11

Mattias Ceder lehnte sich gegen den Türrahmen und betrachtete die Silhouette eines schlafenden Tom Lexington. Es sah aus, als hätte er sich nachts im Schlaf heftig hin und her geworfen, so zerwühlt waren Bettdecke und Laken.

Mattias stand nun schon fast eine Minute lang in der Tür des Hotelzimmers, ohne dass Tom sich auch nur gerührt hätte, was ihn beunruhigte, denn der Tom, den Mattias kannte, wäre hochgeschreckt und aus dem Bett gesprungen, noch bevor irgendein Eindringling seine Hand auf die Türklinke hätte legen können.

»Ich frag mich, wann du endlich mal aufwachst«, sagte er mit lauter Stimme.

Tom setzte sich auf. »Was zum Teufel machst du denn hier?« Seine Augen waren blutunterlaufen und seine Stimme rau und harsch. Er wirkte völlig desorientiert.

Mattias erstaunte seine Frage nicht im Geringsten, denn Tom hatte in der vergangenen Nacht geklungen, als wäre er wirklich ziemlich durch den Wind gewesen. Er machte einen Schritt in den Raum hinein und zog die Tür hinter sich zu. »Du hast mich angerufen und gebeten zu kommen. Und jetzt bin ich hier.«

Tom warf ihm einen äußerst misstrauischen Blick zu. »Hab ich das? Und wann?«

Mattias schaute auf die Uhr, es war halb zehn Uhr morgens. »Gegen zwei Uhr nachts hast du sternhagelvoll bei mir angerufen und gesagt, dass du mit mir reden musst. Dass du im Scandic Ferrum übernachtest und ich dort hinkommen soll.«

»Du lügst.«

»Nein«, entgegnete Mattias. Diesmal log er nicht. Doch es überraschte ihn nicht, dass Tom sich nicht mehr an das Telefonat erinnerte, denn er hatte kaum zusammenhängende Sätze von sich gegeben und dabei hyperventiliert und gelallt. Irgendwas von weichen Lippen, Panikattacken und schlimmen Fehlern gefaselt, die er begangen hätte. Sein Anruf hatte Mattias zu Tode erschreckt. Er kannte Tom schon lange; sie hatten beim Militär Seite an Seite gekämpft und gemeinsam schlimme Verluste erlitten, doch Tom hatte noch nie zuvor so geklungen.

»Wie zum Teufel bist du hier reingekommen?«

Mattias hielt die Schlüsselkarte hoch, die er aus einem Putzwagen entwendet hatte. Natürlich hätte er auch jemanden bitten können, ihn reinzulassen, aber das wäre weitaus weniger lustig gewesen.

Tom schnaubte und rieb sich die Augen. »Warum ich ausgerechnet dich Idiot angerufen habe, ist mit ein Rätsel.«

»Du hast es aber getan, und jetzt bin ich hier.«

Womöglich war Tom kurzzeitig verwirrt gewesen, als er anrief, vielleicht war es aber auch ein unbewusster Hilferuf. Mattias war es einerlei. Jetzt, wo er schon einmal hier war, wollte er die Gelegenheit nutzen und das Eisen schmieden, solange es heiß war.

Tom griff sich ein Shirt und begann es umständlich anzuziehen. »Bist du etwa aus Stockholm gekommen?«

»Nein, aus Karlsborg. Mit dem Flugzeug.«

Tom bedachte ihn mit einem skeptischen Blick. In Karlsborg, dieser Kleinstadt am Westufer des Vättersees, waren sie sich zum ersten Mal begegnet. Sie hatten dort einige Jahre lang gemeinsam studiert und zusammengearbeitet und wussten beide, dass von dort keine regulären Flüge starteten.

Doch Mattias hatte in der vergangenen Nacht Glück gehabt, und manchmal brauchte man eben ein wenig Glück. Glück und nicht zuletzt die richtigen Kontakte.

Er war an Heiligabend bei Freunden und Offizierskameraden in Karlsborg zum Weihnachtsessen eingeladen gewesen. Als Tom anrief, war er noch wach gewesen und hatte lesend im Gästezimmer im Bett gelegen.

