12

Ambra kniff die Augen zusammen. Wenn sie ganz still liegen blieb und die Augen geschlossen hielt, würde sie vielleicht noch einmal einschlafen können.

Nur kein Selbstmitleid, ermahnte sie sich. Sich lächerlich zu machen, war schließlich kein Weltuntergang. Es gab definitiv Schlimmeres. Man denke nur an Leute, die Krebs haben, an Kriegsflüchtlinge oder an all die Menschen, die ihre Flucht vor Bomben und Hungersnöten nicht überleben.

Plötzlich brach ihr der kalte Schweiß aus. Sie schluckte und schluckte, bis sie den Brechreiz nicht mehr unterdrücken konnte. Sie sprang rasch aus dem Bett und schaffte es gerade noch, die Klobrille hochzuklappen, bevor sie sich übergeben musste.

Danach sank sie hinunter auf den eiskalten Steinfußboden.

Auch wenn es in der Tat Schlimmeres gab, bekam sie Panik. Puh, wie gern sie jetzt in der Haut eines anderen gesteckt hätte.

Sie rieb sich schniefend die Stirn und kam langsam wieder zum Stehen hoch. Als ihr schwarz vor Augen wurde, musste sie sich am Waschbecken festhalten, um nicht zusammenzusacken. Sie wartete, bis sich der Schwindel gelegt hatte, schlürfte dann etwas Wasser direkt aus dem Hahn, wobei sie es vermied, in den Spiegel zu schauen, und schleppte sich dann zurück zu ihrem Hotelbett.

Heute Nachmittag war sie mit Elsa verabredet. Hoffentlich würde es ihr bis dahin wieder besser gehen. Außerdem hoffte sie, dass Elsa bereit sein würde zu reden, ansonsten wäre diese schreckliche Reise hierher völlig für die Katz gewesen. Allerdings wäre es von Vorteil, wenn ihr Gehirn bis dahin wieder einigermaßen funktionieren würde. Großer Gott, sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal an einem Arbeitstag einen solchen Kater gehabt hatte. Wahrscheinlich noch nie.

Ambra zog sich die Decke über den Kopf und versuchte sich vorzustellen, was noch schlimmer wäre, als an Heiligabend unmittelbar vor ihrem Hotelzimmer von einem Mann zurückgewiesen zu werden, doch ihr fiel nichts ein. Der Kuss … Oh Gott, dieser Kuss! Tom konnte wirklich küssen, was die Sache nur noch verschlimmerte. Sie stöhnte unter der Decke auf. In ein paar Tagen würde sie diesen Vorfall längst vergessen haben, aber im Augenblick wünschte sie sich nur sehnlichst, die Zeit zurückzudrehen, um alles anders machen zu können. Dann würde sie Heiligabend allein in ihrem Hotelzimmer verbringen und niemals unten in der Bar eine Unterhaltung mit Tom Lexington beginnen, geschweige denn sich von ihm angezogen fühlen und eine Lust verspüren, die sie fälschlicherweise meinte, in seinem Blick ebenfalls wahrgenommen zu haben.

Sie warf die Bettdecke zur Seite. Was sie jetzt brauchte, waren frische Luft und eine Schachtel Kopfschmerztabletten. Eigentlich war ihr klar, dass der Vorfall von gestern Nacht keinen Einfluss auf ihre Zukunft hätte. Sie würde Tom vermutlich nie wiedersehen. Er bedeutete ihr nichts. Und ganz sicher würde sie irgendwann einem anderen Mann begegnen, der sie nicht so abstoßend fand, dass er ihre offenkundigen Avancen ablehnte. Verstandesmäßig betrachtet wusste sie all das, doch leider war ihr gesunder Menschenverstand im Augenblick nicht ganz auf der Höhe, sodass die Panik und ihre Scham freie Bahn hatten. Sie rieb sich die Augen. Unter ihren Fingern zerbröselte der Mascara vom Vorabend regelrecht, und zudem hatte sie in den Klamotten geschlafen, die sie gestern den ganzen Tag lang getragen hatte. Ihr Plan lautete also, zu duschen, irgendwo Kopfschmerztabletten aufzutreiben, sich einen großen Becher Kaffee zu genehmigen und dann ihr Interview vorzubereiten. Außerdem wäre es wichtig, alles zu vergessen, was mit Tom Lexington zu tun hatte.

