15

Tom erwachte früh am nächsten Morgen, dem zweiten Weihnachtsfeiertag, mit Herzrasen. Er schlug die Augen auf und holte tief Luft, als hätte er nach einem langen Tauchgang gerade wieder die Wasseroberfläche erreicht. Es vergingen zwei Sekunden, bis er sich orientiert hatte und ihm klar wurde, dass er sich nicht mehr in Gefangenschaft befand. Er war in Kiruna. In seinem Haus. In Sicherheit.

Heilige Scheiße!

Er hatte geträumt, dass sie ihn schlugen. Genauso, wie sie es unten im Tschad getan hatten. Die Folter, die manchmal Stunden dauerte. Wie angenehm es gewesen war, wenn die Misshandlung variierte, nur damit sich ein anderer Körperteil kurz erholen konnte. Auch mit verbundenen Augen war es ihm irgendwann gelungen, die unterschiedlichen Folterinstrumente auseinanderzuhalten. Stromkabel. Stöcke. Fäuste.

Auf wackeligen Beinen ging er in die Küche, um der Panikattacke entgegenzuwirken, die ihn zu übermannen drohte. Es war schon öfter vorgekommen, dass ein besonders wirklichkeitsgetreuer Albtraum eine Attacke ausgelöst hatte. Er ließ Wasser aus dem Hahn in ein Glas laufen, stellte es auf die Arbeitsplatte und versuchte dabei ruhig und gleichmäßig zu atmen. Der Alkohol, der seine Angst gestern Abend so angenehm abgemildert hatte, war im Grunde genommen ein Gift, das den Körper zum Gegenangriff mobilisierte. Solange er betrunken war, verspürte er keine Angst. Doch in der Phase, wenn der Alkohol wieder abgebaut wurde, arbeiteten alle Organe auf Hochtouren, was zur Folge hatte, dass die Angst noch schlimmer zuschlug als vorher. Es war wie ein Teufelskreis. Bösartig und natürlich verdammt riskant. Doch im Augenblick hatte er ganz andere Sorgen. Er starrte hinaus auf den Wald und den Schnee, während er sich auf seine Atmung konzentrierte. Seinen gestrigen Alkoholkonsum verdrängte er kurzerhand schlechten Gewissens wie viele andere unangenehme Dinge auch.

Vor dem Küchenfenster glitzerte der Schnee im Vollmond, und er richtete seinen Blick auf die weiße Winterlandschaft, während er darauf wartete, dass sein Kreislauf wieder zur Ruhe kommen würde. Flüchtig ertappte er sich bei dem Gedanken, sich einen Drink zu genehmigen. Die Whiskyflasche stand im Schrank, und es wäre so angenehm, die Angst einfach zu betäuben. Aber es wäre auch sein Todesstoß, der letzte Beweis dafür, dass er die Grenze des menschlichen Anstands überschritten hätte. Also entschied er sich für ein Glas Wasser.

Doch die Angst wollte sich einfach nicht legen, und vor seinem inneren Auge blitzten Erinnerungsfetzen aus seinem nächtlichen Traum auf. Maschinengewehre, die ihm gegen die Stirn gepresst wurden. Stiefeltritte gegen seinen Kopf. Zigarettenkippen, die auf seiner nackten Haut ausgedrückt wurden.

Er rieb sich die Augen. Er musste versuchen, an irgendwas anderes zu denken. Gestern in der Bar hatte er kurz vor einer heftigen Attacke gestanden. Doch die Unterhaltung mit Ambra hatte ihn letztlich davor bewahrt. Sonst stresste ihn die Anwesenheit anderer Leute eher, wenn es ihm schlecht ging, doch irgendwas in dem Blick aus ihren grünen Augen hatte so verdammt beruhigend auf ihn gewirkt, als würde sie rein gar nichts schockieren oder ängstigen. Wie eine Soldatin, die im Krieg gekämpft hatte, was natürlich ein lächerlicher Gedanke war. Ambra Vinter war relativ klein und zierlich und sah keineswegs wie eine Soldatin aus. Aber gestern hatte sie sich super verhalten, wenn auch auf ihre distanzierte Art. Sie erinnerte ihn an ein Stachelschwein, nur süßer, ein Gedanke, der ihn lächeln ließ. Die Gedanken an Ambra halfen ihm. Jetzt erinnerte er sich auch an etwas, das sie gesagt hatte. Sie saß in Kiruna fest, hatte sie das nicht erwähnt? Ihr Flug war gecancelt worden. Was würde sie heute also machen – arbeiten? Er füllte sein Glas erneut, trank in langsamen Schlucken und spürte, wie sein Körper sich allmählich beruhigte. Wenn die Umstände anders gewesen wären, hätte er sie gefragt, ob sie vielleicht Lust hätte, einen Kaffee mit ihm zu trinken und ein wenig spazieren zu gehen. Merkwürdig. Es war lange her, dass er solche Gedanken mit einer anderen Frau als Ellinor in Verbindung gebracht hatte. Doch Ambra war eine angenehme Gesprächspartnerin, und sie war clever.

