24

Tom packte die letzten Lebensmittel, die er eingekauft hatte, in die Tüte. Fladenbrot, Hundefutter und Obst. Im Supermarkt war es fast leer, weil höchstwahrscheinlich alle zu Hause waren und das Abendessen zubereiteten, fernsahen, sich unterhielten oder das taten, was jeder normale Mensch ohne Posttraumatische Belastungsstörung in den Tagen zwischen den Jahren so machte.

»Hej«, hörte er hinter sich jemanden rufen.

Er drehte sich nach der ihm wohlbekannten Stimme um. »Hej, Ellinor«, grüßte er zurück und blieb mit seinen Einkaufstüten stehen. Ellinor hatte in der einen Hand eine Tüte, in der er eine Flasche Champagner erblickte. Stimmte ja, morgen war Silvester. »Willst du auch gerade gehen?«, fragte sie. Tom nickte, und sie verließen den Laden gemeinsam.

»Hallo, Freya«, rief sie lachend, als der draußen wartende Hund sie erblickte und mit dem Schwanz wedelte. Irgendwie hatte es sich so ergeben, dass Freya bei ihm geblieben war. Er wusste nicht genau, wie es zugegangen war, aber er hatte seinen Anruf bei Ellinor und Nilas immer wieder aufgeschoben. Mittlerweile freute er sich auf die regelmäßigen Spaziergänge mit dem Hund und die Bewegung, die er dadurch bekam. Ellinor hatte auch nichts von sich hören lassen, also war alles beim Alten geblieben.

»Wie geht es euch? Sie sieht jetzt viel fröhlicher aus.«

»Gut«, antwortete er, während er die Hündin losband. Ellinor begleitete Tom bis zu seinem Auto. Wenn Ellinor ihn darum bäte, Freya zurückzugeben, würde er sie selbstverständlich, ohne zu zögern, zurückbringen. Doch es machte ihm auch nichts aus, wenn sie noch eine Weile bei ihm blieb. Er öffnete den Kofferraum und stellte seine Tüten hinein. Freya stand schon schwanzwedelnd vor der Beifahrertür.

»Ich wollte nur kurz Hej sagen«, meinte Ellinor. »Du wirkst übrigens auch fröhlicher.« Sie legte vorsichtig eine Hand auf seinen Arm und schenkte ihm ein Lächeln. »Frohes neues Jahr, Tom.« Dann ging sie.

Er setzte sich in den Wagen und startete den Motor, während ihn ein Gefühl der Hoffnung erfüllte. Freya, die es liebte, neben ihm zu sitzen, bellte kurz auf. Er streckte seine Hand aus und tätschelte ihr den Kopf. »Hast du gehört? Ellinor gefällt es, wie ich aussehe.« Zumindest ein kleiner Fortschritt. Er würde sich von nun an für sie auf Vordermann bringen. Ab jetzt war es genug mit dem Alkoholkonsum.

»Komm«, rief er, nachdem er vor seinem Haus angehalten hatte. Freya sprang aus dem Wagen und lief schnuppernd im Schnee herum. Tom trug die Lebensmitteltüten ins Haus und packte Gemüse, Obst und Saft aus. Er ernährte sich inzwischen gesünder, wie er feststellte. Ein bewusster Entschluss war das nicht, es hatte sich einfach so ergeben. Außerdem bewegte er sich dank Freya mehr.

Er absolvierte eine Runde durchs Haus, räumte ein wenig im Wohnzimmer auf und betrachtete die Sofaecke, in der Ambra gesessen hatte. Es war ein schöner Kuss gewesen, dort auf dem Flughafen, ein geradezu verdammt fantastischer Kuss.

Er ging hinunter zur Sauna und kontrollierte, ob alle Türen und Fenster verschlossen waren. In der Toilettenkabine erblickte er ein weißes Kleidungsstück. Als er das dünne Teil vom Haken nahm, sah er, dass es ein weißes Damenunterhemd war. Ein Hauch Parfüm drang in seine Nase, und er erkannte den Duft unmittelbar wieder. Es war Ambras. Nach der Massage hatte sie sich vermutlich rasch angezogen und musste es hier unten vergessen haben. Er blieb kurz mit dem weichen Baumwollhemdchen in der Hand stehen, bevor er nachdenklich die Treppe wieder hinaufging.