Ihr Handyakku war beinahe leer, sodass sie sich aufrappelte, ihr Ladegerät herauskramte, kurz bei Twitter, Instagram und Facebook reinschaute und ihre Mails checkte, wobei sie feststellte, dass kein Dritter Weltkrieg ausgebrochen war, während sie ihren Rausch ausgeschlafen hatte. Dann legte sie sich wieder zurück aufs Bett, wo sie von einer weiteren Welle der Übelkeit erfasst wurde. Gleich nach dem Interview würde sie raus zum Flughafen fahren und nach Hause fliegen. Oh Gott, wie sehr sie sich von Kiruna wegsehnte und sich auf Stockholm freute. Sie hatte noch einen Platz in einer der überbuchten Maschinen bekommen und schwor sich hier und jetzt, nie wieder auch nur einen Fuß in diese Stadt zu setzen, selbst wenn man sie deshalb bei der Zeitung entlassen würde. Ihre Arbeit bedeutete ihr alles, und sie ließ sich wirklich zu vielem überreden, aber noch tiefer zu sinken als gestern Nacht würde sie nicht zulassen.

Völlig ermattet wartete sie, bis eine weitere Welle der Übelkeit abgeklungen war, und schleppte sich dann in die Dusche, wo sie sich ihre Schminke aus dem Gesicht spülte, ihren Körper abbrauste und sich die Haare wusch. Nachdem sie ein paar frische Klamotten angezogen hatte, stieg ihr Selbstwertgefühl ein wenig, und als sie zum Frühstück hinunterkam, ohne Tom zu begegnen (Albtraum!), meinte sie, das Ganze vielleicht doch zu überleben. Sie würde das Interview mit Elsa führen und dann diese gottverfluchte Stadt ein für alle Mal verlassen.

Mit einem Becher dampfenden Kaffees neben sich klappte sie ihren Laptop auf. Sie kam nur langsam voran, aber schließlich gelang es ihr, einige Fragen zu formulieren und ihre Anmerkungen noch einmal durchzugehen. Nach einem zweiten Becher Kaffee und einem belegten Brot fühlte sie sich schon halbwegs wiederhergestellt. Als das Frühstücksbüfett abgeräumt wurde, war es ihr gelungen, ihre Panik abzuschütteln, und sie fühlte sich wieder fast wie ein normaler Mensch.

Wie gesagt, ihre Arbeit war ihr bester Freund.

Gegen halb elf nahm Ambra zwei weitere Aspirin und hoffte, dass ihr Magen und ihre Leber nicht aufmucken würden, packte ihre Kulturtasche und ihre restliche Kleidung ein, vergewisserte sich noch einmal, dass sie nichts vergessen hatte, und schloss ihren Koffer. Um fünfzehn Uhr war sie mit Elsa verabredet, und ihr Rückflug ging um zwanzig Uhr. Da sie noch ein wenig Zeit hatte, beschloss sie zur Bekämpfung ihres Katers einen Spaziergang zu unternehmen. Schließlich setzte sie ihre Mütze auf, wickelte sich ihr Tuch um den Hals, schloss den Reißverschluss ihrer Jacke, zog sich ihre Fäustlinge an, checkte aus und verließ das Hotel durch die gläserne Drehtür.

Die verschneiten Straßen waren völlig menschenleer. Heute am ersten Weihnachtsfeiertag waren alle Geschäfte geschlossen, nicht einmal die Würstchenbude unten an der Bushaltestelle hatte geöffnet. Sie geriet auf dem Schnee ins Rutschen. Ein einsamer Tretschlitten zog an ihr vorbei, jemand führte seinen Hund aus, aber ansonsten war die Stadt wie ausgestorben. Die kalte Luft tat ihr gut, und ihre Kopfschmerzen ließen allmählich nach. Sie stapfte einen Hügel hinauf und warf fröstelnd einen Blick in mehrere Schaufenster, während sie den Rückflug am heutigen Abend herbeisehnte.

Aber sie freute sich auch auf ihren nachmittäglichen Besuch bei Elsa, auch wenn sie hoffte, dass die alte Dame in Erzähllaune war, und der Artikel richtig gut werden würde. Sie gelobte sich, ihre Schilderung des Sex-Camps so würdig wie nur möglich zu formulieren.

Sie bog in eine weitere menschenleere Straße ein und kam an Elsas rosafarbenem Hochhaus vorbei, doch es war noch viel zu früh, um bei ihr zu klingeln, sodass sie ihren Spaziergang fortsetzte.