Er stellte sein Wasserglas ab. Schon seit Ewigkeiten hatte er keinen Blick mehr in eine Abendzeitung geworfen, doch plötzlich bekam er Lust, etwas zu lesen, das sie geschrieben hatte. Also ging er nach einer kurzen Dusche zum Kleiderschrank und kramte darin seinen Laptop hervor, der die letzten Wochen dort gelegen hatte, setzte sich mit einem Becher Kaffee an den Küchentisch, wählte sich ins Internet ein und klickte aftonbladet.se an. Die Artikel wurden in zeitlicher Abfolge aufgelistet. Er begann mit den ältesten, da er es vorzog, chronologisch vorzugehen.

Im Lauf der Jahre hatte Tom schon unzählige Berichte verfasst, und auch auf der Militärhochschule hatte er viel schreiben müssen, doch er hatte sich selbst, was das betraf, nie als besonders begabt angesehen. Ambra hingegen war ein regelrechtes Schreibgenie.

Die frühesten ihrer Artikel waren mehrere Jahre alt. Damals hatte sie anscheinend überwiegend für die Gesellschaftsseiten gearbeitet. Hatte über Stars und Sternchen und darüber, wer mit wem zusammen war, sowie Hochzeiten in der High Society geschrieben. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. In ihrer Rolle als Klatschjournalistin konnte er sie sich kaum vorstellen. Danach folgte ein Jahr mit Artikeln über diverse Kriminalfälle. Mord, Misshandlungen, Racheaktionen. Eine deprimierende Lektüre über die Schattenseiten der Gesellschaft.

Er betrachtete ihre Verfasserzeile mit einem Foto aus dieser Zeit. Vor der Brust verschränkte Arme und ernster Blick. In den Jahren danach hatte sie offenbar über alles Mögliche geschrieben, unter anderem kurze Artikel für die Inlands- und Auslandsnachrichten. Hin und wieder auch ein etwas längerer Beitrag. Danach tauchte ihr Name unter knappen nichtssagenden Randnotizen zu den verschiedensten Ereignissen auf, und ihn beschlich das Gefühl, dass irgendwas vorgefallen war, weshalb sie nun anstatt längerer Reportagen nur noch kürzere Meldungen schrieb. Vielleicht eine private Krise? Nein, sie hatte doch erwähnt, dass sie mit ihrem Chef nicht gut zurechtkam, oder? Auf dem neuesten Foto wirkte sie noch ernster, fast grimmig. Ihre dunklen Haare hatte sie streng zusammengebunden, sodass von ihren wilden Locken fast nichts zu sehen war. Er betrachtete das Foto lange. Abgesehen von ihrem grimmigen Blick sah sie völlig anders aus, kein Wunder, dass er sie nicht gleich erkannt hatte. In Wirklichkeit war sie viel hübscher. Er blieb mit dem Blick an ihrem Gesicht hängen und dachte an ihren Anblick von gestern Abend und den Kuss von vorgestern. Es war ein fantastischer Kuss gewesen. Ein Kuss, den man über Jahre hinweg in Erinnerung behielt.

Der letzte Artikel, den er las, war die Reportage über Elsa Svensson und das Sex-Camp, die heute Morgen publiziert worden war. Sie war lang, amüsant, sehr persönlich gehalten und in einem Ton geschrieben, den er wiedererkannte. Es war, als hörte er durch jede Zeile hindurch Ambras Stimme, und er ertappte sich dabei zu lächeln. Eigentlich war es ganz okay gewesen, dass Mattias und er gestern Abend in der Bar gelandet waren, denn die Begegnung mit Ambra hatte ihm gefallen.

Er klappte seinen Laptop zu und schaute auf die Uhr. Schon fast zehn. Mattias schlief noch.

Was zum Teufel sollte er nur mit Mattias machen? Es war ein merkwürdiges Gefühl, ihn hier zu Besuch zu haben. Befremdlich und trotzdem ungewohnt vertraut. Innerhalb einer Eliteeinheit entwickelten sich oftmals intensive Beziehungen, die ihresgleichen suchten. Mattias und er hatten bei ihren gemeinsamen Einsätzen unter anderem schon so stark gefroren, dass sie laut mit den Zähnen klapperten, und sie hatten im Schlamm ausgeharrt und mutmaßliche Ziele ausgespäht, bis ihnen die Füße taub wurden. Sie hatten endlose Strecken schwimmen müssen, sodass sie letztlich vor Überanstrengung heulten. Hatten Kameraden verloren und sich gegenseitig das Leben gerettet. Unter solchen Umständen kam man einander viel näher, als Außenstehende es sich vorstellen konnten.

