Die Mathematik des Zusammenbruchs

So also könnte es mit Europa zu Ende gehen.

Die Unzufriedenheit der Franzosen, Frankreichs hohe Schuldenlast und seine wirtschaftlichen Schwierigkeiten schwemmen Marine Le Pen ins Amt der französischen Staatspräsidentin. Sie macht ihre Wahlversprechen wahr, schafft den Euro zugunsten einer virtuellen Währung ab und sucht ihr Heil im Protektionismus, indem sie die Staatsgrenzen schließt. Splendid isolation diesmal nicht auf britische Art, sondern nach französischer Manier.

Der erstarkte französische Nationalismus ist eine Wendung, die Europa nicht mehr verkraftet. Der Staatengemeinschaft gelingt es nicht einmal mehr, auch nur den Schein der gut organisierten Bürokratie eines Zankapfels mit fragwürdiger Kreditpolitik und fehlender Wettbewerbsfähigkeit seiner Krisenländer zu wahren, der noch dazu überschattet ist von Kriegen und Gewalt rund um die europäischen Außengrenzen. Was noch zur Jahrtausendwende undenkbar schien, wird jetzt greifbare Wirklichkeit: die große Scheidung. Mit lautem Getöse bricht die Union einstiger Bruderländer zusammen, als die EU-Kommission die Auflösung der Europäischen Union bekannt gibt.

So also könnte es mit Europa zu Ende gehen – es sei denn, es kommt doch alles anders.

Dieses und Millionen anderer europäischer Zukunftsszenarien hat Scott Mullers Demokratiemodell simuliert. Seine künstliche Gesellschaft aus Multiagenten hat dabei hundertfach wiederholt, welche Folgen die französischen Wahlen 2017 nach sich ziehen könnten. Millionen Simulationen haben zu jeweils unterschiedlichen Resultaten oder Hypothesen geführt, wie es weitergehen könnte mit Europa. Marine le Pen gewinnt die Stimmenmehrheit oder auch nicht. Im Falle ihrer Wahl zur Präsidentin der Republik hält sie ihre Wahlversprechen ein oder nicht. Oder Le Pen wird gewählt, aber der Front National erringt keine Mehrheit in der Pariser Nationalversammlung. Oder die Europäische Union bricht trotz Le Pens Wahlsiegs nicht zusammen, sondern bleibt formal bestehen, ist aber nicht mehr in der Lage, Beschlüsse zu fassen. Sie wird zur kraftlosen Hülle, wenn sie implodiert. Sie stagniert, und Strukturreformen hin zu einem echten Föderalismus sind in ganz weite Ferne gerückt. Alles Konsequenzen leicht unterschiedlichen Verhaltens von Scott Mullers künstlichem Gesellschaftssystem, mit vielen verschiedenen Entwicklungen der Zukunft, die einen mehr, die anderen weniger wahrscheinlich.

Hypothesen schließen nach vorne, schlussfolgern die kommende Zeit. Eine punktgenaue Vorhersage über den Zustand, in dem sich die freiheitlich-demokratischen Gesellschaften im Europa der nächsten ein, zwei Generationen befinden werden, treffen sie nicht. Für das Experiment des künstlichen Politikers ist eine derart präzise Vorhersage auch nicht nötig. Ai soll die vielen möglichen Zukünfte Europas nur deshalb kennenlernen, damit sie eine robuste Strategie zur Lenkung der Gesellschaft entwickeln kann, um die meisten Zukünfte des europäischen Zusammenbruchs proaktiv zu verhindern.

Würde Scott Muller die Hypothesen zur Zukunft Europas visualisieren, wäre jede von ihnen wie ein einziger Weg, der sich weiter vorne am Horizont verliert, ein Weg in die Zeit, die wir erst erleben werden. Oder wie ein einzelner Lichtstrahl, der ausleuchtet, was vor uns liegt, dann aber vom fernen Dunkel verschluckt wird. Zusammen bilden die Strahlen einen Lichtkegel, der im Zentrum hell und entlang des Kegelmantels, seiner Peripherie, schwächer leuchtet. Dort, wo sich viele Hypothesen häufen, »wo der Strahl am hellsten scheint«, finden die Zukünfte Europas statt, die am häufigsten und gebündelt auftreten. Entlang des Kegelmantels, seiner Ränder, geschehen die europäischen Extreme, weniger wahrscheinlich vielleicht, aber nicht ganz jenseits allen menschlichen Vorstellungsvermögens.