Mit seinen achtzehntausend Einwohnern war Kiruna eine Kleinstadt, deren Straßen sie relativ schnell abgelaufen hatte, sodass sie einen Parkplatz überquerte und die Innenstadt verließ. Allmählich wurde ihr warm.

Dann erblickte sie oben auf einer Anhöhe die große rote Kirche. Sie war eines der Wahrzeichen Kirunas, denen sie bislang ausgewichen war. Sollte sie es wagen, sie aufzusuchen? Die Fassade war angestrahlt, und jede Menge Leute strömten den Hügel hinauf. Ambra zögerte, folgte dann jedoch langsam dem Menschenstrom, bis sie vor einer Informationstafel mit Veranstaltungshinweisen stehen blieb. Demnächst erwartete man einen finnischen Prediger, eine Mitternachtsmesse würde abgehalten werden, ein … Plötzlich erregten eine Bewegung im Augenwinkel und irgendeine andere Empfindung, vermutlich ein Geräusch, ihre Aufmerksamkeit, und sie drehte langsam den Kopf. Die Härchen auf ihren Armen richteten sich auf, und ihr Mund wurde ganz trocken. Sie traute sich kaum hinzuschauen, aus Angst, wiedererkannt zu werden. Oder hatte sie sich etwa getäuscht?

Nein, er war es tatsächlich. Nicht als Erinnerungsfetzen, sondern leibhaftig, Esaias Sventin. Ihr wurde schwindelig, als wäre sie zu abrupt aufgestanden. Doch er sah sie nicht, obwohl er so dicht an ihr vorbeiging, dass sie meinte, seinen ekelerregenden Geruch wahrzunehmen. Sie war sich ganz sicher. Hinter ihm ging Rakel Sventin, seine Ehefrau, mit Zopf, Kopftuch und allen anderen Ambra bekannten Merkmalen.

Ambra brach der Schweiß aus. Sie waren es wirklich. Die Kirche öffnete ihnen also noch immer ihre Pforten. Den Laestadianern. Dieser verrückten Sekte. Es war ein Skandal. Eigentlich müsste es verboten werden, dass sie sich in der Schwedischen Kirche aufhielten oder gar dort predigten.

Ambra war gerade im Begriff, sich abzuwenden und zu fliehen, denn sie wollte nichts mit ihnen zu tun haben, als sie plötzlich etwas erblickte, das ihr vorher in der Menge nicht aufgefallen war. Esaias und Rakel waren nicht allein. Zwei Kinder gingen zwischen ihnen.

Ambra schaute ihnen nach. Wer waren die beiden? Ihre Enkelkinder? Es waren doch wohl keine Pflegekinder, oder? Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass das Paar nach ihr keine weiteren Pflegekinder gehabt hatte, denn es war nur allzu offensichtlich gewesen, dass sie Ambra gehasst hatten. Und außerdem waren sie jetzt doch viel zu alt dafür, oder? Zögerlich folgte sie ihnen, denn sie musste noch fast eine ganze Stunde bis zu ihrem Treffen mit Elsa totschlagen.

Aus der Kirche war keine Musik zu hören, was sie nicht weiter verwunderte, denn Musik war ja in den Augen der Laestadianer eine Sünde. Sie blieb stehen und sah die Eheleute Sventin mit den beiden Kindern zwischen sich hineingehen. Die beiden Mädchen waren ungefähr zehn Jahre alt.

Ambra war zehn, als Esaias und Rakel sie zum ersten Mal mit in die Kirche nahmen. Vorher war sie noch nie in einem Gottesdienst gewesen, nur bei vereinzelten Schulabschlussfeiern in einer modernen Kirche aus hellem Holz, in der Vasen voller Sommerblumen standen und »Idas Sommerlied« auf dem Klavier gespielt wurde. Diese Kirche war von außen zwar rot angestrichen, innen aber dunkel und schwarz. Ein leises Murmeln stieg zur Decke auf. In den Bankreihen saßen vorwiegend alte Menschen mit schwarzen Bibeln in den Händen. In den Kirchen der Laestadianer redeten und predigten nur die Männer. Nachdem es Ambra vorkam, als dauerte die Predigt schon eine Ewigkeit, begann sie sich auf der harten Holzbank zu winden. Ihre Füße erreichten nicht den Boden, und die Rückseiten ihrer Oberschenkel begannen zu schmerzen.

»Sitz still!«, sagte Esaias leise und drohend.