Was jedoch bewirkte, dass ein Verrat, wenn er sich denn ereignete, umso schwerer wog.

Sie waren 2008 beide als ausgebildete Soldaten nach Afghanistan geschickt worden, wo sie als Fernspäher fungierten. Jenes Mal sollten sie sechs Wochen im Land stationiert sein, nachdem sie schon einmal dort gewesen waren.

Sechs Wochen waren eine verdammt kurze Zeit, in der man nicht viel ausrichten konnte. Doch die Zeitspanne bestimmten sie nicht selbst, sondern man flog schlichtweg dorthin, wohin man abkommandiert wurde.

Sie wohnten zusammen mit dem regulären schwedischen Verband, einer afghanischen Eliteeinheit und einer Handvoll Amerikaner im Camp. Als sie vor Ort eintrafen, war die Stimmung gedämpft, da man schon über eine längere Periode hinweg viele Verluste zu beklagen hatte und nur wenige Erfolge verbuchen konnte.

»Ein Anführer der Taliban plant ein Selbstmordattentat«, informierte sie der befehlshabende Offizier noch am selben Abend während einer Lagebesprechung.

Tom und Mattias wechselten einen Blick. Sie würden unmittelbar zum Einsatz kommen, genau wie sie es liebten.

»Wir planen, dieses Haus rechts von der Moschee zu stürmen.«

Sie schlossen sich der Gruppe an, die den Anführer der Taliban noch in derselben Nacht lokalisieren und unschädlich machen sollte, und starteten bis an die Zähne bewaffnet mit zwei Hubschraubern, aus denen sie sich seitlich heraushängten. Auch wenn es das reinste Klischee war, empfanden sie es als ziemlich cool, in dieser Position über die Stadt hereinzuschweben. Tom warf einen letzten Blick auf die Karte in seiner Brusttasche und runzelte die Stirn.

»Im Ort gibt es ja zwei Moscheen«, sagte er zu Mattias. Man hatte sie jedoch nur über eine informiert.

»Ist dies das richtige Haus?«, fragte er den Befehlshaber.

»Wir sind da«, hörte er plötzlich über Funk, erhielt aber keine Antwort auf seine Frage. Er verdrängte seine Unruhe. Es kam nicht besonders gut an, wenn man während eines Auftrags zu diskutieren begann.

Sie sprangen aus dem Hubschrauber und liefen auf das Haus zu. Auf ein Zeichen hin trat Tom die Tür ein, und sie stürmten das Gebäude.

Tom, Mattias und weitere sechs Soldaten bildeten die Sturmtruppe, die ins Haus eindrang, das Zielobjekt ausfindig machte und das Gebäude abriegelte. Draußen waren Wachposten aufgestellt, und auf den Bäumen und um die Nachbarhäuser herum hatten sie ihre Scharfschützen in strategischen Positionen platziert.

Tom hatte schon mit vielen Soldaten unterschiedlicher Nationalitäten zusammengearbeitet. In jeder Gruppe gab es sowohl angenehme Leute als auch Idioten. Der vor Testosteron strotzende Amerikaner mit den Stoppelhaaren, mit dem er ein Team bildete, und dessen gesamtes Vokabular nur aus Fuck und Asshole zu bestehen schien, hätte besser nicht dabei sein sollen.

»Ihr zwei nach rechts«, bedeutete ihnen der Befehlshaber mit einer raschen Handbewegung.

»Fuck«, rief der Amerikaner und spuckte theatralisch auf den Boden.

Tom schüttelte den Kopf. Er kannte diesen Typen kaum, und es kam ihm vor, als arbeitete er mit einer ungesicherten Handgranate zusammen. Sie gingen rein und hörten außer dem leisen Gemurmel über Funk keine weiteren Geräusche. Alles sprach dafür, dass es sich um ein ganz gewöhnliches Wohnhaus handelte. Tom beschlich ein ungutes Gefühl, und er wartete nur darauf, dass der Auftrag abgebrochen und sie zur Militärbasis zurückbeordert werden würden.

Plötzlich zeichnete sich eine klein gewachsene Silhouette auf einer Matratze am Boden ab, die sich aufsetzte. Tom konnte den schmalen Körper durch sein Nachtsichtgerät erkennen. Der ganze Auftrag kam ihm irgendwie absurd vor. Vor uns sitzt nur ein kleiner Junge in einem ganz gewöhnlichen Haus, und wir befinden uns am falschen Ort, dachte er noch, als der Amerikaner neben ihm plötzlich ohne Vorwarnung das Feuer eröffnete. Sie waren alle mit Maschinengewehren bewaffnet, die in Standardsituationen sechshundert Schuss in der Minute abfeuerten, also zehn pro Sekunde.

