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Jill Lopez machte einen Schritt ins quirlige Lokal hinein und blieb dann mitten im Raum stehen. Sie trug zwar Kontaktlinsen, konnte aber dennoch nicht klar sehen. Sie ließ die Atmosphäre auf sich wirken und versuchte sich zu orientieren, ohne die Augen zusammenkneifen zu müssen.

Im Lokal befanden sich überwiegend Männer, genauer gesagt fast ausschließlich Männer. Die Einrichtung war rustikal – alles schien aus Kiefernholz oder Rentierfellen zu bestehen –, doch ihr schlug eine ziemlich spezielle Energie entgegen. Es dauerte eine Weile, bis sie darauf kam, woran es lag. Eine Schwulenbar. Super. Sie war auf gut Glück hergekommen und hatte eigentlich schon wieder vergessen, wie die Stadt hieß. Ludvig hatte sich um alles gekümmert. Sie hatte das Unterfangen unterwegs schon fast bereut und sich gefragt, auf was für eine Schnapsidee sie da mal wieder gekommen war, aber jetzt war sie nun mal hier.

Langsam bewegte sie sich an all den miteinander tuschelnden und fotografierenden Menschen vorbei. Sie kannte massenweise Popstars, die sich über Handykameras beschwerten, als wäre ihr Status als Star völlig abgekoppelt vom Publikum und ihren Fans, doch sie sah das anders.

In den ersten sechs Jahren ihres Lebens hatte sie keinerlei Liebe erfahren, bis ein kinderloses schwedisches Ehepaar sie adoptierte. So lautete zumindest die kurze jugendfreie Version. Die ohne Gewalt, soziale Missstände und eine Jugend, die mit Drogensucht und einem frühen Tod hätte enden können. Stattdessen hatte sie den Gesang für sich entdeckt, eine Story, die in den Zeitungen immer wieder verbreitet wurde, samt ihrer Naturbegabung und ihrem Erfolg. Jill liebte ihre Fans und die Bestätigung, die sie ihr vermittelten. Sie posierte für ein Selfie nach dem anderen und arbeitete sich durch die Menschenmassen vor. Zum Glück war Ambra tatsächlich hier; sie saß zusammen mit einem großen, ungepflegten Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war, ganz hinten an einem der klobigen Kiefernholztische. Jill erahnte die beiden mehr, als dass sie sie sah.

Jill schrieb ein paar Autogramme, warf erneut einen Blick in Richtung Ambras Tisch und bedachte ihre Schwester mit einem entschuldigenden Lächeln. Gleich hatte sie ihren Tisch erreicht. Der schwarz gekleidete Mann sagte etwas zu einer Person neben Ambra, woraufhin Jill einen weiteren Mann am Tisch erblickte. Er war ebenfalls ziemlich groß, aber nicht ganz so breitschultrig. Eher sehnig, braune Haare, ernstes Gesicht und ein messerscharfer Blick, der sie taxierte. Sie stellte fest, dass er sie vage wiedererkannte, sonst allerdings nicht weiter reagierte, was ungewöhnlich war und sie leicht irritierte. Ein kleines bisschen mehr Interesse hätte er doch wohl signalisieren können, oder?

Weitere Selfies, eine Kusshand, und dann war sie am Tisch angekommen.

»Hallo«, begrüßte Ambra sie, ohne aufzustehen. Sie umarmten sich nie, worüber Jill eigentlich froh war, denn sie verabscheute die aufgezwungenen Umarmungen und Wangenküsschen, denen sie ständig ausgesetzt war. Ambra hatte Umarmungen noch nie gemocht. Vielleicht waren sie beide durch ihre Kindheit zu sehr verdorben worden, um sich wie normale Menschen zu benehmen.

»Hej«, sagte Jill und betrachtete die beiden Männer, die jedenfalls durch und durch hetero waren, was sie sofort erkannte. Sie warf Ambra einen ermahnenden Blick zu.

»Tom. Mattias. Und das ist meine Schwester«, stellte Ambra sie gehorsam vor. »Jill«, fügte sie hinzu, als hätten die beiden sie nicht längst erkannt. Jill konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt einem Menschen begegnet war, der nicht wusste, wer sie war. Es verging kaum eine Woche, in der ihr Konterfei nicht auf der Titelseite irgendeiner Zeitschrift abgebildet war. Sie war als eine der wenigen Schwedinnen das Aushängeschild einer internationalen Kosmetikserie und deshalb auch oft im Fernsehen zu sehen.

