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Während Tom zu seinem Wagen ging, musste er an die grimmige Frau denken, der er begegnet war. Schon zum zweiten Mal.

Er war erneut so in Gedanken vertieft gewesen, dass er sie gar nicht wahrgenommen hatte. Jedenfalls nicht, bevor er auf dem Gehweg fast mit ihr zusammengestoßen wäre. Er hatte ihren Oberarm gerammt und dabei flüchtig ihre gerunzelte Stirn und einen verbissenen Zug um ihren Mund herum wahrgenommen. Sie hatte erbost gewirkt, und er fragte sich, ob dies wohl ihre Grundstimmung war: Zorn. Als er sich nach ihr umdrehte, war sie bereits im Eingang verschwunden, sodass er annahm, dass sie im Hotel übernachtete.

Irgendwas an ihr war besonders, doch er konnte es nicht recht benennen. Als würde sie sich durch die Luftblase hindurch bemerkbar machen, in der er sich befand. Doch er begriff nicht, warum. Sie war angespannt und hektisch und ließ sich offensichtlich leicht provozieren; wenn sie sich nun nicht gerade an ihm persönlich stieß. Doch da war noch etwas anderes, das ihn nicht losließ. Er war ihr noch nie begegnet, da war er sich sicher. In seinem Job konnte das Wiedererkennen eines Gesichts innerhalb einer Millisekunde den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Aber in seinem Job ging es eigentlich immer um Leben und Tod, und obwohl sie sich noch nie zuvor begegnet waren, kam sie ihm vage bekannt vor. Es störte ihn, dass ihm nicht einfiel, woher.

Eilig wich er einer klein gewachsenen Dame aus, die auf einem Tretschlitten angefahren kam, und bog dann in die nächste Straße ein, in der er sein Auto geparkt hatte. Er war noch lange im Restaurant sitzen geblieben und hatte aus dem Fenster gestarrt sowie in verschiedenen Zeitungen geblättert, ohne sich auf das Geschriebene konzentrieren zu können, und konnte es am Ende nicht fassen, wie viel Zeit vergangen war. Das war sonst gar nicht seine Art. Normalerweise hatte er die Zeit immer genau im Blick. Er war wirklich neben der Spur. Doch die Begegnung mit Ellinor heute war wie …

Tom konnte es nicht in Worte fassen, nicht einmal im Stillen.

Er war noch nie gut darin gewesen, komplizierte Gefühle zu benennen, war eher der praktische Problemlöser. Er konnte ein Maschinengewehr im Schlaf zusammensetzen oder ohne Vorbereitung ein Gebäude stürmen – das waren Herausforderungen, die er problemlos bewältigte. Doch das mit Ellinor … Er wusste einfach nicht, was er weiter tun sollte, konnte nicht mehr logisch denken. War reduziert auf seine Panikattacken, von denen er nie wusste, wann sie ihn befallen würden.

Das machte ihm Angst.

Natürlich hatte es auch schon zuvor Situationen gegeben, in denen es ihm schlecht gegangen war. Niemand, der sich mit solchen Dingen beschäftigte, wie er es seit zwanzig Jahren tat, kam ohne irgendwelche Narben davon. Aber es war nie schlimmer gewesen, als dass nicht ein paar feuchtfröhliche Abende mit den Kameraden dagegen geholfen hätten. Sie nannten es europäisches Debriefing. Man ging zusammen in die Kneipe, tauschte sich mit Leuten aus, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, trank dabei riesige Mengen an Bier, und hinterher ging es einem besser.

Doch diesmal hatte es nicht geholfen. Im Gegenteil, jetzt ging es ihm fast noch schlechter als in der Zeit, bevor er hergekommen war. Vorher hatte er noch eine gewisse Hoffnung gehegt, doch all diese Wochen in Kiruna hatten ihn keinen Millimeter vorangebracht.