Der kleine Körper zuckte vor Toms Augen zusammen und wurde in Stücke gerissen.

Tom stürzte vor und schrie: »Aufhören, verflucht noch mal! Aufhören, es ist doch nur ein Kind! Aufhören!«

»Objekt nicht gefunden«, hörte Tom kurz darauf in seinem Funkgerät. Sie befanden sich im falschen Haus, da war er sich ganz sicher. Er warf einen Blick auf das, was eben noch ein lebendiger Kinderkörper gewesen war, und sah nur noch Blut und Gewebefetzen.

»Wir ziehen uns zurück«, beorderte sie der Befehlshaber, woraufhin sie das Haus wieder verließen.

Als der Hubschrauber wieder auf der Militärbasis landete, war Tom so wütend, dass er sich kaum artikulieren konnte. Er riss sich den Helm vom Kopf, knallte ihn zu Boden, warf sein Gewehr weg und schrie den Amerikaner an: »Du Vollidiot, das war doch nur ein Kind!«

Der Amerikaner spuckte aus. »Verfluchte Afghanenbrut. Ein potenzieller Terrorist weniger.«

Es war, als hätte jemand einen schwarzen Schleier über Toms Augen gezogen. Er stürzte sich auf den Amerikaner und verpasste ihm eine heftige gerade Rechte, bevor sie beide zu Boden gingen. Sie wälzten sich im Staub und schlugen und traten dabei wild um sich, bis sie auseinandergezogen wurden. Tom war so außer sich vor Zorn, dass Mattias ihn mit sich zu ihrer Baracke zurückschleifen musste.

»Er hat ein Kind erschossen! Dieser verdammte Psychopath.«

Mattias nickte und drückte ihn hinunter auf sein Bett. »Es war tatsächlich das falsche Haus. Ein fürchterliches Fiasko.«

»Das Ganze war falsch. Verdammt falsch.«

»Ich weiß. Aber du musst dich jetzt wieder beruhigen.«

Am nächsten Tag gelang es den Taliban, ein Selbstmordattentat auf einem Marktplatz im Ort zu verüben, bei dem vierzig Personen starben, die meisten von ihnen Frauen, Kinder und alte Menschen.

»Wenn wir das richtige Haus gestürmt hätten, hätten wir es verhindern können«, sagte Tom mit grimmiger Miene zum schwedischen Einsatzleiter, einem Oberleutnant, den er sehr bewundert hatte.

»Es war dunkel. Wir hatten falsche Informationen. So etwas passiert. Lassen Sie es gut sein, Tom, allen Beteiligten zuliebe«, sagte der Oberleutnant versöhnlich.

In der Sache hatte er natürlich recht. Fehlerhafte Informationen waren nichts Ungewöhnliches. Doch Tom ließ der Vorfall einfach nicht los, denn zwischen falschen Informationen und der vorsätzlichen Tötung eines Kindes bestand schließlich ein gewaltiger Unterschied. Er war Soldat, und es gab Regeln, die man als Soldat einhalten musste, ansonsten war man selbst keinen Deut besser als die Taliban, Dschihadisten und Terroristen, die man bekämpfte.

Es gab ein Richtig und ein Falsch. Daran glaubte er, und diesen Glauben an die Demokratie, die Freiheit und die Menschenrechte verteidigte er letztendlich auch.

Tom verfasste einen Bericht über den Vorfall und schickte ihn von Afghanistan aus ab, konzentrierte sich danach wieder auf seine Arbeit und versuchte dem Amerikaner auszuweichen, wann immer es ging.

Doch als Tom wieder nach Schweden zurückkehrte, bat er um ein Gespräch mit dem Oberbefehlshaber, das ihm auch bewilligt wurde.

»Man hat mich gebeten, Zeugen zu benennen«, sagte er zu Mattias. »Würdest du dich bereit erklären?«

»Tom, willst du das wirklich tun?«, fragte Mattias beunruhigt.

»Ich muss es tun. Erklärst du dich bereit?«

»Ja.« Mattias wich seinem Blick aus.

Zur Unterredung im Hauptquartier kamen außer Tom und Mattias noch fünf Juristen der Schwedischen Streitkräfte und zwei Männer in anonymen schwarzen Anzügen, die sich ihnen nicht vorstellten, aber höchstwahrscheinlich dem Geheimdienst angehörten, wie Tom vermutete. Darüber hinaus waren zwei Zeugen aus dem Camp und eine große Anzahl hoher Militärs anwesend, deren Uniformjacken mit Rangabzeichen übersät waren. Der Oberbefehlshaber saß schweigend und mit finsterer Miene hinter seinem überdimensionalen Schreibtisch. Tom wurde kein Sitzplatz angeboten – eine überdeutliche Machtdemonstration.