Ein paar Telefonate später saß er bereits in einer dröhnenden Hercules auf dem Weg nach Norden. Eine Eliteeinheit hatte ihn mitgenommen und vor einer guten Stunde in Kiruna abgesetzt, bevor sie an einen geheimen Ort weiterflog. Er hatte sich ein Taxi zum Hotel genommen.

»Zieh dich an, dann können wir weiterreden«, forderte er seinen alten Freund auf.

»Ich bin ja schon dabei«, fauchte Tom.

Mattias betrachtete Tom, der das Shirt inzwischen übergestreift hatte und sich jetzt an seiner Hose zu schaffen machte. Tom und er waren ausgebildete Offiziere und Elitesoldaten, sodass ihnen gewisse Bewegungsabläufe in Fleisch und Blut übergegangen waren. Es tat nichts zur Sache, in welcher Situation man einen ehemaligen Offizier einer Eliteeinheit weckte, wie müde er war, oder ob er einen Kater hatte. Zwei Sekunden später war er dabei, sich anzukleiden, und bereit, in den Kampf zu ziehen. Doch Tom sah wirklich völlig fertig aus. Verwahrlost und ungepflegt. Sein muskulöser Körper war übersät mit Narben und schlecht verheilten Wunden, sodass selbst Mattias, der sich mit Gewalt und deren körperlichen Spuren auskannte, bei dem Gedanken daran unwohl wurde, welcher Tortur Tom ausgesetzt gewesen sein musste.

Tom fuhr sich mit der Hand durch seine zerzausten Haare und knöpfte sich die Hose zu, die ziemlich locker über seinen Hüften hing. Auch wenn sich Toms physische Erscheinung frappierend verändert hatte, war sie dennoch nicht das Entscheidende. Es war etwas anderes. Früher war Tom Lexington dafür bekannt gewesen, dass man ihm einen völlig aussichtslosen Auftrag erteilen oder ihn in feindlichem Territorium absetzen und darauf vertrauen konnte, dass er jede noch so schwere Aufgabe meisterte. Er war derjenige gewesen, an den man sich wandte, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft waren und die Lage hoffnungslos erschien. Nicht einmal, wenn Tom und Mattias gemeinsam bei einem Auftrag unterwegs gewesen waren, bei dem sie tage- oder nächtelang unter elendigen Bedingungen ausharrten, hatte er so ausgezehrt gewirkt wie jetzt. Als stünde er mit einem Fuß im Totenreich und wüsste nicht so recht, ob er noch zu den Lebenden oder schon zu denen gehörte, die bereits aufgegeben hatten. Seine Haare waren lang und glanzlos, sein Bart gewuchert, und unter den Augen hatte er dunkle Schatten. Aber es war nicht nur das. Mattias hatte Tom schon oft in verwahrlostem Zustand, mit wildem Bartwuchs und langen Haaren gesehen, denn manche Aufträge erforderten diese Art von Camouflage. Es war eher sein ausdrucksloser Blick, der ihn alarmierte. Und zum ersten Mal musste Mattias einsehen, dass dieses Gerücht, das in der Branche kursierte und das er sich standhaft weigerte zu glauben, vielleicht doch stimmte: dass Tom Lexington ein gebrochener Mann war.

»Ich brauche einen Kaffee«, krächzte Tom, während er sich Socken und Stiefel anzog.

Mattias machte einen weiteren Schritt in den Raum hinein. Es hatte keinen Sinn, hier zu stehen und weiter herumzuspekulieren. Er sah nirgends eine Tasche und auch keine Übernachtungsutensilien, sodass er annahm, dass Tom hier nicht dauerhaft lebte. Es störte ihn, nicht zu wissen, wo Tom in den letzten Monaten gewohnt hatte, denn es gefiel ihm nicht, uninformiert zu sein. Nicht zum ersten Mal seit der vergangenen Nacht streiften seine Gedanken das Unvorstellbare. Hatte Tom etwa im Hotel eingecheckt, um etwas Dummes zu tun? Männer mit Toms Hintergrund und schlimmen Traumata im Gepäck … Entgegen der gängigen Annahme war die häufigste Todesursache bei Soldaten von Toms Kaliber nicht die Gewalt, die vom Feind ausging, sondern Selbstmord. Diesen Gedanken hatte er schon die ganze Zeit im Hinterkopf gehabt, und deswegen war er auch so schnell wie möglich hergekommen. Es war zumindest einer der Gründe.