Er war es gewohnt, kompetent aufzutreten, Dinge in die Wege zu leiten und Probleme zu lösen, die nur wenige Menschen weltweit meisterten. Und dennoch gelang es ihm nicht, Ellinor zurückzugewinnen.

Tom schaute sich kurz desorientiert um, erblickte seinen Wagen und öffnete ihn per Fernbedienung. Aus alter Gewohnheit hatte er die Beleuchtung deaktiviert, damit die Scheinwerfer ihn in der Dunkelheit nicht zu einer Zielscheibe werden ließen. Eine übertriebene Vorsichtsmaßnahme, die ihm aber gewissermaßen in Fleisch und Blut übergegangen war.

Er stieg ein und legte die Hände aufs eiskalte Lenkrad. Die lähmende Angst davor, zum ersten Mal in seinem erwachsenen Leben vor einem Problem zu stehen, das er nicht mit Beharrlichkeit, List oder schlichtweg mit Gewalt würde lösen können, drohte ihn zu übermannen. Seine Arme fühlten sich völlig kraftlos an und seine Beine müde.

Außerdem verspürte er einen Blutgeschmack im Mund.

Woher bloß? Oder bildete er es sich nur ein? Im Tschad hatte er während der grausamen Misshandlungen immer wieder das Gefühl für die Realität verloren. Sie hatten mehrfach gedroht, ihn zu ermorden, und gesagt, dass er gleich sterben würde, während sie ihm ein Maschinengewehr auf die Brust und gegen die Stirn gepresst und ihn auf die Knie hinuntergezwungen hatten. Niemand konnte sich vorstellen, welche Gefühle dies bei einem Menschen auslöste und wie er sich irgendwann regelrecht gewünscht hatte zu sterben, während er zugleich um jeden Preis am Leben bleiben wollte. Der Psychologin gegenüber hatte er einige seiner Erlebnisse preisgegeben. Natürlich nur einen Bruchteil, aber dennoch mehr, als er seit Langem überhaupt jemandem anvertraut hatte. Beispielsweise wie die Kidnapper seine Hilflosigkeit ausgenutzt und ihn geschlagen, getreten und gefoltert hatten, stundenlang. Wie sehr ihm der Kontrollverlust über den eigenen Körper zugesetzt hatte. Welche Sorgen er sich um seine Angehörigen zu Hause gemacht hatte. Die Psychologin hatte ihm mit ernster Miene und ruhigem Blick zugehört, und dennoch hatte er mit seinen Schilderungen nur an der Oberfläche gekratzt. Die Macht der Gewohnheit, Dinge einfach durchzustehen und sie nicht zu thematisieren, war zu stark. Er war sich nicht ganz sicher, ob er eher die Psychologin oder sich selbst schützen wollte, indem er ihr nicht im Detail schilderte, was sie ihm angetan hatten. Er hatte sich angewöhnt, andere zu schützen, indem er alles für sich behielt. Ellinor hatte ihn nie gefragt, und er hatte ihr auch nie etwas erzählt. War das falsch? Er war immer der Überzeugung gewesen, mental stark zu sein. Natürlich nicht völlig unüberwindlich, aber eben fast. Drohte jetzt all das, was er in sich hineingefressen hatte, ihn innerlich zu vernichten?

Plötzlich verspürte er einen so heftigen Druck auf der Brust, dass er seine Stirn gegen das Lenkrad lehnen musste. Er sog den Geruch von frischem Leder ein und versuchte sich zu beruhigen, doch es gelang ihm nicht. Die Gedanken in seinem Kopf wirbelten durcheinander, und er verlor die Kontrolle über die tiefen Atemzüge, die er zu machen versuchte, um seinen Zustand wieder zu stabilisieren. Seine Atmung wurde immer oberflächlicher, und schließlich hatte er das Gefühl, gar keine Luft mehr zu bekommen. Sein Körper verspannte sich, und sein Herz begann immer schneller zu rasen, als wolle es seinen Körper von innen sprengen. Ihm wurde schwindelig und übel, sein Mund war wie ausgetrocknet.