Mattias war ebenfalls gekommen. Tom war sich sicher, dass sein Kamerad und Waffenbruder seine eigene Sicht der Dinge bestätigen würde.

Nachdem Tom seinen Bericht kurz und knapp dargelegt hatte, stand Mattias auf. Er wirkte ruhig und fokussiert wie immer.

Doch dann stieß er Tom das Messer in den Rücken.

»Als wir nach Afghanistan flogen, war Hauptmann Lexington nicht in guter Verfassung. Er hat damals überreagiert und tut es auch heute. Er ist schon seit einer Weile etwas aus der Balance.«

Tom glaubte, sich verhört zu haben.

»Außerdem kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Zielobjekt bewaffnet war«, fuhr Mattias fort.

In Toms Innerem breitete sich eine Eiseskälte aus. »Zielobjekt? Es war verdammt noch mal kein Straftäter, sondern ein unbewaffnetes Kind.«

»Es war dunkel, und es herrschte Chaos. Man konnte nicht ausschließen, dass er eine Bedrohung darstellte.«

Mattias schaute Tom geradewegs in die Augen, doch Tom konnte in diesem Blick keinerlei Gefühlsregung erkennen, er war völlig neutral. Nicht, dass Tom gewusst hätte, wie man auszusehen hatte, wenn man seinen besten Freund verriet, aber Mattias log, und Toms Karriere beim Militär war gelaufen. Er konnte nicht länger dort bleiben, nachdem er zehn Jahre seines Lebens dafür geopfert hatte, in denen er an Ideale und den Korpsgeist glaubte. Doch diese Zeit war unwiderruflich vorbei.

Tom kündigte schon am nächsten Tag und verließ die Schwedischen Streitkräfte, um nie wieder zurückzukehren.

Das war inzwischen acht Jahre her.

Und jetzt war Mattias hier in Kiruna und tat so, als wäre Tom sein Freund, um ihn wieder zum Militär zurückzulocken.

Doch Tom hatte mit diesem Kapitel abgeschlossen, das wusste er mit Sicherheit. Und bis gestern hatte er auch fest angenommen, mit Mattias Ceder fertig zu sein, was ihm heute allerdings nicht mehr ganz so sicher erschien. Einerseits wollte er diesen Verräter am liebsten rausschmeißen, andererseits erinnerte er sich aber auch an ihre gemeinsame Freundschaft.

»Ich fahre zum Einkaufen«, sagte Tom kurz angebunden, als Mattias gegen kurz nach zehn Uhr in der Küche erschien. Er bog schlitternd mit seinem Wagen auf die Hauptstraße ein und gab dann Gas, sodass der Schnee aufstob. Das Thermometer im Auto zeigte minus acht Grad an, was für Kiruna eine fast frühlingshafte Temperatur war.

Im örtlichen Supermarkt packte er Brot, Käse und Orangensaft in den Einkaufswagen, bevor er seinen Blick über den Ständer mit den Taschenbüchern schweifen ließ. Es war schon lange her, dass er ein Buch gelesen hatte.

Während seiner Auslandsaufenthalte hatte er immer massenweise Bücher verschlungen: Romane, Fachbücher, Biografien, eigentlich fast alles, denn Lesen half ihm dabei, sich zu entspannen. Während eines Einsatzes rauschte einem das Adrenalin in einer Art und Weise durch die Adern, wie es sich nur wenige vorstellen konnten. Er war schon von allen möglichen Angreifern beschossen worden, angefangen von Terroristen bis hin zu gewöhnlichen Kriminellen. Piraten hatten ihn verfolgt, potenzielle Entführer hatten ihn mit dem Wagen von der Straße abgedrängt, und er hatte sich gegen die Taliban zur Wehr setzen müssen. In solchen Situationen musste man funktionieren, ohne nachzudenken, ansonsten wurde man selbst getötet – so viel zur Evolution auf dem Schlachtfeld. Die körperliche Reaktion setzte erst später ein und konnte ziemlich heftig ausfallen. Soldaten, denen es nicht gelang, hinterher wieder runterzukommen, hielten in ihrem Job nicht lange durch. Tom hatte schon miterlebt, wie Kameraden nach einem Einsatz durchgedreht waren, weil sie ihren Adrenalinspiegel nicht mehr unter Kontrolle bekommen hatten. Einige benötigten Sex, um sich zu entspannen, andere trainierten, viele tranken. Er selbst hatte gelesen.

