Die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts: Komplexitätsforschung

Aus wissenschaftshistorischer Sicht hatten die Grundlagen der Digitalisierung und der Kybernetik Vorläufer. Auch in der Forschung begann alles einfach, bis man auf die Komplexität stieß.

Seit Galileo Galilei suchte man in der Physik nach Invarianz. Wenn Galilei beobachtete, dass ein Apfel vom Mast eines Segelschiffs bei voller Fahrt genauso zu Boden fiel wie vom heimischen Kirchturm, hatte er eine Invarianz festgestellt – seitdem bekannt als Galilei-Invarianz. Schon Isaac Newton legt die Galilei-Invarianz seinen Bewegungsgesetzen zugrunde. Eine Zahl, die erhalten bleibt, obwohl sie mit einem Operator manipuliert wird, ist invariant. Wer die Zahl 128 mit 1 multipliziert, erhält wieder die Zahl 128. Die Multiplikation ist die Verknüpfung zwischen den beiden Zahlen 128 und 1 und wird deshalb als Operator bezeichnet. Invarianz tritt auch auf, wenn die Zahlen 128 und 0 per Addition verknüpft werden.

Ein mehr umgangssprachlicher Begriff für Invarianz ist die Symmetrie.1 Ein Spiegelbild ist symmetrisch. Es bleibt invariant unter der Operation des Spiegelns. Der Vorgang des Spiegelns ist eine Erhaltungsgröße, sie wahrt die Symmetrie. Die Kenntnis und Erforschung von Symmetrien und Erhaltungsgrößen gehört zu den fundamentalsten Prinzipien der Physik. Würde die Menschheit alle Symmetrien und Erhaltungsgrößen der physikalischen Welt kennen, hätte sie alle Objekte der Schöpfung entdeckt, die feste Größen sind und auf die man sich stets voll verlassen könnte.

Aus diesem wichtigen Grund fokussierten die Wissenschaften seit Galilei über 250 Jahre lang auf die Erforschung genau jener Symmetrien. Man nahm sich Variationen vor – ein physikalisches Experiment wurde um 11.00 Uhr begonnen oder um 13.00 Uhr – und zog aus den Erkenntnissen Rückschlüsse auf Invarianz: Der Ausgang eines Experiments ist zum Zeitpunkt t derselbe wie zum Zeitpunkt t+x Stunden. Wann das Experiment durchgeführt wurde, spielte keine Rolle. Der Ausgang des Experiments war nur abhängig von seinem Anfangszustand, nicht aber von seinem Anfangszeitpunkt. Man beschränkte sich auf die Analyse linearer Kausalzusammenhänge in physikalischen Systemen mit wenigen Komponenten und reduzierte die daraus gewonnenen Erkenntnisse auf dieselbe Weise wiederum auf linear-kausale Mechanismen. Man wollte die deterministischen, universal geltenden Gesetze der Welt entdecken und beschreiben. Obwohl daran nichts auszusetzen war, blieb die Forschung wegen jenes Paradigmas sehr eindimensional, was wiederum dazu führte, dass die Physik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in einen Dämmerschlaf verfiel. Damals schienen alle Universalgesetze entdeckt. Mit der Mechanik, der Thermo- und der Elektrodynamik waren alle bis dahin bekannten natürlichen Phänomene erklärbar.

Die Defizite dieser reduktionistischen, orthodoxen Sicht auf die Dinge traten im 19. Jahrhundert mit der Naturforschung in Biologie und Medizin zutage. Charles Darwin veröffentlichte seine Evolutionstheorie, Louis Pasteur forschte an Mikroorganismen und entdeckte, was eine Zelle war. In einer Zelle spielten sich Stoffwechselvorgänge ab, Proteine wurden produziert, oder genetische Prozesse kamen in Gang. Noch versuchte man, die neuen Beobachtungen mit dem geltenden Paradigma zu erklären, aber immer mehr Wissenschaftler widersetzten sich. Biologische Organismen und ihre Eigenschaften mit ihrer Fähigkeit zu Selbstregulierung, von Evolution und Replikation sowie das drängende wissenschaftliche Verlangen, Lebewesen nicht von ihrem Grund, sondern vielmehr vom Zweck ihrer Entwicklung und ihres Verhaltens her zu verstehen, passten nicht mehr in das enge Korsett des wissenschaftlichen Dogmas der Symmetrie. Zellen sind lebende Organismen und nicht, wie Justus Liebig noch zu beweisen suchte, leblose chemische Vorgänge. In einem Körper interagieren Zellen genauso wie die Komponenten in der einzelnen Zelle selbst. Nichts davon hatte die elegante, aber simple Mathematik der Invarianz bis dahin in Betracht gezogen: weder Interaktionen und ihre Dynamik noch die Fähigkeit zur Selbstorganisation, Unumkehrbarkeit und Unberechenbarkeit – die Nichtlinearität und die Emergenz. Emergenz tritt auf, wenn aus komplexen Systemen von Chaos und Unordnung durch Selbstorganisation neue Strukturen und Ordnungen entstehen. Auf jeder Stufe – der Phase – eines komplexen Systems entwickeln sich nach einem Phasenübergang wie aus dem Nichts neue, also vorher nicht vorhandene Eigenschaften eines Systems. Dass sich menschliches Leben aus einer Ursuppe von Milliarden interagierender Zellen bildete, ist ein Wunder an Emergenz. Auf eine derart staunenswerte Entwicklung konnte man bei Betrachtung der einzelnen, verhältnismäßig einfach gebauten Zellen der Ursuppe nicht von vornherein schließen. Möglich wurde die eindrucksvolle Entfaltung zum Menschen erst durch die Interaktion zwischen den einzelnen Zellen. Viele Einheiten, die miteinander in Beziehung stehen, sind deshalb die einfachste Definition dafür, was ein komplexes System überhaupt ist.