Wer sich für die Stimmungslage europäischer Bürger seit dem Schicksalsjahr 2014 interessiert, konnte beobachten, wie nationale Bestrebungen weiter zunahmen. Ein neuer Trend schälte sich heraus, der sich in Bürgerprotesten auf der Straße, bei Parlamentswahlen, im Verlust politischer Deutungshoheit durch Traditionsparteien und sogar in Regierungswechseln manifestierte. Der Mensch, dessen kognitiver Energiesparmodus die Einfachheit der Komplexität stets vorzieht, schließt daraus: Was so begonnen hat, wird sich fortsetzen. Der Fall Europas wird ihm wahrscheinlicher dünken als das Gegenteil.

Doch mit jedem Tag, der verstreicht, wird die Zukunft zur Gegenwart und schließlich zur Vergangenheit. Wer vor einigen Wochen die Zukunft Europas simuliert hat, hat bereits heute Erkenntnisse darüber gewonnen, wie zutreffend die »Prognosen« waren. Scott Mullers Weltmodell macht da keinen Unterschied. Liegen die realen politischen Ereignisse noch im Rahmen der hypothetischen Möglichkeiten, die sein Demokratiemodell berechnet hat? Oder weichen die Hypothesen signifikant von den wahren Ereignissen ab?

Die politische Wirklichkeit ist nicht ganz eindeutig. Einige reale Geschehnisse könnten mehr für gegenteilige Evidenz sprechen: gegen die Preisgabe Europas und für das Festhalten der europäischen Bürger an der Union und ihren Werten. Denn trotz klarer Mehrheit im ersten Wahlgang der französischen Regionalwahlen vom Dezember 2015 konnte die Europagegnerin Marine Le Pen im zweiten Wahlgang keine einzige französische Region für sich gewinnen. Auch Österreich, das am 22. Mai 2016 zur Stichwahl eines neuen Bundespräsidenten antrat, hatte sich mit ganz knapper Mehrheit für den Grünenpolitiker Alexander Van der Bellen und gegen den rechtsnationalen Kandidaten ausgesprochen, obwohl, wie es schien, ein uneinholbarer Vorsprung für den rechtsnationalen Bewerber sprach.85 Dieser hatte die Wahl allerdings angefochten.86 Großbritannien hingegen wagte am 23. Juni 2016 den Brexit mit ganz knapper Mehrheit, obwohl das Land trotz EU-Vollmitgliedschaft aufgrund zahlreicher Ausnahmen und Sonderregeln immer schon und nicht nur geografisch am Rande Europas agierte. Ohne Schengen und ohne Euro, aber mit Mitentscheidungsrecht und freiem Zugang zum europäischen Binnenmarkt, waren die Briten zwar dauerhaft Nettozahler der Union, konnten aber auch zur fünftgrößten Wirtschaftsmacht weltweit wachsen.

Der Zeitablauf schafft Geschichte und Fakten, um die man nicht herumkommt. Offenbar entscheiden sich wenigstens die Kontinentaleuropäer im letzten Moment doch für die Union.

Zur politischen Wirklichkeit gehört auch, dass ein Zusammenhang zwischen dem Unmut, der Unsicherheit und diffusen Ängsten der Europäer und den Ereignissen entlang der Außengrenzen der Europäischen Union besteht. Der Diplomat Wolfgang Ischinger hat den Außendruck, der auf Europa lastet, auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2016 als »Feuerring« bezeichnet.87 Auch äußere Krisen haben offenbart, an welchen Schwächen Europa leidet. Krisen sind es aber auch, die Menschen näher zusammenrücken lassen in der Hoffnung, der Zusammenhalt in der Gemeinschaft möge der Maximierung ihrer persönlichen Nutzenfunktionen besser dienen. Würden die Waffenruhen in Syrien und in der Ukraine Bestand haben, ließe der Außendruck auf Europa nach. Die Bürger könnten sich ihren Zielen von Glück, Wohlstand oder Zukunftschancen wieder näher fühlen. Die Union könnte tief Luft holen und sich erneut dem Einigungsprozess zuwenden.

Auch solche Zusammenhänge und Pfade muss Scott Mullers künstliche Demokratie erklären können. Betrachtet er alle Zukunftssimulationen seines Demokratiemodells, muss er sich die Frage stellen, ob die Hypothesen seines Modells und die Häufigkeit ihres Auftretens mit seinen eigenen Beobachtungen der Realität in Einklang stehen. Weicht die europäische Realität von der Häufigkeitsverteilung der Hypothesen ab, müssen sich die tatsächlichen Geschehnisse wenigstens innerhalb des kegelförmigen Hypothesenbündels befinden, das ein Modell erzeugt. Geschieht es häufiger als angenommen, dass rechtsnationale Parteien mit Regierungsverantwortung betraut werden – oder auch umgekehrt –, und stehen die simulierten Zukünfte des Modells wiederholt nicht mit der Faktenlage im Einklang, müsste Scott in Betracht ziehen, seine künstliche Gesellschaft zu revidieren. Denn dann hätte er wahrscheinlich Effekte übersehen, die im realen Leben zu anderen gesellschaftlichen Zuständen führten als im künstlichen Leben seiner Multiagenten. Nicht erklärbare Abweichungen würden demnach auf Defizite in Scotts Modell hindeuten, die er beseitigen müsste.