In der Schule war Lesen für ihn die Hölle gewesen. Er wusste auch nicht, woran es lag, aber alles, was mit Buchstaben zu tun hatte, war für ihn der reinste Albtraum gewesen. Vor der ganzen Klasse laut lesen und dabei das Kichern seiner Mitschüler ertragen zu müssen, wenn er ins Stocken geriet, und es immer wieder aufs Neue zu üben und doch ständig hinterherzuhinken, hatte ihm schließlich das Gefühl vermittelt, dämlich und unbegabt zu sein. Erst zu Beginn der Militärhochschule ließ es nach. Dort hatte er den gesamten Stoff aus reiner Willenskraft bewältigt, denn er wollte unbedingt sein Examen bestehen, und eines Tages hatten die Buchstaben angefangen, gemeinsame Sache mit ihm zu machen, als hätten sich in seinem Gehirn neue Synapsen gebildet, die dafür sorgten, dass er plötzlich alles begriff.

Er entschied sich für zwei Taschenbücher von der Bestsellerliste, bezahlte und packte seinen Einkauf in die Tasche. Dann verließ er den Supermarkt und hörte gerade noch ein kratzendes Geräusch und ein lautes Rufen, bevor er von einem riesigen Untier fast zu Boden gerissen wurde, das wie aus dem Nichts plötzlich vor ihm aufgetaucht war.

Er war mit einem gigantischen Hund mit grauem zotteligen Fell kollidiert, dessen Rückenhöhe Tom fast bis zum Oberschenkel reichte. Das Tier schleifte eine Leine hinter sich her, und ohne nachzudenken, trat Tom mit einem Fuß darauf, als es gerade zum Sprung ansetzte. Der Hund blieb ruckartig stehen, woraufhin Tom sich hinunterbeugte und rasch die Leine ergriff. Die Bestie zog aufgebracht daran, während sie die Ohren anlegte und die Zähne fletschte. Tom zögerte, da er schon zu viele Menschen gesehen hatte, die von wütenden Hunden angegriffen worden waren, weil sie das Naturell der Tiere nicht respektierten. Doch vorm Laden standen einige Kinder, sodass er die Leine auf Armeslänge von sich entfernt hielt und überlegte, was er als Nächstes tun sollte.

Welcher Idiot kam nur auf die Idee, einen solchen Hund mit in die Stadt zu nehmen? Er inspizierte das knurrende Monster mit den sich sträubenden Nackenhaaren. Das Tier wirkte eher wild als zahm. Wer legte sich überhaupt so ein Untier zu?

»Mein Gott, vielen Dank«, hörte er eine Frau atemlos ausrufen, und plötzlich kam Ellinor auf ihn zugelaufen.

Sie war so ungefähr die Letzte, die er erwartet hatte.

»Ist das etwa dein Hund?«, fragte er ungläubig.

»Sie hat sich losgerissen, sie ist noch nicht an mich gewöhnt«, rief Ellinor keuchend aus. Das Tier folgte ihren Bewegungen mit dem Blick, legte die Ohren an und stierte sie an. Tom kannte sich nicht gerade gut mit Hundesprache aus, aber er spürte, dass das Tier zitterte, während es seinen massigen Körper gegen sein Bein presste. Der Hund war gar nicht wütend, sondern eher verängstigt.

»Wovor hat der denn Angst?«, fragte Tom.

Ellinor streifte einen ihrer Fäustlinge ab und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Sie war noch immer leicht aus der Puste. »Irgendwas muss ihr Angst eingejagt haben. Ich war nicht drauf gefasst, dass sie sich losreißt. Sie ist unglaublich stark. Eigentlich gehört sie Nilas.«

Nilas. Der Tierarzt. Der Mann, für den Ellinor ihn unbegreiflicherweise verlassen hatte. Dieser verantwortungslose Idiot, der einen unberechenbaren Hund besaß und offenbar kein Problem damit hatte, ihn Ellinor anzuvertrauen, damit sie hinter ihm hergeschleift würde.

Tom blieb mit der Leine in der Hand stehen, Ellinors Blick ruhte auf ihm.

»Da bist du ja, ich hab mir schon Sorgen gemacht!«

Ellinor drehte sich um.

Nilas.

Tom konnte diesen verhassten Namen nicht einmal denken, ohne das Gesicht verziehen zu müssen.

Ellinor winkte ihm zu. »Nichts passiert. Sie ist hier.«

Nilas zögerte. Dann zog er seinen rechten Handschuh aus und streckte seine Hand vor. »Sie müssen Tom sein«, begrüßte er ihn.

»Muss ich das?«, fragte Tom, ohne die Hand des anderen zu ergreifen.