Heute ist jede wissenschaftliche Disziplin mit Komplexität konfrontiert. Vielfach sind komplexe Systeme sogar aus den mathematischen Modellen zu Fragen der Komplexität selbst hervorgegangen. Die Bionik zum Beispiel bildet künstliche Lebewesen nach, artifizielle Bienen, die auch dann noch die Pflanzen unseres Planeten bestäuben sollen, wenn die natürlichen Bienenschwärme längst dem Bienenvolk-Kollaps zum Opfer gefallen sein werden.2 Oder überdimensional große Schmetterlinge, die sich eleganter als ihre natürlichen Vorbilder durch die Luft bewegen und ein Gelände von oben, aus der Turmwächterperspektive, überwachen sollen.3

Neben der Forschung hat Komplexität auch in andere Bereiche des Lebens Einzug gehalten: in Wirtschaft und Management und in die industriellen Prozesse der Industrie 4.0. Jede Wissenschaft ist heute mit Komplexität konfrontiert; selbst die Geisteswissenschaften sind davon nicht ausgenommen. Auch die Politik bleibt nicht verschont. Was heute relevant für politische Maßnahmenkataloge ist, weist sämtlich komplexe Eigenschaften auf, besonders deshalb, weil sich die Komponenten sozialer Systeme mehr und mehr digital vernetzen: im sozioökonomischen System des globalen Finanzmarkts, als soziale Netzwerke oder als Bewohner der rasant wachsenden Städte unseres Planeten. Diese Systeme verhalten sich geradezu gegenteilig zum Paradigma der Symmetrie. Sie sind eben komplex.

Es sollte noch bis in die Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts dauern, bis die Komplexitätsforschung mit den ersten wissenschaftlichen Computern einen Quantensprung erlebte. Trotzdem blieb die Forschung zunächst nur dem Bereich der angewandten Mathematik zugeordnet. Sie konzentrierte sich auf das, was als Chaostheorie in die Wissenschaftsgeschichte eingehen sollte. Chaotische Systeme fanden sich überall, beim Wetter, beim Klima, im Sonnensystem. Neben der Physik traten sie auch in der Medizin, der Biologie und der Chemie auf. Man kann ihnen in der Medizin, der Biologie und der Chemie begegnen, sogar in der Informationstechnologie, wo einfache autonome Softwareprozesse, die Multiagenten, durch Interaktion komplexe Verhaltensweisen von Software herbeiführen. Multiagenten werden wir im nächsten Kapitel näher betrachten, weil sie als digitale Imitation des komplexen Systems der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft sehr gut geeignet sind.

Trotz oder gerade wegen der Häufigkeit des Auftretens chaotischer Systeme konnte sich die Forschung lange nicht darauf einigen, wie sich Komplexität denn letztlich definiere. Erst in den Siebzigerjahren begann man, die Eigenschaften von Komplexität zusammenhängend zu betrachten. Instabilität spielt eine herausragende Rolle in allen komplexen Systemen. Instabilitäten führen dazu, dass Symmetrie in die Brüche geht und so Dynamik im System auftritt.

Dennoch ersetzten die neuen Modelle komplexer Systeme nicht einfach die alte Hegemonie der Symmetrie. Sie bereicherten und ergänzten sie, indem sie ebenjene Dynamik berücksichtigten, wie sie aus der Interaktion von Elementen eines komplexen Systems entstand.