Nicht jetzt, dachte er verzweifelt. Nicht schon wieder. Es kam ihm vor, als vibriere der Fahrersitz unter ihm, und das Zittern übertrug sich auf seinen Körper.

Er versuchte sich an das zu erinnern, was die Psychologin ihm beigebracht hatte. Es war also nicht ganz umsonst gewesen, dass sie gemeinsam mit ihm durchgegangen war, was genau während einer Panikattacke in seinem Körper ablief. Jetzt versuchte er sich auf ihre Worte zu konzentrieren.

»Es handelt sich um Angst, Tom. Und die kann sehr unangenehm sein. Aber Angst lässt einen nicht wahnsinnig werden, und man stirbt auch nicht daran, auch wenn es einem so vorkommt. Versuchen Sie sie auszuhalten, und konzentrieren Sie sich auf jede einzelne Sekunde, eine nach der anderen.«

Tom versuchte es.

Er gab sein Bestes, aber dann brach ihm der Schweiß aus, seine Hände umklammerten das Lenkrad, und sein Tunnelblick verstärkte sich. Es wurde nicht besser, im Gegenteil, es wurde schlimmer, und er erlebte eine der heftigsten Panikattacken seit Langem. Auf einer Skala von eins bis zehn war dies eine Sieben, dachte er immer benommener, während seine Organe, eins nach dem anderen – Lunge, Herz, das Blut und die Muskeln –, von der Angst befallen wurden. Oder vielleicht sogar eine Acht.

»Null bedeutet keine Angst, und zehn ist unerträglich. Eine Zwei können die meisten problemlos ertragen«, hatte die Psychologin erklärt.

Tom begann allmählich die Kontrolle über seine Gedanken zu verlieren. Sein ganzer Körper kämpfte gegen den Drang, zu fliehen oder um sich zu schlagen. Seine Schulter- und Nackenmuskeln spannten sich an, und er zitterte am ganzen Körper. Jetzt war es eher eine Neun. Er konnte nicht mehr richtig sehen und umklammerte mit den Fingern das Lenkrad, bis seine Knöchel ganz weiß wurden. Warum war es nur so verdammt schwer? Würde er jetzt sterben? Es kam ihm fast so vor.

»Es handelt sich um eine ganz gewöhnliche biologische Reaktion. Was einem so große Angst macht, ist, dass sie völlig unerwartet einsetzt. Sie müssen Ihrem Körper beibringen, nicht darauf zu reagieren. Oftmals hilft es, wenn Sie sich bewegen, dadurch wird ein Teil der Chemikalien abgebaut, die Ihr Körper produziert.«

Er müsste sich bewegen, dachte er umnebelt. Sein Körper war zum Bersten angefüllt mit Adrenalin und Noradrenalin, das fortwährend in seinen Blutkreislauf gepumpt wurde. Doch er schaffte es nicht, aus dem Wagen zu steigen, konnte sich gerade so auf dem eiskalten Fahrersitz halten in der Hoffnung, das Ganze zu überleben. Eine Sekunde nach der anderen. Während seiner Zeit beim Militär hatte er sich weit über das hinausgepusht, was die meisten Menschen zu ertragen vermochten. Seine gesamte Ausbildung hatte darauf abgezielt, die Soldaten durch extrem starken physischen und psychischen Druck zu zermürben, indem man sie nicht schlafen ließ, sie dazu zwang, in sieben Grad kaltem Wasser zu tauchen, und derart unter Leistungsdruck setzte, bis sie irgendwann bewusstlos wurden. Auf diese Weise brachen selbst Elitesoldaten weinend zusammen. Sie wurden tagein, tagaus verspottet, erniedrigt und gegeneinander aufgehetzt. Damit hatte er umgehen können. Doch diese Attacken lähmten ihn in einer völlig anderen Art und Weise. Seine Muskeln waren wie ausgelaugt und sein Körper jeglicher Kraft beraubt, während sich in seinem Inneren ein bitteres Gefühl der Niederlage breitmachte.