Sie saß so still, wie sie nur konnte, während es in ihren Pobacken zu kribbeln begann. Die Leute benahmen sich so merkwürdig. Als sie zur Seite linste, sah sie, dass die Frau neben ihr leise weinte.

Auch die Worte, die in der Predigt vorkamen, waren irgendwie merkwürdig. Ehebrecherinnen. Versuchungen. Dämonen. Sünder. Plötzlich stand ein Mann aus einer der ersten Bankreihen auf, und es brachen irgendwelche Worte aus ihm hervor, die sich anhörten, als käme er von einem anderen Planeten. Ambra starrte ihn an. Mehrere Menschen begannen zu weinen. Ambra hatte nichts zu essen bekommen, bevor sie herkamen, und verging fast vor Hunger. Sie wurde allmählich unruhig.

»Sitz still!«

Sie bemühte sich redlich, doch jetzt war einer ihrer Füße eingeschlafen, und ihr Bein tat weh. Sie versuchte es leicht anzuheben.

Esaias ergriff ihren Arm so fest, dass sie wimmerte. Dann legte er ihr seine große, übel riechende Hand auf den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Das ist der Teufel in dir. Sitz jetzt still, hab ich gesagt.« Dann packte er ihre Wange und kniff mit zwei Fingern so fest hinein, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Während ihr die Tränen hinunterrannen, traute sich Ambra nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Also hielt sie den Schmerz aus und blieb still sitzen.

Als der Gottesdienst endlich zu Ende war und sie nach Hause kamen, setzten sich die anderen an den Esstisch.

»Du bleibst stehen und guckst zu. Und nach dem Mittagessen erhältst du deine Strafe.«

Sie stand daneben, sah ihnen beim Essen zu und wartete voller Angst auf ihre Bestrafung. Vor ihrer Zeit bei den Sventins hatte sie auch schon von anderen Pflegeeltern einmal einen Klaps oder eine Ohrfeige bekommen. Eine Pflegemutter hatte sie an den Haaren gezogen, eine andere in den Arm gekniffen, und die älteren Kinder oder andere Angehörige, die meinten, ihre Aggressionen an wehrlosen Schwächeren auslassen zu können, hatten sie oft herumgeschubst. Aber Esaias schlug richtig zu. Prügelte mit einem Stock unablässig auf ihren Rücken und Hintern ein.

Hinterher keuchte er regelrecht, als wäre es anstrengend, ein kleines, wehrloses Kind zu schlagen. »Geh in dein Zimmer und leg dich ins Bett«, befahl er. Doch ihr Bettzeug war ganz nass, da irgendjemand Wasser darübergeschüttet hatte. Sie traute sich nicht, etwas zu sagen, sondern legte sich gehorsam hinein. Auch wenn sie schon vorher körperlich bestraft und beschimpft worden war, hatte man sie noch nie in dieser kalkulierenden systematischen Art und Weise gezüchtigt. Doch dieser Abend war erst der Anfang.

Ambra sah, wie sich das Kirchenportal hinter dem Paar mit den beiden Mädchen schloss, und blieb auf der Treppe davor stehen. Sie war noch völlig benommen von der Begegnung, und die Panik überwältigte sie fast, sodass sie unsicher war, was sie als Nächstes tun sollte. Was erwartete die beiden Mädchen da drinnen wohl gleich?

»Alles in Ordnung?«, hörte sie eine freundliche Stimme hinter sich fragen. Sie drehte sich um und erblickte eine Frau in ihrem Alter mit langen blonden Haaren unter einer hellen Pelzmütze, die sie bis über die Ohren hinuntergezogen hatte. Sie trug einen weißen Overall und schneeweiße Pelzstiefel und sah aus wie ein winterweißer Engel.

»Ja, doch«, antwortete Ambra zögerlich.

Die Frau lächelte. »Sie haben nur gerade aufgestöhnt«, sagte sie erklärend, während plötzlich ein wuscheliger kleiner weißer Hund neben ihr auftauchte. Jetzt fiel Ambra auf, dass die Frau eine Hundeleine in der Hand hielt und völlig normal aussah. Nicht wie eine verrückte Laestadianerin, sondern eine gewöhnliche Einwohnerin aus Kiruna mit weichem norrländischem Dialekt und diesem gesunden Aussehen, das Leute hatten, die sich oft an der frischen Luft aufhielten und auch dementsprechend kleideten.

Ambra nickte entschlossen. »Alles gut. Ich habe nur einen Kater«, erklärte sie, wobei sie das Gesicht verzog.