Ellinors Augen verengten sich, doch Nilas lächelte ihn freundlich an. »Nett von Ihnen, dass Sie Freya eingefangen haben. Am besten nehme ich sie gleich an mich. Sie ist lieb, aber wenn Hunde Angst bekommen, kann es passieren, dass sie beißen. Komm, Freya!«

Nilas streckte seine Hand nach der Leine aus. Tief unten aus Freyas Kehle ertönte ein dumpfes Knurren, woraufhin Tom Nilas mit einem schadenfrohen Grinsen bedachte. »Merkwürdig, sie freut sich offenbar gar nicht, Sie zu sehen. Vielleicht haben Sie ja doch kein so gutes Händchen für Tiere.«

»Wir glauben, dass sie von ihrem früheren Besitzer schlecht behandelt wurde«, erklärte Ellinor. »Nilas hat sich um sie gekümmert, da sie in einem erbärmlichen Zustand war.« Dann schob sie das Kinn vor und sagte entschieden: »Nilas kann fantastisch mit Tieren umgehen.«

»Freya«, lockte Nilas den Hund und klopfte auffordernd auf seinen Oberschenkel.

Freya presste sich noch immer zitternd an Toms Bein, und Tom bereute seine Worte fast, denn er war nicht die Bohne an einem verrückten Köter wie diesem interessiert. Genervt hielt er Nilas die Leine hin, da er die Begegnung so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Doch Nilas nahm sie nicht entgegen. Stattdessen musterte er Tom, als wäre ihm gerade eine Idee gekommen. Da aber eine der letzten Ideen von Nilas darin bestanden hatte, mit Toms Verlobter zu schlafen, während Tom gerade Höllenqualen durchlebte, war sich Tom sicher, dass dieser Einfall ihm nicht gerade besser gefallen würde.

»Eigentlich suche ich jemanden, der Freya nehmen könnte. Wir haben nämlich schon zwei Hunde zu Hause, die recht lebhaft sind und Freya ziemlich stressen. Im Grunde braucht sie eher Ruhe.«

Tom entgegnete nichts. Das war ja wohl nicht sein Problem.

Ellinor legte eine Hand auf Nilas’ Jackenärmel. »Tom mag keine Tiere«, sagte sie. Das stimmte so nicht: Tom waren Tiere im Allgemeinen einfach völlig gleichgültig, während Ellinor ausnahmslos alle Tiere liebte.

Freya hatte inzwischen aufgehört zu zittern und kratzte sich stattdessen mit einer ihrer Riesenpfoten frenetisch das borstige graue Fell hinterm Ohr. Tom betrachtete sie. »Was ist das eigentlich für eine Rasse? Ein Höllenhund?«

Nilas zog seinen Handschuh wieder an und streckte seinen Rücken. »Sie ist wohl ein Mischling. Aber überwiegend irischer Wolfshund. Die werden ziemlich groß. Sie ist noch ein Welpe.«

»Ein Welpe?« Der Hund wog mindestens dreißig Kilo. Wie viel größer würde er denn noch werden? Freya gab ein kurzes Bellen von sich und ließ sich dann quer über einen von Toms Stiefeln fallen, legte sich darauf zurecht, überkreuzte die Vorderpfoten und legte ihren Kopf ab.

Alle drei betrachteten sie, doch die Hündin schien nicht die Absicht zu hegen, sich wieder zu erheben. Tom versuchte seinen Fuß zu bewegen, was sie mit einem Winseln quittierte.

»Im schlimmsten Fall müssen wir sie einschläfern lassen«, sagte Nilas.

Ellinor schlug sich die Hand vor den Mund und wurde blass. Tom betrachtete Nilas misstrauisch. Dieser idiotische Tierarzt war offenbar skrupellos genug, um gefühlsmäßige Manipulation zu betreiben. Freya, die noch immer auf seinem Fuß lag, leckte inzwischen irgendwas vom Boden auf, doch abgesehen davon wirkte sie eigentlich gesund und munter.

»Tom, du kannst sie nicht einschläfern lassen«, sagte Ellinor. Jetzt kam er sich wie ein Buhmann vor. Hätte er doch bloß die Hände von diesem Hundevieh gelassen.

Tom schaute sich um, als würde er händeringend nach jemandem suchen, der das Bizarre an der Situation bestätigen konnte, in die er geraten war, und erblickte plötzlich eine Frau mit gesenktem Kopf und einem in Folie gewickelten Blumenstrauß unterm Arm, die gerade aus dem Supermarkt kam. Er erkannte sie sofort wieder: Es war Ambra Vinter, die den Eindruck erweckte, als wolle sie sich unbemerkt an ihnen vorbeischleichen.

»Hej«, rief er laut.

Sie blieb stehen, schaute auf, begegnete seinem Blick und zögerte, als würde sie am liebsten weitereilen.