»Warum gehst du eigentlich nie ans Telefon?«, fragte er. »Ich hab dich schon den ganzen Herbst lang zu erreichen versucht.«

»Ich war beschäftigt«, entgegnete Tom, während er sich hinunterbeugte und seine Stiefel schnürte.

Mattias verschränkte die Arme vor der Brust. »Ach wirklich? Und womit?«

Tom bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Vor dir muss ich mich ja wohl nicht rechtfertigen. Das ist doch hoffentlich verdammt klar.«

»Ich weiß, es war ja nur eine Frage.«

Ein weiterer wütender Blick. »Dieser Tag fängt ja wirklich gut an.«

Im Stillen dachte Mattias, dass Tom wahrscheinlich schon eine ganze Weile lang keine guten Tage mehr erlebt hatte. Zwar war die Fähigkeit dieses Mannes, Qualen auszuhalten, die eigentlich für einen Menschen unerträglich waren, ganz sicher weitaus größer als bei den meisten Leuten, und während ihrer Manöver bei Karlsborg hatte Tom stets verlässlich und effizient wie ein Roboter agiert und war nahezu unverwundbar gewesen. Aber alle Menschen hatten irgendeinen Schwachpunkt. Ausnahmslos.

»Können wir uns vielleicht unten weiterunterhalten? Im Restaurant wird gerade Frühstück serviert, vielleicht können wir uns dort hinsetzen.«

Doch Tom schüttelte den Kopf. »Ich gehe auf keinen Fall hinunter in den Frühstücksraum. Ich habe etwas Blödes gemacht … Jemanden getroffen …« Er verstummte und verzog das Gesicht. »Ich will einfach nur weg von hier.«

»Vielleicht zu dir nach Hause?«, fragte Mattias entgegenkommend. »Du hast doch hier irgendwo eine Bleibe, oder nicht? Oder haust du etwa in deinem Wagen?«

»Ich habe ein Haus. Dort können wir hinfahren. Aber nur, damit du endlich Ruhe gibst. Gib mir zwei Minuten.« Tom nahm sein Portemonnaie und seine Schlüssel an sich, steckte beides in die Hosentasche und ging in Richtung Bad.

»Aber ich nehme die Autoschlüssel, und ich fahre«, rief Mattias ihm nach. Im Zimmer stank es nach abgestandenem Alkohol, und Tom würde innerhalb der nächsten Stunden nicht in der Verfassung sein, selbst zu fahren.

Tom schien zu zögern. »Draußen ist es sauglatt, du hast einen Kater, und du willst ja wohl nicht irgendwen totfahren. Also fahre ich, okay?«, sagte Mattias entgegenkommend. Freundlichkeit war oftmals das effektivste Mittel, um die Leute zu manipulieren. Nicht zuletzt, wenn sie gerade in einer Krise steckten. Außerdem war Tom schon immer vernünftig gewesen.

Tom stieß einen Fluch aus, zog jedoch die Autoschlüssel wieder aus der Tasche. Er warf sie Mattias zu, der sie blind auffing.

»Du musst wohl immer den dicken Macker raushängen lassen, oder?«, meinte Tom und verschwand im Bad.

Zehn Minuten später verließen sie Kiruna.

Mattias stand vor Toms Küchenfenster und betrachtete den Wald und die verschneiten Wiesen, während Tom ihnen beiden einen Kaffee machte.

»Ich hab völlig vergessen, wie kalt es hier oben ist«, sagte Mattias und folgte mit dem Blick einem Reh, das gerade zwischen den Baumstämmen verschwand. Der Schnee war nicht gerade sein Lieblingselement, während Tom, der seine militärische Laufbahn hier oben im mythenumwobenen Feldjägerregiment begonnen hatte, Schnee schon immer geliebt hatte. Mattias hatte zur selben Zeit die Dolmetscherschule der Schwedischen Streitkräfte in Uppsala besucht, die ebenso mythenumwoben war. Sie hatten einander schon immer gut ergänzt.