»Hej«, sagte der Mann mit den schwarzen Augen, der Tom hieß.

»Hej«, sagte der andere, Mattias.

»Was machst du denn hier?«, fragte Ambra.

Gute Frage. »Ich war gerade in der Nähe …?«

Ambra schüttelte den Kopf. »Bei unserem letzten Telefonat warst du noch dreihundert Kilometer von hier entfernt.«

Das Ganze war einfach ein spontaner Einfall gewesen, aber sie hatten sich schließlich lange nicht mehr gesehen, und Jill hatte keine Lust mehr auf Ludvig und ihr Hotelzimmer gehabt.

»Wir sind, gleich nachdem deine SMS kam, losgefahren, haben eingecheckt und dann an der Rezeption nach dir gefragt. Meinen Assistenten hab ich im Hotel gelassen, und dann bin ich hergekommen.«

»Du bist ja verrückt. Warum hast du denn nicht vorher angerufen?«

Jill zuckte mit den Achseln, da sie nicht zugeben wollte, dass sie Angst vor einer Absage gehabt hatte. Sie wollte lieber umsonst herkommen, als am Telefon abgewiesen zu werden.

»Ich wollte schon immer mal sehen, wie …« Sie verstummte, da sie sich nicht mehr genau an den Namen der Stadt erinnerte, in der sie gerade war. Sie linste erneut zu den beiden Männern hinüber. Keine leuchtenden Augen, kein flirtendes Lachen, nicht einmal irgendeine Reaktion, die offenbarte, dass sie sie als Frau, als Sexidol oder als den Star wahrnahmen, der sie war. Was für merkwürdige Typen. Aber so war Ambra nun mal. Sie umgab sich immer mit schrägen Typen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, unangemeldet hier aufzutauchen, denn Ambra hatte Überraschungen schon immer verabscheut. Doch Jill war rastlos gewesen, denn ihr nächstes Konzert fand erst in einigen Tagen statt, und sie hatte noch nie eine gute Impulskontrolle besessen.

»Woher kennt ihr euch eigentlich?«, fragte sie, weil sie aus diesem Trio einfach nicht klug wurde.

»Wir kennen uns gar nicht«, antwortete Ambra, während Tom gleichzeitig sagte: »Ambra und ich haben zusammen Weihnachten gefeiert.«

»Zusammen Weihnachten gefeiert?«, fragte Jill interessiert nach. Ambra feierte sonst nie Weihnachten, und den Hass auf dieses Fest hatten sie gemeinsam. Ambra, weil sie von lauter unmöglichen Dingen träumte, und Jill, weil sie schlicht und einfach alles verabscheute, was sich nicht um ihre Person drehte.

»Wir haben zusammen gegessen und getrunken, sonst nichts weiter.« Doch Ambra wirkte peinlich berührt, und Tom wand sich verlegen. Durfte man hoffen, dass sie zumindest nett gevögelt hatten? Höchstwahrscheinlich nicht. Ambra war wirklich erbärmlich, was Männer anging.

»Und Sie?«, fragte Jill und wandte sich Mattias zu. »Welche Rolle spielen Sie in diesem Trio?«

»Ich bin erst heute Morgen angekommen und spiele hier gar keine Rolle.« Er hatte eine gebildete Stimme und sprach wohlartikuliert mit einem Oberschichttonfall. Er klang smart, aber sie stand nicht auf diesen Typ Mann. Ambra nannte es Bildungskomplex, während Jill es eher als Selbsterhaltungstrieb bezeichnete. Dann kam ein weiterer Mann auf sie zu, doch im Unterschied zu den anderen am Tisch lächelte er breit.

»Das ist Tareq, mein freiberuflicher Fotograf«, stellte Ambra ihn vor. Tareq war jung und dunkelhaarig und sah aus wie ein Fotomodell.

»Jill Lopez! Ich bin ein großer Fan von dir«, sagte er mit ehrfürchtiger Stimme.

»Schön zu hören, Tareq«, entgegnete Jill. Endlich mal jemand, der sich normal benahm.

»Wie Ambra schon sagte, bin ich Fotograf. Wäre es okay, wenn ich ein paar Bilder mache?«

»Tareq, sie ist privat hier«, sagte Ambra warnend.