Die Frau musste kichern. »Sie sind nicht von hier, nicht wahr? Man hört es, wenn Sie reden.«

»Ich bin Journalistin und wegen einem Job hier.«

»Dann sind Sie also diejenige, die Elsa interviewt? Meine Mutter hat es von einer Freundin erfahren. Schön, Sie zu treffen.«

»Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr.«

»Sagen Sie Bescheid, wenn Sie bei irgendwas hier oben Hilfe benötigen«, meinte die Frau zuvorkommend. Sie zog ihren Handschuh aus und streckte Ambra ihre Hand entgegen. »Ich heiße Ellinor Bergman.«

»Kommen Sie rein, meine Liebe«, sagte Elsa, als Ambra um Punkt fünfzehn Uhr an ihrer Tür klingelte. Sie setzten sich wieder ins Wohnzimmer. Ambra sank in denselben Sessel und atmete mit einem leichten Stöhnen aus, noch immer aufgewühlt von der Begegnung mit den Sventins.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Elsa und musterte sie bekümmert.

Ambra zuckte abwehrend mit den Achseln. »Haben Sie über unser Gespräch nachgedacht?«, fragte sie stattdessen.

»Das hieße ja, endlich Farbe zu bekennen«, entgegnete Elsa. »Ich wohne schon mein Leben lang hier und war einundzwanzig, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Ich hab mich damals lange mit dem Gedanken getragen, hier oben ein Retreat aufzubauen, und zwar lange bevor die Leute wussten, was das eigentlich ist. Und das Ganze war ein voller Erfolg, schon gleich im ersten Jahr. Der Premierminister ist im allerersten Kurs dabei gewesen, 1958.«

»Haben Sie sich da ineinander verliebt?«, fragte Ambra. Seitdem war schon fast ein ganzes Leben vergangen.

Elsa schüttelte den Kopf. »Nicht richtig verliebt, jedenfalls ich nicht. Aber er war charmant, und dann kam eins zum anderen, wie man so sagt, und ich wurde schwanger. Ich war nicht mehr gerade blutjung, für die Zeit damals schon gar nicht, und ich wollte das Kind wirklich gern behalten. Außerdem war Ingrid da schon in mein Leben getreten. Wir haben uns heftig ineinander verguckt. Eine ganz große Liebe, im Alter von fast vierzig.«

»Hatten Sie schon vorher Interesse an Frauen gehabt?«

»Nein. Ich wusste zwar, dass es lesbische Frauen gibt, aber ich hatte nie in diese Richtung gedacht. Es war wie ein Wunder, dass ich Ingrid begegnet bin. In vielerlei Hinsicht wurde mein Sohn Olof unser gemeinsames Kind, Ingrids und meines. Olof ist zwar ohne Vater, aber mit jeder Menge Geborgenheit und Liebe aufgewachsen. Damals waren die Zeiten noch ganz andere, was man sich heute fast nicht mehr vorstellen kann. Viel vorurteilsbehafteter, aber auch viel einfacher, freier.«

»Klingt fast idyllisch.«

»Ich empfand es wirklich als Gnade, dies erleben zu dürfen, und bin sehr dankbar dafür. Ingrid hat ihr Leben lang davon geträumt, sich als Künstlerin zu verwirklichen, und gemeinsam mit mir hat sie sich diesen Traum auch erfüllen können. Wir konnten es uns leisten, so zu leben, wie wir es wollten. Eine Zeit lang kamen alle hierher. Nicht nur Filmstars und berühmte Persönlichkeiten, sondern auch viele gewöhnliche Leute, die eine Zuflucht suchten. Es sprach sich herum, dass sie hier in Ruhe gelassen wurden und sich selbst verwirklichen konnten. Homosexuelle oder Menschen, die sich über ihre geschlechtliche Identität und Sexualität im Allgemeinen klar werden wollten. Aber schon bald haben wir anstelle von Kursen über Sexualität welche über Achtsamkeit und Kunst abgehalten.« Elsa umschloss das Kreuz, das an einer Kette um ihren Hals hing, mit den Fingern, bevor sie fortfuhr. »Ingrids Elternhaus war ebenfalls streng laestadianisch geprägt, genau wie die Familie, in der Sie gelebt haben. Es war schwer für sie, da sie regelrecht verstoßen wurde, nachdem sie sich für mich entschied, als hätte sie aufgehört zu existieren. Wenn wir im Ort waren und zufällig ihre Familienmitglieder trafen, taten alle so, als würden sie sie nicht sehen. Es war schrecklich. Wir mussten an allen Fronten um unsere Liebe kämpfen.«

»Aber Elsa, genau deswegen müssen Sie uns Ihre Geschichte erzählen«, sagte Ambra. Sie war selbst ganz ergriffen und wusste, dass Grace und auch die Leser ihre Story lieben würden. »Ihre Geschichte handelt in so eindrücklicher Art und Weise von Gleichberechtigung, Liebe und Toleranz.«

»Und von Promis.« Elsa lächelte.