Dass Zusammenhänge in Daten nichts mit der Realität zu tun haben müssen, ist eine ganz schlechte Nachricht für die Big-Data-Gemeinde, weiß auch Scott Muller. Deren Anhänger träumen davon, die klassische Wissenschaft aus Modell und sinnvoller Verknüpfung von Datenpunkten komplett durch die Künstliche Intelligenz und ihre Massendatenanalyse zu ersetzen. Während menschliche Forscher darauf geschult sind, keine voreiligen Schlüsse allein auf Basis von Korrelationen zu ziehen, weil es sich bei den vermeintlichen Wechselbeziehungen auch um rein zufällige Erscheinungen, um »Scheinkorrelationen« oder spurious effects, handeln kann, basiert die Massendatenanalyse ganz wesentlich auf der Mustererkennung. Deren Jünger postulieren, die Zukunft brauche keine menschlichen Wissenschaftler und Industrieexperten mehr. Sie setzen ausschließlich auf die algorithmische Erkennung von Mustern in Massendaten, auf die sie ihr Verhalten, ihre strategischen Entscheidungen oder die Steuerung ihrer Betriebe, Anlagen und Kunden stützen möchten. Methodisch-wissenschaftliches Vorgehen sei obsolet und könne durch die automatische Massendatenanalyse künftig komplett ersetzt werden. Man werfe Massendaten nur in den größten Supercomputer auf dem Globus, und die statistische Mustererkennung auf Basis Künstlicher Intelligenz gebe das Ergebnis bekannt, wie die Welt funktioniert, besser, schneller und vollständiger, als menschliche Wissenschaftler es je vermochten.

Wer daran glaubt, kann ein böses Erwachen erleben, überlegt Scott Muller und wendet sich mit noch größerer Hingabe der genauen Betrachtung seiner zahlreichen Hypothesen zu.

Dass Maschinen in Massendaten und ganz ohne Weltmodell sinnlose Zusammenhänge entdecken, die durch nichts in der Realität gerechtfertigt sind und deshalb zu falschen Einsichten und Entscheidungen führen, darüber sehen die Anhänger der Massendatenanalyse gerne hinweg. Ein Börsenhandelsalgorithmus, der nach jedem 15. Kursschwung nach einem EZB-Zinsentscheid ein Kaufsignal für eine bestimmte Aktie ausgibt, wird von einem erfahrenen Händler schnell als irreführend entlarvt, weil sich die Korrelation zwischen EZB-Pressekonferenz und dem 15. Kursschwung durch nichts sinnvoll erklären lässt. Der Wissenschaftler dagegen kann begründen, was für den Händler nur ein Bauchgefühl ist: Trotz Massendaten ist die Datenlage dünn. Seit der Einführung des Euro am 1. Januar 2002 und bis heute fanden kaum mehr als 170 EZB-Zinsentscheide statt – eine ziemlich überschaubare Zahl ohne statistische Relevanz, noch dazu in einem Umfeld, dessen statistische Eigenschaften sich über die Zeit verändern und nichtstationär sind. Träte die Korrelation vom 15. Kursschwung und der EZB-Pressekonferenz auch nach 170 000 EZB-Zinsentscheidungen auf, erst dann wäre es die Sache wert zu erforschen, was die Gründe dafür sind.

Wissenschaftler werden durch die Massendatenanalyse sicher nicht abkömmlich, ganz im Gegenteil. Erst ein Weltmodell produziert sinnvolle Hypothesen oder Muster. Wo sie nicht mehr wissenschaftlich erklärbar sind, muss Mensch nacharbeiten.

Was Scotts Multiagenten betrifft, ist er zufrieden. Dass Europa ganz auseinanderbricht, ist durch die Häufigkeitsverteilung seiner Zukunftshypothesen abgedeckt, genauso wie die Möglichkeit zu tieferer Einheit.

Zeig mir alles, raunt ihm Ai zu.

Dann lass mal sehen, was du daraus machst, antwortet Scott in Gedanken.