»Ich kann es noch immer nicht fassen, dass es jetzt schon fast zehn Jahre her ist, dass wir in Karlsborg angefangen haben«, fuhr Mattias mit seinem Monolog fort, während Tom schweigend und mit verbissener Miene zwei Kaffeebecher aus dem Schrank holte. »Die Zeit rast nur so dahin«, fügte er hinzu.

Tom zog angesichts dieser Floskeln nur die Augenbrauen hoch.

Sie beide waren im selben Jahr in der Eliteeinheit in Karlsborg angenommen worden und hatten beide die gut einjährige Ausbildung erfolgreich absolviert, was längst nicht allen gelang. Die Selektion vor und während der Ausbildung war unbarmherzig. Ein Teil der Auszubildenden kam mit dem permanenten physischen und psychischen Druck nicht zurecht, während andere schlicht und einfach nicht smart genug waren. Manchmal wurden bis zu neunzig Prozent eines Jahrgangs ausgemustert.

Ohne ein Wort reichte Tom ihm einen Becher mit Kaffee, der zum Glück in einer modernen Maschine gebrüht worden war. Mattias hatte den traditionellen norrländischen Kochkaffee noch nie gemocht. Er nahm den Becher entgegen. Tom hatte ihn, ohne zu fragen, schwarz serviert; er schien sich also an seine Gewohnheiten zu erinnern. Toms Erinnerungsvermögen war sowohl ein Segen als auch ein Fluch. Mattias trank den Kaffee mit Genuss.

Tom stand mit der Hüfte gegen die Arbeitsplatte gelehnt, sein Blick schien weit in die Ferne gerichtet, während er seinen Kaffee trank.

Mattias überlegte, wie er sich am besten seinem zweiten Anliegen nähern sollte. Den ganzen Herbst lang hatte er versucht, Kontakt zu Tom aufzunehmen. Doch jetzt, da sich ihm die Gelegenheit bot, musste er behutsam vorgehen.

»Du hast wirklich ziemlich kompetentes Personal bei Lodestar«, begann er bedächtig.

Tom entgegnete nichts und bedachte ihn nur mit einem Blick, der besagte, dass er genau wusste, was Mattias im Sinn hatte. Er versuchte ihn zu bezirzen. Doch das spielte jetzt keine Rolle.

»Niemand dort wollte mir deinen Aufenthaltsort nennen.« Toms Angestellte verhielten sich ihrem Chef gegenüber loyal. Sie hatten sich mit keiner Silbe verraten und auch keinerlei Informationen herausgegeben. Tom hatte schon immer die Fähigkeit besessen, seine Leute dazu zu bringen, ihr Bestes zu geben. Die besten Chefs waren diejenigen, die einen starken Zusammenhalt förderten. Auf dem Markt tummelten sich viele extrem unprofessionelle Sicherheitsunternehmen, aber vermutlich nur eine Handvoll professionelle. Doch Toms Lodestar war eine der besten Adressen. Wenn man das Unternehmen konsultierte, wurde man mit einer Kompetenz von Weltklasse konfrontiert.

Tom schwieg noch immer, doch damit hatte Mattias gerechnet. Alles wäre natürlich bedeutend einfacher gewesen, wenn er Tom nicht vor langer Zeit einmal verraten hätte. Wie viele Probleme dies alles nur nach sich gezogen hatte.

Insgesamt zehn Jahre seines Lebens hatte Tom den Schwedischen Streitkräften und seinem Vaterland geopfert. Anfänglich beim Wehrdienst, dann während seiner Offiziersausbildung und danach noch gut zwei Jahre in der Eliteeinheit, bevor er schließlich seinen Job kündigte, nachdem Mattias ihm in den Rücken gefallen war. Danach hatte sich Tom dem privaten Sicherheitssektor zugewandt. Anfänglich hatte er für ein ausländisches Unternehmen gearbeitet und sein Leben im Irak, in Syrien und Liberia aufs Spiel gesetzt. Danach war er wieder nach Schweden zurückgekehrt. Die Nachfrage nach Männern (und selten auch Frauen) mit Toms Ausbildung, Kompetenz und Erfahrung war enorm groß, sodass Mattias davon ausging, dass sich Tom seinen Job hatte aussuchen können. Er hatte bei der kleinen Lodestar Security Group angefangen. In der Pressemitteilung hatte gestanden, dass er als Geschäftsführer eingestellt worden war. Was ein solcher Rang in einem Unternehmen wie diesem in der Praxis wert war, darüber konnte Mattias nur spekulieren. Unter Toms Führung hatte sich Lodestar innerhalb weniger Jahre an der Weltspitze etabliert. Im internationalen Vergleich war das skandinavische Sicherheitsunternehmen zwar relativ klein, doch nach den Auskünften, die Mattias eingeholt hatte, besaß es ein gutes Renommee. Doch plötzlich schien es, als wäre der Geschäftsführer nach Kiruna ausgewandert. Warum nur? Tom war noch relativ jung, und mit knapp siebenunddreißig Jahren müsste er eigentlich in der Blüte seines Lebens stehen und nicht wie ein Wrack aussehen und irgendwo draußen im Wald hausen.

