahm den Fahrstuhl. Am nächsten Tag war sie tot.
In der folgenden Woche sah ich diesen Sonntag, an dem sie noch gelebt hatte, immer wieder vor mir, die braunen Kniestrümpfe, die Forsythien, ihre Gesten, ihr Lächeln, als ich mich von ihr verabschiedete, und dann den Montag, an dem sie in ihrem Bett gestorben war. Es gelang mir nicht, diese beiden Tage zusammenzubringen.
Jetzt ist alles miteinander verbunden.
Es ist Ende Februar, es regnet oft, das Wetter ist mild. Heute Abend bin ich nach dem Einkaufen zu dem Pflegeheim gefahren. Vom Parkplatz aus wirkte das Gebäude heller, fast einladend. Im ehemaligen Zimmer meiner Mutter brannte Licht. Zum ersten Mal, erstaunt: »Es gibt jemanden, der ihren Platz eingenommen hat.« Mir ging durch den Kopf, dass ich im neuen Jahrtausend eine dieser Frauen sein werde, die beim Warten aufs Abendessen ihre Serviette auseinander- und zusammenfalten, hier oder woanders.
Während der zehn Monate, in denen ich geschrieben habe, träumte ich fast jede Nacht von ihr. Einmal lag ich in einem Fluss, direkt unter der Wasseroberfläche. Aus meinem Bauch und meiner Scheide, die wieder glatt war wie bei einem Kind, wuchsen Schlingpflanzen, sie wogten sacht hin und her. Es war nicht nur meine Scheide, sondern auch die meiner Mutter.
Manchmal habe ich den Eindruck, ich wäre wieder in der Zeit, als sie noch bei mir wohnte, bevor sie ins Krankenhaus kam. Obwohl ich weiß, dass sie tot ist, rechne ich kurz damit, dass sie die Treppe herunterkommt und sich mit ihrem Nähkasten ins Wohnzimmer setzt. Dieses Gefühl, bei dem die imaginierte Anwesenheit meiner Mutter stärker ist als ihre tatsächliche Abwesenheit, ist wahrscheinlich die erste Stufe des Vergessens.
Ich habe die ersten Seiten dieses Buchs noch einmal gelesen. Fassungslos stelle ich fest, dass ich manche Details schon vergessen hatte, den Angestellten der Leichenhalle, der telefonierte, während wir warteten, den Slogan in schwarzer Farbe auf der Supermarktwand.
Vor ein paar Wochen erzählte mir eine Tante, meine Mutter und mein Vater hätten sich zu Beginn ihrer Beziehung in den Toiletten der Fabrik verabredet. Jetzt, wo meine Mutter tot ist, möchte ich nichts über sie erfahren, was ich nicht schon zu ihren Lebzeiten wusste.
Mein Bild von ihr wird allmählich wieder zu dem, das ich als Kleinkind von ihr gehabt haben muss, ein großer heller Schatten über mir.
Sie starb acht Tage vor Simone de Beauvoir.
Sie war allen gegenüber großzügig, sie gab lieber, als dass sie nahm. Ist Schreiben nicht auch eine Form des Gebens.
Dies ist keine Biographie und natürlich auch kein Roman, eher etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung. Meine Mutter, die in ein beherrschtes Milieu hineingeboren worden war, das sie hinter sich lassen wollte, musste erst Geschichte werden, damit ich mich in der beherrschenden Welt der Wörter und Ideen, in die ich auf ihren Wunsch hin gewechselt bin, weniger allein und falsch fühle.
Ich werde ihre Stimme nie mehr hören. Sie, ihre Worte, ihre Hände, ihre Gesten, ihr Gang und ihre Art zu lachen waren es, die die Frau, die ich heute bin, mit dem Kind, das ich gewesen bin, verbunden haben. Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren.
Sonntag, 20. April 86 – 26. Februar 87