»Ja, von denen auch. Ich will es nicht leugnen, Promis verkaufen sich immer gut, und auch wenn ich natürlich unbedingt über Ihre Camps, die Retreats und all das schreiben will, was Sie im Zusammenhang damit erlebt haben, hat das andere letztlich auch seinen Reiz. Es ist einfach eine schöne Geschichte, die sowohl einzigartig als auch allgemeingültig ist. Sie müssen sie einfach einem größeren Publikum erzählen.«

Elsa wirkte zögerlich. »Ich weiß nicht recht …«

»Was hätte Ingrid Ihrer Auffassung nach getan?«, fragte Ambra.

»Sie war äußerst diskret, aber in vielerlei Hinsicht auch mutig. Sie erinnern mich übrigens ein wenig an Ingrid.« Elsa lächelte, und Ambra wusste, dass es ihr gelungen war, Elsa zu überzeugen. Sie wurde von einem Gefühl des Triumphs erfasst.

Plötzlich klingelte es an der Tür. »Das wird Tareq sein«, sagte Ambra. »Ich gehe und öffne ihm.«

»Ich habe mich entschieden«, rief Elsa ihr nach. »Sie haben recht. Ich mache es. Für Ingrid.«

»Wenn Sie mich fragen, finde ich, dass dieser Tantra-Sex völlig überschätzt wird«, sagte Elsa und schlürfte mit einem Zuckerstück zwischen den Zähnen ihren Kaffee. »Es war eher eine nette Abwechslung, die wir in einem Jahr mal ausprobiert haben. Da die meisten es aber eher langweilig fanden, haben wir uns lieber anderen Dingen zugewendet.«

Ambra lächelte. Elsa war fantastisch. Nachdem sie sich einmal dafür entschieden hatte, erzählte sie wirklich alles.

»Und was haben Sie stattdessen gemacht?«, fragte sie.

»Mehrere Frauen, die herkamen, hatten noch nie einen Orgasmus erlebt, also haben wir Orgasmuskurse abgehalten. Das war natürlich vor YouTube; heute gibt es im Internet ja jede Menge Filme dazu.«

»Natürlich«, murmelte Ambra. Sie warf Tareq einen Blick zu, der schräg hinter ihr stand und das Ganze filmte. Er nickte beruhigend zum Zeichen, dass er alles aufgenommen hatte. Zur Sicherheit nahm Ambra das Gespräch zusätzlich mit ihrem Handy auf. Sie hatte schon mehrere fantastische Zitate im Kasten.

»Unter uns gesagt wurde dort auch so einiges geraucht, aber nur Marihuana. Ein klein wenig Gras hat ja noch niemandem geschadet.«

Ambra sagte nichts und bedachte Tareq mit einem Seitenblick. Das mit dem Grasrauchen müssten sie wohl oder übel rausschneiden, aber ansonsten war es perfekt.

»Elsa, das wird super«, sagte Tareq schließlich. »Ambra, bist du so weit zufrieden?«

Ambra nickte, woraufhin Tareq begann, seine Ausrüstung zusammenzupacken, und Elsa in die Küche ging. Tareq war wirklich süß, dachte Ambra zerstreut, als sie beobachtete, wie er mit seinen geschickten langen Fingern an der Kamera herumhantierte. Er war gut aussehend und jung, muskulös und kräftig wie viele der besten Fotografen, die ihre Kamerautensilien ständig mit sich herumtrugen. Und außerdem war er nett. Sie hätte vielleicht eher mit ihm flirten sollen.

Er schaute auf und lächelte. »Ach übrigens, wir wollen heute Abend mit ein paar Leuten ausgehen. Wenn du Lust hast, kannst du gern mitkommen«, sagte er, stand auf und hängte sich den Riemen seiner Kameratasche über die Schulter.

»Wär echt nett gewesen«, entgegnete sie aufrichtig. »Aber ich nehme die Abendmaschine.«

»Okay. Wir hören voneinander, sobald ich mir den Film angeschaut habe. Aber das Ganze wird spitze, super Job.«

»Netter Junge«, sagte Elsa, nachdem Tareq gegangen war.