»Gegen ein paar Fotos hab ich nichts einzuwenden«, entgegnete Jill und stand auf, strich ihr Kleid glatt und posierte gewandt. Mehrere andere Gäste nutzten die Gelegenheit, um ebenfalls Fotos zu machen. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie Ambra, Tom und Mattias das Spektakel beobachteten.

Jill setzte sich wieder, und Tareq schoss noch ein paar weitere Bilder, bevor er seine Kamera wieder ablegte. »Mein Gott, ich hatte ja keine Ahnung, dass ihr Freundinnen seid. Ich folge dir auf Instagram.«

»Wir sind Schwestern«, erklärte Jill.

Tareq bedachte Ambra mit einem anklagenden Blick. »Du hast mir nie gesagt, dass du mit einer Pop-Ikone verwandt bist.«

»Tja, warum wohl nicht?«, meinte Ambra trocken.

»Über solche Dinge reden wir eigentlich nicht«, erklärte Jill.

In Wahrheit redeten sie nach außen hin nie übereinander und kommentierten auch nie ihre jeweiligen Beiträge in den Sozialen Medien. Jill vermied es, in Interviews über ihre Herkunft zu sprechen, und Ambra gab sowieso nie etwas von sich preis, weshalb ihre familiäre Verbindung nicht öffentlich bekannt war.

»Und was machst du hier oben?«, fragte Jill. Oder hatten sie schon darüber gesprochen? Hm, sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sie streckte ihre Beine aus und betrachtete sie, während Ambra von ihrem Job erzählte. Als sie wieder aufschaute, sah sie, wie Mattias auf ihre Beine starrte.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Ambra, und Jill nickte, obwohl sie nur mit halbem Ohr zugehört hatte, wie Ambra von einer alten Dame sprach, die sie in ihrer Wohnung interviewt hatte. Von all den Dingen, die Ambra als wichtig erachtete, konnte Jill die Liebe zu ihrer Arbeit als unterbezahlte und ausgebeutete Journalistin am wenigsten nachvollziehen. Unablässig schrieb sie über irgendwelche schicksalsgeplagten Leute, deren Ehre sie retten oder deren guten Ruf sie wiederherstellen musste. Dass sie zu so etwas überhaupt Nerven hatte.

Aus den Lautsprechern erklang laute Musik, und Jill musste lächeln, da es sich um einen ihrer Songs handelte. Einen fünf Jahre alten Hit, der noch immer so oft gespielt wurde, dass sie vermutlich allein von den Tantiemen leben könnte, die er einbrachte. Es war einer von drei, vier Songs, die sie bei Konzerten immer singen musste, um das Publikum nicht zu enttäuschen. Sie mimte dem Barmann ein Dankeschön, woraufhin er die Lautstärke noch weiter aufdrehte. Sie lachte, und er warf ihr mit beiden Händen Handküsse zu.

»Bitte, Jill, kannst du nicht auf die Bühne hochkommen und singen?« Ein blonder, groß gewachsener Typ, nicht viel älter als zwanzig, war an ihren Tisch gekommen. Ihm schlossen sich noch weitere Männer an, die gemeinsam einen flehenden Chor bildeten. Sie spürte die Müdigkeit in ihrem Körper und wäre am liebsten sitzen geblieben. Doch stattdessen bedachte sie sie mit einem amüsierten Lächeln. »Okay, einen Song«, sagte sie und stand auf. Die Leute applaudierten. Sie beugte sich rasch hinunter zu Ambra. »Wo sind wir hier?«

»Kiruna«, mimte Ambra und verdrehte die Augen.

Jill stieg auf die kleine Bühne und ließ ihren Blick übers Lokal schweifen. Die Gesichter ganz hinten waren hoffnungslos verschwommen. Im Publikum breitete sich Stille aus.

»Hej, Kiruna«, rief sie und erntete Applaus und wohlwollende Pfiffe, bis sie das Publikum um Ruhe bat.

Sie hatte sich nicht eingesungen und auch keine Ahnung, welcher Titel geplant war. Handykameras wurden hochgehalten. Sie schüttelte ihre Mähne über die Schultern, ergriff mit beiden Händen das Mikrofon, schloss die Augen und wartete darauf, dass die Karaoke-Version des Songs einsetzen würde.