Oben goss er sich ein Glas Saft ein und schaute aus dem Küchenfenster. Es war angenehm, das Haus wieder für sich allein zu haben. Doch er sah noch immer vor sich, wie Ambra mit leuchtenden Augen hier in seiner Küche gestanden und an ihrem Champagner genippt hatte. Er hängte das Hemd über eine Stuhllehne und griff nach seinem Handy. Er schrieb rasch:

Hej. Wie geht es dir? Viele Grüße, Tom.

Er schickte die SMS ab und blieb mit dem Handy in der Hand stehen. Hätte er noch mehr schreiben sollen? Würde sie ihm antworten?

Sein Handy gab ein dumpfes Surren von sich. Er nahm sein Saftglas und das Handy mit ins Wohnzimmer, denn er wollte ihre Nachricht in Ruhe auf dem Sofa lesen, und drehte erwartungsvoll das Display nach oben.

Mir geht es gut. Danke. Und dir?

Er antwortete umgehend:

Danke, auch gut.

Er schickte die SMS ab, spürte jedoch, dass er zu schnell gewesen war. Er hätte noch mehr sagen wollen und schrieb:

Was machst du gerade?

Hielt sie sich zurzeit in Stockholm auf? Er fragte sich, in welchem Stadtteil sie wohnte. In einer kleinen Wohnung in der Innenstadt oder einem großen Neubau in einem Vorort? Oder wohnte sie mit jemandem zusammen? Da ertönte erneut das Signal einer hereinkommenden SMS. Er hatte die Lautstärke höher gestellt, um nichts zu verpassen. Ihre Antwort lautete:

Nichts.

Er blieb nachdenklich mit dem Handy in der Hand sitzen. Sie antwortete äußerst einsilbig. War sie gerade beschäftigt? Oder sauer auf ihn? Hätte er schon früher von sich hören lassen sollen? Warum tat er es eigentlich ausgerechnet jetzt? Tom kratzte sich an der Stirn.

Er kam nicht oft in die Situation, den Inhalt eines einzelnen Wortes deuten zu müssen. Aber wenn sie keine weiteren Nachrichten von ihm bekommen wollte, würde sie es ihm doch wohl zu verstehen geben, oder? Ja, entschied er, also schrieb er:

Nichts?

Ihre Antwort ließ auf sich warten, woraufhin Tom vom Sofa aufstand. Er stapelte Holz im Kamin auf, zündete es an und wartete ungeduldig, bis er endlich das Signal hörte. Diesmal kam eine längere Antwort:

Ich sehe gerade fern. Leute, die völlig pleite sind und Hilfe von zwei böswilligen Männern erhalten, die ihnen die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Eigentlich ist es grausam, aber diese Sendung ist mein Laster. Zumindest eines von vielen.

Er war sich nicht sicher, ob sie Witze machte, also fragte er:

Bringen sie so etwas im Fernsehen?

Er saß mit dem Handy in der Hand da und wartete. Dann kam eine weitere SMS:

Hast du dir noch nie »Die Luxusfalle« angesehen?

Er antwortete rasch:

Ich schaue nur selten fern.

Ihre Antwort kam postwendend:

Snob.

Tom musste lachen. Freya hob den Kopf und schaute ihn verwirrt an. Sein Handy gab erneut ein Signal von sich:

Ich schlürfe gerade Likör. Aber sonst trinke ich nie Alkohol.

Als er die Worte las, konnte er fast ihre Stimme hören. Er lächelte und tippte:

Du hast doch an Heiligabend was getrunken. Du warst sogar ziemlich beschwipst.

Lange Pause.

Vielleicht war es blöd gewesen, den Abend aufzugreifen. Doch er erinnerte sich gern daran. Ambra war süß, wenn sie etwas getrunken hatte, denn sie wirkte dann so entspannt und fröhlich. Genauso wie auch nach der Sauna. Oder nach dem Kuss. Dann kam ihre Antwort:

Ja, stimmt. Ich hab da oben viel getrunken. Komisches Kaff, Kiruna.

Hm. Was sollte er darauf entgegnen? Er war es nicht gewohnt, Small Talk zu halten beziehungsweise SMS zu verfassen. Sollte er den Kuss erwähnen? Aber vielleicht hatte sie ihn längst vergessen. Plötzlich kam eine weitere SMS von ihr, in der stand:

Ich habe heute Geburtstag.