Ambra klappte ihren Notizblock zu. Jetzt hatte sie genügend Material zusammen, und Grace würde ebenfalls zufrieden sein. »War das okay?«

»Es war wirklich schön, Sie hier zu haben. Nicht nur wegen des Interviews, sondern auch, um Sie näher kennenzulernen. Ist mit Ihnen wirklich alles in Ordnung, falls ich das fragen darf?«

Elsa hatte ihr also angemerkt, dass sie leicht neben sich stand. Ambra lächelte beruhigend. »Ja. Ich schicke Ihnen dann Ihre Zitate, damit Sie sie noch einmal lesen können«, entgegnete sie nur.

»Das ist gut, meine Liebe.« Elsa sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, schwieg jedoch.

Damit war das Interview im Kasten. Grace hatte beschlossen, die Story in zwei Abschnitten zu bringen, den ersten Artikel morgen und den zweiten übermorgen. Tareq würde das Filmmaterial zusammenschneiden, und danach würde einer der Redakteure den letzten Schliff vornehmen und das Ganze ins Netz stellen. Die Schwarz-Weiß-Fotos hatte Elsa ihr umsonst angeboten, doch Ambra hatte darauf bestanden, ihr zehntausend Kronen dafür zu geben. Wenn Grace es erführe, würde sie sie höchstwahrscheinlich umbringen, aber die Summe war immer noch lächerlich gering, und die Zeitung hatte schließlich Geld.

Jetzt, wo alles fertig war, würde sie Elsa vermutlich nie wiedersehen. Das war das Merkwürdige an ihrem Job. Man nahm Kontakt mit Leuten auf, hörte sich ihre Geschichten an, kam ihnen näher, war ergriffen, und danach sah man sie nie wieder. Doch mit Elsa verband sie noch eine weitere Geschichte.

Sie zögerte, da sie eigentlich nicht vorgehabt hatte, mit Elsa über private Dinge zu reden. Aber diese Reise hatte schon so viele unerwartete Wendungen genommen. Erst Elsas Enthüllung, dann die Begegnung mit Tom Lexington und schließlich das Zusammentreffen mit den Sventins. »Ich habe sie gesehen«, sagte sie zögerlich.

Elsa verschränkte die Hände vor dem Bauch. »Und wo?«, fragte sie nur. Es war wohltuend, dass sie es sofort begriff.

»Vor der Kirche.«

»Ja, natürlich.« Elsa beugte sich vor und umschloss Ambras Hand. Ihre Hand war warm und weich wie angewärmtes Seidenpapier. »Sie sind ja ganz blass um die Nase. War es so schlimm?«

»Ich habe beide gesehen, Esaias und Rakel. Es war schrecklich. Aber das Schlimmste war, dass sie zwei Kinder bei sich hatten. Wissen Sie, ob die beiden Enkelkinder haben?«

»Ganz unmöglich ist es ja nicht. Sie haben schließlich viele Kinder, und wenn sie noch in dieser Gemeinde sind …«

»Sekte. Es ist eine Sekte.«

Elsa nickte. »Wenn ihre Söhne noch in der Sekte sind, sind sie jetzt erwachsen und verheiratet und haben vermutlich ebenfalls Kinder. So machen sie es doch: untereinander heiraten und möglichst viele Kinder zeugen.«

»Ja, so wird es wohl sein.«

»Und wie war es, sie zu sehen?«

»Er ist alt geworden. Aber sie auch.«

»Sie haben so fürchterlichen Schaden angerichtet.«

»Ja.« Ambra seufzte.

»Möchten Sie vielleicht etwas essen?«

»Nein, ich muss leider gehen.« Es war schon fast achtzehn Uhr, und sie wollte ihren Flieger nicht verpassen.

»Ich bin morgen zu Hause, falls Sie noch ein wenig mehr darüber reden möchten. Vielleicht darf ich Sie ja morgen Mittag zum Essen einladen?«

Ambra wünschte, sie hätte die Einladung annehmen können. »Tut mir leid, aber ich fliege heute schon zurück.«

»Dann ein anderes Mal«, sagte Elsa freundlich.

»Ja«, sagte Ambra, obwohl sie wusste, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es ein nächstes Mal geben würde, gegen null ging.