»In der Firma weiß niemand, dass ich hier bin«, sagte Tom und brach das lange Schweigen. »Ich musste ein wenig allein sein, um ein paar Dinge zu klären.«

Und was für Dinge?, dachte Mattias, war sich jedoch im Klaren darüber, dass er diese Frage lieber nicht stellen sollte.

»Die Leute fragen nach dir«, entgegnete er stattdessen.

»Die Leute?«

Mattias stellte seinen Kaffeebecher ab. Alle möglichen Leute fragten nach ihm. Aber vor allem war er selbst neugierig. Denn dieses Verhalten entsprach ganz und gar nicht Toms Art. Einfach allem zu entfliehen, seine Kollegen nicht zu informieren und seine Kameraden im Stich zu lassen.

»Und was machst du hier oben?« Tom hatte, soweit Mattias informiert war, keine Kontakte mehr in dieser Gegend. Und er wusste fast alles über Tom Lexington.

Vater tot. Mutter und drei Schwestern mit ihren Familien irgendwo in Stockholm wohnhaft. Tom hatte eine Arbeit, bei der er ein Heidengeld verdiente, und eine frisch erstandene Wohnung in der Innenstadt. Er führte also ein materiell ansprechendes Leben. Klar, er war in Gefangenschaft gewesen, aber er hatte überlebt und sich Hilfe geholt. Er war ein erfahrener Elitesoldat mit harter Schale und dickem Fell. Eigentlich dürfte ihm der Vorfall nicht das Genick gebrochen haben. Oder etwa doch?

Tom schüttelte abwehrend den Kopf, trank seinen Kaffee und versank wieder in Schweigen.

»Hast du hier einen Job zu erledigen?«, fragte Mattias weiter. Bei Vernehmungen bestand seine Taktik oftmals darin, den Leuten ein ums andere Mal dieselben arglosen Fragen zu stellen und auf diese Weise winzige Puzzleteile an Informationen aneinanderzufügen. Hier oben gab es für einen Experten wie Tom nichts zu tun, solange nicht die Russen einmarschierten. Doch davon hätte Mattias längst erfahren.

»Sehe ich denn so aus, als ob ich arbeite?«, fragte Tom trocken.

Nein, er sah aus wie ein Penner, dachte Mattias im Stillen. Erneut breitete sich Schweigen aus.

Mattias wartete. Von draußen war kein einziges Geräusch zu hören, keine Autos, keine Flugzeuge, nichts.

Geduldig wartete er weiter. Tom war schon immer ein sturer Bock gewesen. Klar, was er Tom angetan hatte, war nicht gerade die feine Art gewesen. Und vielleicht – nur vielleicht – hätte er heute anders gehandelt, aber dennoch …

»Inzwischen sind ziemlich viele Jahre vergangen. Wann hast du eigentlich endlich vor, mir zu verzeihen?«

»Verzeihen ist ein Scheißwort. Als würde man jemandem so einfach verzeihen können.«

»Vielleicht nicht. Aber es tut mir leid, und ich bitte dich um Verzeihung. Ein weiteres Mal.«

»Fick dich.«

Mattias seufzte. »Du bist wirklich verdammt nachtragend. Aber das warst du ja schon immer.«

Tom schnaubte lediglich.

Mattias überlegte, wie er Tom zu einer Prügelei provozieren könnte. Vielleicht würde es helfen, den Konflikt in klassischer Art und Weise mit den Fäusten zu lösen, damit die Luft wieder rein wurde? Doch zum einen waren sie für solche kindischen Allüren zu alt, zum anderen würde Tom ihm selbst aus seiner geschwächten Position heraus höchstwahrscheinlich die Scheiße aus dem Leib prügeln.