Tom las sie mehrmals. War sie irgendwo zum Feiern unterwegs? Oder hatte sie Leute zu sich nach Hause eingeladen? Aber sie hatte die Fernsehsendung erwähnt, also tippte er darauf, dass sie allein war. Er riskierte es und fragte:

Darf ich dich anrufen?

Er saß mit dem Handy in der Hand da und wartete. Keine Antwort.

Ambra starrte auf das Display ihres Mobiltelefons. Sie las die letzte SMS ein ums andere Mal. Darf ich dich anrufen? Diese Frage hätte sie nicht erwartet. Aber sie hatte eigentlich auch gar nicht vorgehabt, ihm zu erzählen, dass sie heute Geburtstag hatte. Sie warf einen Blick auf die Likörflasche. Der Inhalt hatte sich beträchtlich reduziert, was praktisch bedeutete, dass sie schon wieder betrunken war und vermutlich kein Urteilsvermögen mehr besaß. Wollte sie mit Tom sprechen? Sie überlegte, bevor sie zurücksimste:

Ja.

Natürlich wollte sie mit ihm sprechen. Ihre SMS-Konversation hatte sich als bisheriger Höhepunkt des heutigen Tages erwiesen.

Ihr Handy klingelte umgehend.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte er, nachdem sie sich gemeldet hatte. »Störe ich?«

Er hatte eine angenehme Stimme am Telefon. Ruhig und tief.

»Danke. Nein, du störst nicht. Ich bin allein zu Hause.«

»Darf ich fragen, wie alt du geworden bist?«

»Neunundzwanzig. Noch ein Jahr bis zum Dreißigsten.«

»Junger Hüpfer.«

»Und wie alt bist du?«, fragte sie.

»Bald siebenunddreißig. Magst du Geburtstage etwa auch nicht?«

»Nicht so besonders. Und was machst du gerade?«

»Bin zu Hause und sitze auf dem Sofa.«

Wenn sie die Augen schloss, konnte sie Tom bildlich vor sich sehen. Mit den langen, vor sich ausgestreckten Beinen, natürlich ganz in Schwarz gekleidet. Sie meinte, sogar ein heimeliges Knistern im Hintergrund zu hören. Hatte er ein Feuer im Kamin gemacht? Gab es ein gemütlicheres Geräusch als das von brennenden Holzscheiten, die knisterten und knackten?

»Heute ist übrigens wieder das Nordlicht zu sehen. Habt ihr Schnee in Stockholm?«, fragte er.

»Ein wenig. Aber längst nicht so viel wie in Kiruna.« Plötzlich verspürte Ambra etwas, das sie nie geglaubt hätte, es je zu erleben: Sie sehnte sich zurück nach Kiruna.

»Hast du irgendwelche Pläne für heute Abend?«, fragte er.

Ambra schaute auf die Uhr. Es war acht. Eigentlich hatte sie vorgehabt, gegen neun zu Bett zu gehen, und dann würde dieser elendige Tag endlich vorbei sein. »Nein, eigentlich nicht.«

»Was hast du so gemacht, seit du aus Kiruna zurück bist?«

Sie stellte ihr Likörglas ab, legte sich aufs Sofa und machte es sich mit ihrem Handy in der Hand und Toms Stimme im Ohr gemütlich. »Vor allem gearbeitet. Ist Mattias noch da?«

»Nein. Er ist am selben Tag gefahren wie du, und seitdem haben wir nichts mehr voneinander gehört.«

Der Kuss auf dem Flughafen stand noch immer zwischen ihnen. Er hatte ihn jedenfalls nicht erwähnt. Sollte sie einfach so tun, als existierte er nicht, oder sollte sie einen nonchalanten Kommentar abgeben, nach dem Motto: Ach übrigens, danke für den Kuss, ich hab in den letzten Tagen andauernd daran denken müssen? »Ist Mattias eigentlich dein bester Freund?«, begnügte sie sich jedoch zu fragen.

»Nein. Früher war er es vielleicht einmal. Aber wir stehen in einer etwas komplizierteren Beziehung zueinander.«

Im Stillen dachte Ambra, dass Tom viele komplizierte Beziehungen zu führen schien, aber sie war wohl kaum diejenige, die sich ein Urteil darüber erlauben konnte, denn ihre eigenen Beziehungen waren ja auch nicht gerade komplikationslos. »Und wer ist dann dein bester Freund?«

Wenn er jetzt mit »Ellinor« antwortete, würde sie auflegen, beschloss sie. Doch er tat es nicht.