Mattias Ceder konnte seinen Blick einfach nicht von Jill Lopez losreißen. Hinter ihrem Kopf gab es irgendeine Lichtquelle, sodass es manchmal so aussah, als hätte sie einen Heiligenschein. Ihre dunklen Haare wogten über ihre Schultern, während sie ihre langen Finger mit den vielen Ringen daran ums Mikrofon schloss. Wenn sie einen Ton länger hielt und dabei die Augen schloss, bekam er eine Gänsehaut.

Großer Gott!

Er wusste natürlich, wer sie war, weil alle, die nicht gerade als Einsiedler lebten, Jill Lopez kannten. Vermutlich hatte er sie schon öfter im Radio gehört oder im Fernsehen gesehen. Es war nahezu unmöglich, sie nicht zu kennen.

Aber er liebte eher die Oper, klassische Musik, Literatur und das Theater. Dinge, die den Intellekt ansprachen und ihn persönlich zu einem besseren Menschen machten. Er hatte einen ausgefallenen Geschmack und Ahnung von Kultur. Und das, wofür Jill Lopez stand, passte einfach nicht in sein Weltbild. Objektiv betrachtet hatte diese Frau eher etwas Vulgäres. Zu tiefer Ausschnitt, zu sexy, zu grell.

Doch Mattias hatte sie noch nie zuvor live singen hören.

Diese Stimme. Sie war viel dunkler, als er angenommen hatte. Tief und sinnlich. Jedem einzelnen Wort über Liebe und Leidenschaft verlieh sie Bedeutung, und sie hallten in ihm wider, als wäre er der Mann, der sie verlassen hatte, der sie nach Liebe suchen ließ und nach dem sie Sehnsucht hatte. Es war, wie von einer Dampfwalze überrollt zu werden. Nicht ein einziger Ton war falsch, nicht ein Gefühl kam ihm gekünstelt vor.

Als sie den Song beendete, konnte Mattias nicht einmal applaudieren, so benommen war er.

»Deine Schwester kann wirklich singen«, hörte er Tom zu Ambra sagen. Die größte Untertreibung aller Zeiten.

Oben auf der Bühne schüttelte Jill erneut ihre Mähne. Sie lächelte und begann zu den Tönen einer Ballade zu singen. Ein Song über Liebe, die Zeit und Raum überwand. Mattias wusste eigentlich, dass der Text banal und gehaltlos war, aber ihr zuzuhören war wie gefühlsmäßig durchgewalkt zu werden.

Nachdem sie einen weiteren Song gesungen hatte, diesmal einen schnelleren, der die Stimmung im Raum zum Brodeln gebracht und stürmischen Applaus bekommen hatte, kam sie mit Schweißperlen im Ausschnitt und erschöpften Schrittes wieder zu ihnen herunter, wo sie auf ihren Platz neben ihm hinuntersank. Sie duftete heiß und leicht fruchtig, nach von der Sonne geküssten Stränden und exotischen Kräutern. Mattias suchte nach angemessen höflichen, distanzierten und adäquaten Worten, die er ihr sagen könnte.

»Schreiben Sie Ihre Texte selbst?«, fragte er schließlich. Das musste ausreichen.

Jill strich sich die Haare aus dem Gesicht. Ihre Haut glänzte, und ein paar dicke Strähnen blieben in ihrem Ausschnitt kleben.

Mattias zwang sich, ihr geradewegs in die Augen zu schauen.

»Ich schreibe alles selbst. Sowohl den Text als auch die Musik.«

»Haben Sie Musik studiert?«

Jill lachte. »Ich kann ja nicht mal Noten lesen. Ich hab es mir selbst beigebracht.«

»Sie waren fantastisch«, sagte er aufrichtig.

»Danke. Würden Sie mir etwas Wasser reichen?«

Sie schlug ihre Beine übereinander, und er folgte ihrer Bewegung mit dem Blick. Sie hatte die hübschesten Beine, die er je gesehen hatte. Er schenkte ihr Wasser aus der Karaffe ein, die eigentlich nur eine leere Flasche war. Sie streckte sich vor und streifte flüchtig seine Hand, die noch immer das Glas umschloss.
Mattias zog seine Hand zurück, ganz langsam und vermeintlich unberührt. Er sah zu, wie sie ein Autogramm für einen Gast auf eine Serviette schrieb.

»Wie lange sind Sie schon …«, begann er, aber es war schwer, eine Unterhaltung mit Jill zu führen, da man ständig unterbrochen wurde. Sie ließ noch einige Selfies über sich ergehen, aber allmählich sah man ihr die Erschöpfung an. Mattias schaute auf die Uhr und sah, dass es schon nach Mitternacht war.