»Jetzt komm schon. Was machst du hier in Kiruna? Warum führst du dich wie ein verfluchter Eremit auf?«

Tom kratzte sich im Nacken und stellte seinen Becher in die Spüle. Dann ließ er sich auf einen Stuhl fallen.

Mattias setzte sich ihm gegenüber.

»Ellinor wohnt hier«, sagte Tom schließlich.

Aha. Ein Puzzleteil. Ellinor Bergman.

In einer Branche, in der gescheiterte Beziehungen eher die Regel darstellten, waren Tom Lexington und Ellinor Bergman die Ausnahme gewesen. Ein Paar, von dem alle annahmen, dass sie ein Leben lang zusammenbleiben würden. Was aber nur einmal mehr zeigte, dass man es nie wissen konnte. Mattias betrachtete Toms gequälten Gesichtsausdruck. Da war noch etwas, das nicht stimmte. Tom und Ellinor hatten sich im vergangenen Frühjahr getrennt und waren nicht mehr unter derselben Adresse gemeldet.

»Seid ihr wieder zusammen?«, versuchte Mattias, das Rätsel zu lösen.

»Nein.«

»Aber sie ist auch hier in Kiruna?«

»Ja.«

»Aha. Also?«

Ellinor ging irgendeinem typisch weiblichen Beruf nach, wenn er es richtig in Erinnerung hatte. Etwas, das mit Pflege zu tun hatte wie Erzieherin oder Krankenschwester. Nein, es war irgendwas anderes.

»Sie wohnt inzwischen hier und arbeitet in der Schule«, erklärte Tom.

Stimmt. Lehrerin.

»Und ist mit einem anderen Mann zusammen.«

Jetzt begriff er. Ellinor hatte sich ein neues Leben aufgebaut, während Tom … das nicht getan hatte.

Mattias lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schlug ein Bein übers andere. »Du bist also hier, um …?«

Tom starrte neben ihm ins Leere. Mattias betrachtete ihn mit seinen dunklen Ringen unter den Augen und dem gehetzten Blick.

»Ich muss mich in Ruhe mit Ellinor unterhalten«, sagte Tom schließlich. »Sie kann es einfach nicht ernst meinen. Ich muss zu ihr und mit ihr reden.«

Großer Gott! Mattias versuchte seinen Schock zu verbergen. Tom war wirklich übel dran.

»Du verstehst es nicht. Ich werde sie schon umstimmen.«

Was schon viele Männer vor ihm gesagt hatten, die verlassen worden waren. Das hätte er nie von Tom gedacht. Aber es erklärte seinen Zustand. Erst die Gefangenschaft und die Folter, und dann war auch noch seine Beziehung in die Brüche gegangen. »Warst du deshalb im Hotel? Wohnt Ellinor dort?«

»Nein. Ich war dort, um mich volllaufen zu lassen und habe zufällig eine Journalistin getroffen. Wir haben zusammen gesoffen, und ich hatte einiges intus. Wir … ich glaube, ich habe mich wie ein Arsch aufgeführt.« Er rieb sich die Augen. »Warum bist du eigentlich hier, Mattias?«

Die Stunde der Wahrheit.

»Das hier muss aber unter uns bleiben. Ich habe von meinem Oberbefehlshaber den Auftrag erhalten, eine Antiterroreinheit auf die Beine zu stellen, die Bedrohungen für unser Land bewerten und analysieren soll. Sie wird eine übergeordnete Einheit innerhalb der Streitkräfte darstellen, und ich darf sie ganz nach meinen Wünschen zusammenstellen. Eine kleine, aber feine Eliteeinheit mit Spitzenkompetenz in diversen Bereichen. Ich habe schon angefangen, Gespräche zu führen. Nicht nur mit Militärs, sondern auch mit Kryptologen, Akademikern und Hackern.«

»Dann hat sich dein OB ja den Richtigen ausgesucht. Klingt wie der perfekte Job für einen Meisterspion«, entgegnete Tom trocken.