»Merkwürdigerweise vermutlich mein Kumpel David. Wir kennen uns schon lange, und er war mir eine große Stütze, nachdem ich wieder nach Schweden zurückgekehrt bin. Er ist ein Freund, auf den zu hundert Prozent Verlass ist. Aber im Augenblick stehen wir nicht in Kontakt miteinander. Seit der Sache im Tschad.«

Es dauerte eine Weile, bis Ambra kapierte, was Tom gerade gesagt hatte. Doch dann machte sich durch ihren Likörrausch hindurch die Journalistin in ihr bemerkbar. Sie setzte sich auf dem Sofa auf und spürte, wie sie eine Gänsehaut auf den Armen bekam.

»Tschad? Was hast du denn dort gemacht?«

Langes Schweigen.

»Du brauchst es mir nicht zu erzählen. Vergiss meine Frage einfach«, sagte sie schließlich, auch wenn sie diese Information liebend gern von ihm erhalten hätte.

Sie hörte, wie er tief Luft holte. »Ich war im vergangenen Sommer wegen eines Jobs dort und wurde gekidnappt.«

Das hatte sie nicht erwartet. »Und von wem?«

Erneut langes Schweigen. »Von einheimischen Rebellen.«

»Shit.«

»Ja.«

»Und wie lange?«

»Ziemlich lange. Du, ich hätte besser nicht davon anfangen sollen.«

»Ist schon okay«, sagte sie. »Ich hab so viel Likör getrunken, dass ich sowieso spätestens morgen alles wieder vergessen habe.«

Er gab ein leises Geräusch von sich. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, würde sie annehmen, dass er lachte.

»Und was schätzt du an David?«, fragte sie, während sie einen Notizblock und einen Stift hervorkramte. Sie fragte sich, was Tom Lexington von einem Mann erwartete, um ihn als Freund bezeichnen zu können.

»Wir kennen uns schon lange, und er ist zuverlässig und loyal. Ein wahrer Freund eben.«

»Aber ihr habt den Kontakt zueinander verloren?«

»Das Ganze ist etwas kompliziert.«

Natürlich.

»Und wer ist deine beste Freundin?«, fragte er.

»Ich nehme an, Jill. Aber bei mir ist es auch ein wenig kompliziert, weil Jill ständig unterwegs ist.«

»Und weil ihr ziemlich verschieden seid?«

Aha, es war ihm also tatsächlich auch aufgefallen. »Ja, wir sind ziemlich verschieden. Bei der Arbeit gibt es zwar auch mehrere Leute, die ich mag, aber ich treffe mich selten mit Kollegen.« In diesem Punkt müsste sie sich wirklich bessern, dachte sie. Wovor hatte sie eigentlich Angst?

»Und mit anderen?«

»Nein. Als Kind bin ich ständig umgezogen, von einer Pflegefamilie zur nächsten, sodass ich kaum Freundschaften knüpfen konnte, bevor ich schon wieder wegmusste. Und außerdem war ich furchtbar schüchtern.« Sie legte sich mit dem Nacken auf der Armlehne zurecht. »Als Erwachsene ist es etwas besser geworden. Ist Freya eigentlich noch bei dir?«

»Ja, sie ist hier. Ich müsste übrigens unbedingt mal mit ihr rausgehen.«

»Danke, dass du angerufen und mir gratuliert hast«, sagte sie.

»Es war schön, mit dir zu reden. Ich hoffe, dass du an deinem Geburtstag noch ein paar nette Stunden verbringst.«

»Danke, du auch.« Sie verzog das Gesicht. »Ich meinte eigentlich, dir auch noch einen schönen Abend.«

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, legte sich Ambra auf die Seite. Sie schob sich ein Kissen unter die Wange, während sie nach der Fernbedienung tastete, um den Ton am Fernseher wieder einzuschalten. Dabei fiel ihr Blick zufällig auf den Notizblock, der auf dem Tisch lag und den sie völlig vergessen hatte. Sie nahm ihn zur Hand und las: Tschad mit zwei Ausrufezeichen dahinter und dick unterstrichen. Darunter hatte sie gekritzelt: Ist er ein Bad Guy??

Sie schenkte sich noch etwas Likör nach und nippte daran, während eine weitere Folge der Serie »Die Luxusfalle« lief. Doch jetzt war sie mit den Gedanken ganz woanders. Was zum Teufel hatte Tom im Tschad gemacht?