Nachdem Ambra sich von Elsa verabschiedet hatte, nahm sie sich ein Taxi zum Flughafen. Unterwegs herrschte dichtes Schneetreiben, sodass sie sich während der ganzen Fahrt krampfhaft an ihrem Sitz festklammerte. Als sie endlich ankamen, hatte der Wind fast Sturmstärke angenommen. Sie bezahlte das Taxi mit ihrer privaten Visakarte, da sie keinen Nerv hatte, den Fahrer um eine Quittung zu bitten, und öffnete die Tür. Die Abflughalle war voll mit Reisenden, und noch bevor sie einen Blick auf die elektronische Anzeigetafel mit den Abflugzeiten warf, wusste sie, dass irgendwas nicht stimmte. Lautsprecheransagen hallten durch den Raum, die Leute diskutierten lauthals, und übermüdete Kinder weinten. Sie bahnte sich durch das Gedränge hindurch einen Weg zu einem der Monitore, um festzustellen, dass der Flug nach Stockholm aufgrund eines technischen Defekts gecancelt worden war.

»In den kommenden Tagen sind alle Flüge nach Stockholm ausgebucht«, erklärte ihr eine völlig gestresste Frau am Check-in-Schalter.

»Und wie soll ich dann wieder nach Hause kommen?«

»Wir hätten noch einen Platz, allerdings über Oslo.«

»Dann nehme ich den«, sagte Ambra. Sie musste unbedingt von hier weg. Doch da hörte sie hinter sich jemanden in Tränen ausbrechen und drehte sich um. Eine Frau mit Babybauch und einem Kleinkind auf dem Arm weinte resigniert.

»Wollten Sie den Platz gerne haben?«, fragte Ambra nach einem kurzen egoistischen Zögern.

Die Frau putzte sich die Nase und nickte.

»Dann nehmen Sie ihn«, sagte Ambra mit einem Seufzen.

»Danke.«

Nach einer weiteren Stunde des Wartens musste sie feststellen: Sie steckte in Kiruna fest. Schließlich erhielt sie doch noch einen Standbyplatz, woraufhin sie sich wieder ein Taxi nahm und zurück zum Hotel fuhr. Als sie eine SMS an Jill schickte und ihrer Schwester ihr Leid klagte, erhielt sie zur Antwort ein weinendes Emoticon.

»Ist mein Zimmer noch frei?«, fragte sie im Hotel und konnte erneut in denselben Raum einchecken. Sie sank hinunter aufs Bett und simste Grace, dass es noch nicht absehbar war, wann sie Kiruna würde verlassen können. An den Weihnachtsfeiertagen waren alle Maschinen bis auf den letzten Platz ausgebucht.

Okay, halt mich auf dem Laufenden.

Sie fingerte an ihrem Handy herum. Was sollte sie jetzt machen? Sie saß in einer Stadt fest, die sie hasste.

Sollte sie sich noch einmal bei Elsa melden und fragen, ob die Einladung zum Mittagessen noch immer galt? Zehn Minuten später war sie für den folgenden Tag bei Elsa zum Mittagessen eingeladen. Immerhin etwas.

Ambra legte sich aufs Bett. Sollte sie jetzt, wo sie schon einmal hier war, vielleicht versuchen, ein wenig mehr über die Sventins herauszufinden? Sie müsste es sich noch einmal in Ruhe überlegen, dachte sie und warf einen kurzen Blick auf die Speisekarte des Zimmerservice, bevor sie sie zur Seite legte.

Stattdessen griff sie nach ihrem Handy und scrollte sich zu Tareqs Nummer durch. Sie überlegte kurz, aber tja, warum eigentlich nicht?

Kann ich heute Abend immer noch dabei sein?

Die Antwort kam postwendend.

Ja! Cool! Wir sind ab neun im Royal.

Ambra öffnete ihren Laptop und arbeitete noch eine Stunde lang. Danach trug sie etwas Lipgloss auf, fuhr sich mit den Fingern durch die Locken und besprühte sie leicht mit Haarspray. Dann bedachte sie sich selbst mit einem strengen Blick im Spiegel. Sie würde es nicht zulassen, dass Kiruna ihr die Laune verdarb, und sie weigerte sich standhaft, sich von dieser Stadt Angst einflößen zu lassen. Sie würde ihre Gefühle im Zaum halten und Spaß haben.

»Hörst du«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Wir werden heute Abend Spaß haben.«

Gegen einundzwanzig Uhr verließ sie ihr Zimmer und ging hinunter zur Rezeption, wo sie nach dem Weg zum Royal fragte.