Mattias betrachtete ihn eingehend. »Ich will dich dabeihaben.«

»Das meinst du nicht ernst, oder?«

»Warum nicht?« Toms analytische Fähigkeiten und Felderfahrungen waren unübertroffen. Er würde eine enorme Bereicherung für das Team sein. Mattias hatte Tom für diesen Job schon haben wollen, seit er im Sommer freie Hand bekommen hatte. Er war zwar in erster Linie hergekommen, weil es Tom schlecht ging, doch es käme fast einem Dienstvergehen gleich, wenn er die einzigartige Chance ungenutzt lassen und nicht wenigstens den Versuch unternehmen würde, einen Mann mit Toms Kompetenzen anzuwerben. »Ob wir es nun wollen oder nicht, aber in Schweden herrscht Krieg, und zwar ein gewaltiger Informationskrieg. Du kannst ja wenigstens drüber nachdenken, oder?«

Tom verschränkte mit einer abweisenden Geste die Arme vor der Brust. »Ich hab andere Dinge zu tun.«

Mattias betrachtete seine Fingernägel. »Und, wie kommst du mit diesen anderen Dingen deiner Meinung nach voran?«, fragte er leichthin.

Tom antwortete nicht. Stattdessen knurrte sein Magen.

Mattias schaute auf die Uhr. Bald Mittagszeit. Er selbst hatte noch nichts gegessen, seit er in Karlsborg losgeflogen war. »Hast du Hunger?«, fragte er.

Tom zuckte mit den Achseln, doch sein Magen knurrte erneut. »Ich hab ein paar Konserven da. Du kannst ja irgendwas zusammenrühren.«

Mattias beschloss, sich damit erst einmal zufriedenzugeben. Wenn man eine Person auf seine Seite ziehen wollte, lautete die erste Regel, deren Bedürfnisse zu ergründen und zu stillen. Tom war schon immer übellaunig gewesen, wenn er nichts zu essen bekommen hatte.

»Dann zauber ich uns mal was Schönes.«

Tom hörte, wie Mattias in der Küche herumhantierte. Er lehnte sich zurück und schloss für eine Weile die Augen. Mattias ging ihm furchtbar auf die Nerven. Aber er hatte Hunger, und Mattias hatte schon immer ein Händchen fürs Kochen. Vielleicht sollte er also lieber bis nach dem Essen warten, bevor er ihn rausschmiss. Seine Wut auf Mattias hatte zumindest den Vorteil, dass sie ihn von dem peinlichen Intermezzo mit Ambra Vinter ablenkte. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Verdammt auch, was für ein Fiasko.

Schon bald duftete es aus den köchelnden Töpfen auf dem Herd, und er stellte fest, dass er einen Bärenhunger hatte.

»Es gibt Pasta mit Pilzen, Käse und gefriergetrockneter Sahne.« Langes, nachdenkliches Schweigen. »Glaube ich zumindest, da sich der Inhalt einiger Konserven ziemlich gleicht. Hast du eigentlich schon mal was von frischen Lebensmitteln gehört?«

Doch der Duft, der sich in der Küche ausbreitete, war keineswegs unappetitlich, und als Mattias Toms Teller gefüllt hatte, aß er hungrig. Nach dem Essen stellte Mattias das Geschirr in die Spülmaschine, während Tom Kaffee kochte, diesmal eine ganze Kanne. Sie setzten sich wieder an den Küchentisch und unterhielten sich eine Weile über Autos und übers Wetter, nicht gerade ungezwungen, aber nicht mehr ganz so angespannt wie zuvor.

»Gehört das Haus dir?«, fragte Mattias, während er sich Kaffee nachschenkte.

»Nein«, antwortete Tom, führte seine Antwort jedoch nicht näher aus. Es ging Mattias gar nichts an. Im Frühjahr hatte Tom einen Neunzehnjährigen aus einer Geiselhaft in Somalia befreit, kurz bevor er von Islamisten hingerichtet werden sollte. Der Junge war der einzige Sohn eines norwegischen Ölmilliardärs, und die Luxusvilla gehörte dem dankbaren Vater. Tom durfte sie nutzen, wann immer er wollte. Mattias stellte ihm diverse allgemeine Fragen zum Haus, und Tom erzählte ihm, dass es eine große Garage, mehrere Schlafzimmer und ein Billardzimmer beherbergte.