»Ich muss zurück ins Hotel und mich hinlegen«, sagte Ambra und gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Bleibst du noch, um den Leuten weiterhin den Kopf zu verdrehen, oder hast du für heute Abend genug Bewunderung eingeheimst?«, fuhr sie mit dem Blick auf ihre Schwester fort. Zwei unterschiedlichere Frauen als diese beiden konnte man sich kaum vorstellen.

»Bewunderung kann man nie genug bekommen«, entgegnete Jill, doch sie wirkte erleichtert. »Ich komme mit. Dann können wir noch ein wenig quatschen. Ich muss nämlich morgen früh schon wieder los.«

Die Frauen standen auf. Mattias und Tom taten es ihnen gleich.

Tom wandte sich Ambra zu. »Gute Nacht«, sagte er in seiner gewohnten kurz angebundenen Art. Ambra schob ihre Hände in die Hosentaschen und nickte lediglich. Jill schüttelte Tom die Hand. »Nett, Sie kennengelernt zu haben«, sagte sie und streckte dann Mattias ihre Hand hin. Er ergriff sie, und sie war leicht verschwitzt, aber erstaunlich kräftig. Als die beiden Frauen gingen, hinterließ sie den Duft eines schweren Parfüms. Er war kurz davor, seine Hand zur Nase zu führen und daran zu riechen. Doch Tom hätte sich vor spöttischer Schadenfreude höchstwahrscheinlich ins Fäustchen gelacht, sodass Mattias froh war, sich noch rechtzeitig besonnen zu haben.

»Was läuft zwischen Ambra und dir eigentlich?«, fragte er, als sie sich wieder hingesetzt hatten.

»Nichts.«

Lüge. Da war ganz sicher etwas zwischen den beiden. Tom hatte den ganzen Abend dagesessen und zu ihr hinübergesehen. »Aber du magst sie, oder?«

»Ich kenne sie überhaupt nicht richtig. Sie ist Journalistin, und Journalisten mag ich nicht besonders.«

»Nein«, pflichtete Mattias ihm bei. Journalisten konnten für Männer wie Tom und ihn zum Problem werden. »Aber ihre Schwester sieht verdammt gut aus«, sagte er.

»Mag sein.« Der Geräuschpegel im Lokal stieg, irgendjemand begann die Hardrockversion eines Abba-Titels zu singen, und es sah aus, als würden die Leute vorne vor der Bühne anfangen sich auszuziehen.

»Also mein Bedarf an Geselligkeit ist für heute gestillt«, sagte Tom und stand auf. »Du musst fahren.«

Mattias, der kaum ein ganzes Bier getrunken hatte, fuhr sie zurück zu Toms Haus.

»Ich kann auch ins Hotel gehen«, erbot er sich halbherzig. Er war völlig übernächtigt, da er schon fast achtundvierzig Stunden auf den Beinen war. Außerdem war er ungewohnt unsicher, wie sie zueinander standen. Er war zwar hergekommen, um Tom zu manipulieren, aber es hatte ihm auch gutgetan, ihn wiederzusehen und sich fast wie in alten Zeiten mit ihm unterhalten zu können.

Tom zuckte mit den Schultern. »Du kannst gern bleiben, das Haus ist groß genug. Aber das Bett musst du dir selbst beziehen.«

Mattias nahm sich aus dem Schrank im Gästezimmer Bettwäsche. Dann zog er sich aus und legte seine Kleidung fein säuberlich zusammen.

Tom war in einen anderen Teil des Hauses verschwunden, nachdem er seine Kontrollrunde ums Anwesen absolviert hatte. Mattias legte sich ins Bett und verschränkte die Arme hinterm Nacken. Was für ein Tag! Erst die Begegnung mit Tom und dann dieser Nachtclub und Jill Lopez …

Er rang eine oder zwei Minuten mit sich, doch dann gab er nach und bewegte seine Hände unter der Decke. Schuldbewusst beschwor er den Anblick mandelförmiger Augen, üppiger goldener Haut und großzügiger Kurven herauf. Er holte sich einen runter, schweigend und zielstrebig, als wäre er gerade mal zwanzig und läge auf seiner Pritsche in der Kaserne.

Wenn keiner etwas davon erfährt, ist es, als wäre nichts geschehen, sagte er sich. Dennoch kam es ihm irgendwie unwürdig vor.