»Ach, hallo!«, rief Ellinor fröhlich. Ambra sah aus, als gäbe sie die Hoffnung auf, ihm unauffällig zu entkommen. Sie nickte erst Tom zu und wandte sich dann Ellinor zu.

»Wie schön, Sie wiederzusehen«, sagte Ellinor.

»Hej, Ellinor«, sagte Ambra. Sie begrüßte auch Nilas, während sie wachsam zu Tom hinüberschielte.

»Hej«, sagte er erneut. Hatte sie wirklich vorgehabt, sich an ihm vorbeizuschleichen? Ambra schob ihre Hände in die Jackentaschen. Ellinor schaute abwechselnd von Tom zu Ambra. »Kennt ihr euch?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete Tom und nickte, während Ambra gleichzeitig den Kopf schüttelte und »Nein« sagte.

Ellinor legte den Kopf schräg. Freya kratzte sich erneut so heftig, dass ihr ganzer Körper durchgeschüttelt wurde.

»Wir sind uns gestern kurz begegnet«, sagte Ambra vage. Es war offensichtlich, dass ihr die Situation unangenehm war.

»Ambra ist wegen eines Jobs hier«, erklärte Tom, ohne dass jemand danach gefragt hätte.

»Ich weiß«, entgegnete Ellinor nickend und legte eine Hand auf Ambras Arm. »Sie ist hier, um Elsa Svensson zu interviewen.«

Ambra deutete vielsagend auf den Blumenstrauß unter ihrem Arm. »Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr. Sie wohnt gleich um die Ecke. Ich wusste gar nicht, dass Sie beide einander kennen. Dann sind Sie also …?« Sie verstummte befangen.

»Toms Ex«, ergänzte Ellinor mit einem freundlichen Lächeln.

»Hab ich mir fast gedacht.«

Dann breitete sich Stille aus. Nilas hatte nach Ambras Begrüßung kein weiteres Wort gesagt. Er betrachtete sie schweigend, warf hin und wieder einen Blick auf Freya und strahlte dabei eine typisch norrländische Verlässlichkeit aus. Tom kam es merkwürdig vor, dass Ellinor jetzt mit Nilas zusammen war. Es fühlte sich irgendwie falsch an. Wie ein Missverständnis, das Tom eventuell würde aus dem Weg räumen können, wenn er sich nur hinsetzen, einen Plan erstellen und eine Strategie entwickeln könnte. Wenn er diesbezüglich überhaupt irgendwas tun konnte.

Tom betrachtete den Hund, der sich auf seinem Fuß niedergelassen hatte. Ambra kratzte sich an der Nase und strich sich die Haare aus der Stirn. Ellinor hingegen schaute mit einer dezenten Falte auf ihrer ansonsten glatten Stirn zwischen Ambra und Tom hin und her, als versuchte sie herauszufinden, ob zwischen ihnen irgendwas lief.

»Ich muss mich beeilen«, sagte Ambra rasch. Sie nickte Nilas flüchtig zu, umarmte Ellinor rasch etwas unbeholfen und schaute dann Tom an. Er konnte unmöglich ausmachen, was sie gerade dachte.

»Ambra …«, begann er, während sie kurz und bündig »Hejdå« sagte, einfach davonstapfte und Ellinor, Nilas, ihn und den Hund ihrem jeweiligen Schicksal überließ. Er konnte es ihr nicht übel nehmen.

»Sie ist nett«, sagte Ellinor.

Nett? Das war nicht gerade das Adjektiv, mit dem er Ambra beschreiben würde. Ellinor folgte Ambra mit dem Blick, bis sie um die Ecke gebogen war. »Läuft da was zwischen euch? Oder bilde ich mir das nur ein?«

Ob da etwas zwischen ihnen lief? Er musste daran denken, wie Ambra geklungen hatte, als er sie gegen die Tür ihres Hotelzimmers presste.

»Nein«, antwortete er abweisend, während ein schlabberndes Geräusch zu seinen Füßen seine Aufmerksamkeit erregte. Freya hatte gerade angefangen, auf seinem Schnürsenkel herumzukauen, und ihr Sabber rann von seinem Stiefel herab. Verdammter Mist aber auch.

»Sie mag Sie«, sagte Nilas.

»Das bezweifle ich«, entgegnete Tom und warf einen Blick in die Richtung, in der Ambra verschwunden war.

»Ich meine, der Hund mag Sie«, sagte Nilas. »Bei dem Mädel bin ich mir eher nicht so sicher. Aber der Hund mag Sie wirklich.«

Tom zog seinen Stiefel ruckartig zu sich heran. Er war bedeckt mit Hundesabber. Freya schüttelte sich. Tom hielt Nilas die Leine hin. Jetzt hatte er wirklich genug von diesem Zirkus.