»Und außerdem noch eine Sauna«, fügte er hinzu. Mattias war zwar schwedischer Staatsbürger, aber der Sohn einer Åländerin und hatte somit eine leidenschaftliche Vorliebe fürs Saunieren. Mattias gab zu bedenken, dass man auf dem riesigen Grundstück ziemlich viel Schnee schippen müsste, doch Tom versicherte ihm, dass eine nagelneue Schneefräse in der Garage stünde. Unkomplizierte männliche Gesprächsthemen. Mattias war schon immer gut darin gewesen, Small Talk über dies und jenes zu halten und interessierte Fragen zu stellen, bis sich die Leute sicher fühlten. Das Problem bestand allerdings darin, dass man bei ihm nie wusste, ob er es nur als Spiel ansah, denn er war ein meisterlicher Manipulator. Offiziell arbeitete Mattias als Forscher an der Militärakademie, doch Tom hatte schon immer den Verdacht gehegt, dass es sich dabei nur um einen Deckmantel handelte, was er jetzt bestätigt sah. Smart, wie er war, hatte Mattias sich vom MUST rekrutieren lassen, dem Nachrichtendienst der Schwedischen Streitkräfte. Er war der geborene Spion, er sprach fließend Russisch, Französisch, Arabisch und Persisch und war mit Abstand der beste Vernehmungsleiter, dem Tom je begegnet war, weil er diplomatisch und gebildet auftrat und die Leute es so unglaublich angenehm fanden, mit ihm zu reden.

Gleichzeitig war Mattias der aalglatteste Falschspieler, dem er je begegnet war.

In der Eliteeinheit waren allen Mitgliedern Codenamen zugeteilt worden, bevor sie auf ihre Kurskameraden trafen, was zur Folge hatte, dass man jahrelang zusammenarbeiten und nebeneinander kämpfen konnte, ohne den richtigen Namen seines Kameraden zu kennen. Irgendwer wurde Mast genannt, weil er so groß war. Andere wiederum hatten neutrale Codenamen wie Olsson. Tom hatte während seiner Ausbildung beispielsweise mit fünf Olssons zu tun gehabt. Ein Typ aus Mora wurde Doktor genannt, weil er ein Teufel darin war, Wunden zusammenzuflicken. Tom war aufgrund seiner schwarzen Haare und seiner bärenhaften Größe der Grizzly gewesen. Mattias Ceder der Fuchs. Nicht weil er aussah wie einer, sondern weil er so verdammt schlau war. Der Fuchs besaß die Fähigkeit, sich ohne jegliche Gewalt oder gar Foltermethoden und ausschließlich mittels Gesprächen in die Psyche eines jeden Menschen hineinzuversetzen.

»Alle haben das Bedürfnis, sich irgendwie mitzuteilen, jeder will, dass man ihm zuhört«, erklärte Mattias immer. Es war zwar nicht unbedingt besonders actionreich, aber effektiv. Mit seinen ruhigen, beharrlichen Fragen erzielte er Ergebnisse, die man mit keiner Folter der Welt erreichen konnte. »Einen Menschen zu schlagen, ist nicht besonders erfolgversprechend, da er am Ende nur spricht, um den Schlägen zu entgehen. Aber an die menschliche Vernunft zu appellieren, ist viel subtiler«, sagte er und entlockte einem schließlich auch das letzte Geheimnis.

Tom streckte seine Beine vor sich aus. Er konnte durchaus mit zehn Füchsen fertig werden. Er würde ihm aus reiner Höflichkeit und zum Dank fürs Essen noch eine Weile zuhören. Doch wenn der Typ ihm mit seinem Gerede auf die Nerven ging, würde er ihn rausschmeißen. Dann konnte der schlaue Fuchs draußen die Schneewehen vollquatschen, während er langsam, aber sicher erfror.

Tom nippte an seinem Kaffee.

Ja, er empfand durchaus eine gewisse Genugtuung bei dem Gedanken daran, Mattias Ceder in den Wald hinauszubefördern, wenn er zu viele idiotische Dinge von sich gäbe. Tom legte eine Hand auf den Tisch und betrachtete Mattias mit kühlem Blick. Dies wäre jedenfalls sein Plan B.