Doch dann, ganz langsam, kam es ihm so vor, als ebbte das Ganze ab oder eskalierte zumindest nicht mehr.

Er konnte wieder etwas sehen.

Das Zittern ließ allmählich nach. Er konnte seine Finger wieder bewegen und auch fast wieder normal atmen. Eine Sieben. Dann eine Sechs.

Gott sei Dank.

Eine Fünf.

Noch ein paarmal tief durchatmen, dann starte ich den Wagen.

Jetzt wurde es definitiv besser, und er konnte seine Schultern wieder entspannen und klar sehen.

Er startete den Volvo und schaute in den Rückspiegel. Blinkte links, bevor er aus der Parklücke fuhr, obwohl die Straße völlig leer war, und ließ Kiruna rasch hinter sich.

Das Thermometer zeigte minus zweiundzwanzig Grad an und sank noch weiter, während er durch den Wald fuhr. Seine Vernunft sagte ihm, dass die Angst am Ende immer nachließ, doch bei jeder neuen Attacke befürchtete er, dass es diesmal vielleicht nicht so sein würde.

Als er beim Haus ankam, parkte er den Wagen in der Garage, ging seine gewöhnliche Runde über den Hof und kontrollierte alle Schlösser sowie Fenster in den verschiedenen Nebengebäuden, bevor er völlig erschöpft aufs Sofa sank.

Ihm fehlte die Kraft, um Feuer im Kamin zu machen, und sein Magen knurrte. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass Panikattacken enorm viel Energie verschlangen, und jetzt fiel ihm auch ein, dass er eigentlich zum Einkaufen nach Kiruna gefahren war, es dann aber völlig vergessen hatte.

Er blieb auf dem Sofa sitzen und schaute durch die Panoramafenster hinaus. Für diese Gegend, in der die Winter so kalt waren, waren die Fenster viel zu groß und unpraktisch. Doch es war eine luxuriöse Villa, gebaut von einem größenwahnsinnigen Milliardär, und die Aussicht auf den Wald und die schneebedeckten Wiesen war sowohl tagsüber als auch nachts grandios. Der Mond stand am Himmel, und er meinte, einen Schneehasen zu erblicken, bevor er seinen Kopf zurücklehnte, die Arme seitlich auf der Lehne ausstreckte und schläfrig blinzelte. Großer Gott, wie fertig er war.

Beim Militär war er darauf gedrillt worden, niemals aufzugeben. Er hatte schon in den elendsten Krisengebieten weltweit gearbeitet, geheime Operationen in Somalia geleitet, als Leibwächter im Irak angeheuert und einen Konvoi durch Afghanistan gelotst. Dabei war er in absolut hoffnungslose Situationen geraten, hatte es aber immer wieder aufs Neue geschafft, sich aus ihnen zu befreien. Nicht ein einziges Mal war ihm auch nur der Gedanke daran gekommen, aufzugeben. Er hatte sich immer für zu beharrlich, zu erfahren, ja sogar zu töricht gehalten, um aufzugeben. Über die Jahre hinweg hatte er sich fast in einen Roboter verwandelt, der zwar das Scheitern so mancher Kameraden mit ansehen musste, aber nie geglaubt hatte, dass dies auch ihm selbst passieren könnte. Er war einfach nicht davon ausgegangen, dass er irgendwann einmal an seine Grenzen stoßen könnte, denn er hatte immer bis zuletzt durchgehalten.

Doch jetzt saß er hier, schaute hinaus auf den Schnee, der im Sternenlicht in Tausenden Weiß-, Silber- und Blautönen funkelte, und dachte, dass es vielleicht doch besser für alle Beteiligten gewesen wäre, wenn er dort unten in Afrika ums Leben gekommen wäre.