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Es war wirklich saukalt in Kiruna, dachte Ambra, als sie fröstelnd vom Flieger in die Ankunftshalle des Flughafens ging. Der Wind zerrte an ihrer Jacke, und sie folgte ihren Mitpassagieren im Laufschritt. Als der Flieger zum Landeanflug ansetzte, hatten sie den Polarkreis längst hinter sich gelassen. Hier oben war die Sonne am zehnten Dezember untergegangen und wurde erst wieder im Januar über dem Horizont zurückerwartet. Jetzt, mitten am Tag, herrschte noch eine Art Zwielicht, doch in einer Stunde würde es stockdunkel sein.

Sie hatte nur Handgepäck bei sich und beeilte sich, das Terminal in Richtung Ausgang zu durchqueren, um rasch zum Flughafenbus zu gelangen. Mit jedem Schritt breitete sich das unangenehme Gefühl in ihrem Inneren weiter aus. Draußen lag der Schnee zu meterhohen Wällen aufgeschichtet, und der Boden war schneebedeckt, sodass sie in ihren viel zu dünnen Stiefeln ins Rutschen geriet. Hinter einem Stacheldrahtzaun hörte sie ein Gespann aufgeregter Schlittenhunde aufjaulen. Frierend stieg sie in den Bus, löste eine Fahrkarte ins Zentrum von Kiruna und setzte sich auf einen Fensterplatz. Schnee, Schnee, Schnee. Während der Bus losfuhr, bekam sie leichte Magenschmerzen.

Als sie zum ersten Mal nach Kiruna kam, war sie zehn Jahre alt gewesen. Damals war ebenfalls Vorweihnachtszeit, was ihre Unlust jetzt wahrscheinlich noch verstärkte. Kurz vorher hatte eine gestresste Sozialarbeiterin mit krausem hellem Haar und nervösem Blick sie darüber informiert, dass sie nicht länger bei der Familie bleiben konnte, bei der sie gerade wohnte. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie mit ihrem Teddy im Arm vor der Frau gesessen hatte. Sie wusste, dass sie eigentlich zu alt für ein Kuscheltier war, doch er vermittelte ihr Geborgenheit.

»Wie heißt denn dein Teddy?«, hatte die Sozialarbeiterin mit dieser gekünstelten Stimme gefragt, mit der sich Erwachsene in solchen Situationen immer einzuschmeicheln versuchten.

»Einfach nur Teddy«, antwortete Ambra im Flüsterton.

»Teddy und du, ihr werdet gemeinsam zu einer anderen Familie fahren. Ihr seid zwar allein mit dem Bus unterwegs, aber du bist ja schon groß, Ambra, das funktioniert bestimmt wunderbar. Ein richtiges Abenteuer ist das«, sagte sie in keckem Ton.

Kurz darauf stieg Ambra in den Bus, mitsamt ihrem Teddy und einem kleinen Karton, der die einzigen Dinge enthielt, die ihr von ihren Eltern geblieben waren.

»Wirst du abgeholt?«, fragte der Busfahrer. Ambra nickte, denn sie traute sich nicht zu sagen, dass sie es nicht wusste.

Der Busfahrer war nett, bot ihr starke, leicht scharfe Halspastillen an und unterhielt sich während der ganzen Fahrt mit ihr. Doch als sie ankamen, nahm ihre Angst zu. Sie hatte noch nie zuvor so viel Schnee gesehen, und obwohl sie alles, was sie an Winterkleidung besaß, am Körper trug, fror sie. Während der Busfahrer den anderen Fahrgästen dabei half, ihre Taschen aus dem Gepäckraum zu heben, wich sie ihm nicht von der Seite. Und wenn nun niemand kam, um sie abzuholen? Was würde sie dann tun?

»Bist du das Pflegekind?«, vernahm sie plötzlich eine kühle Stimme hinter sich.

Noch bevor sie sich umdrehte, wusste sie, dass sie nichts Gutes verhieß.

»Wollten Sie nicht hier aussteigen?«

Ambra zuckte zusammen und kehrte gedanklich in die Gegenwart zurück.

Der Busfahrer betrachtete sie auffordernd im Rückspiegel. Sie hatte ihre Haltestelle erreicht.

Ambra stand auf, nahm ihr Gepäck an sich und beeilte sich auszusteigen. Es gelang ihr, sich durch die Schneemassen zum Hotel Scandic Ferrum durchzuschlagen, ohne bis zum Hals in den Schneemassen zu versinken. Im Hotel war es warm, sie stampfte den Schnee von ihren Stiefeln und schaute sich in der leeren Lobby um. Sie wurde von einer jungen Empfangsdame willkommen geheißen, checkte ein und fuhr mit dem Aufzug zu ihrem Zimmer im ersten Stock. Dort war es eiskalt, sodass sie einen Fleecepulli aus ihrer Tasche nahm und ihn überzog, bevor sie sich ihren Laptop unter den Arm klemmte und wieder zum Empfang hinunterfuhr.

»In meinem Zimmer ist es ziemlich kalt«, sagte sie.

»Ja, wir haben leider Probleme mit der Heizung«, erklärte die Empfangsdame freundlich. »Wir sind gerade dabei, sie wieder in Gang zu bringen, aber leider kann ich Ihnen kein anderes Zimmer anbieten.«

Ambra beschloss, im Restaurant des Hotels zu arbeiten, und setzte sich mit dem aufgeklappten Laptop an einen Tisch. Das Restaurant war mit Mittagsgästen gefüllt, alles ganz normale Menschen, wie sie annahm, und dennoch war sie innerlich angespannt und ließ ihren Blick ein ums andere Mal über den Raum schweifen, wobei sie den Eingang immer im Auge behielt aus Angst, irgendeiner Person aus ihrer Vergangenheit zu begegnen, so unwahrscheinlich dies auch sein mochte.

Ihre neuen Pflegeeltern hatten Rakel und Esaias Sventin geheißen. Esaias war groß und hager und Rakel blass und schweigsam. Sie trug einen dicken Zopf, der ihr bis weit über den Rücken hinunterreichte. Die beiden hatten fünf Söhne, vier ältere aus einer früheren Ehe von Esaias und einen gemeinsamen, der ein Jahr älter war als Ambra. Esaias war das Familienoberhaupt.

»Setz dich hinten rein«, sagte er, nachdem er sie schließlich am Bus abgeholt hatte, und deutete auf ein altes Auto ein Stück entfernt. Ambra stieg ein, denn sie hatte ja keine andere Wahl, und er streckte rasch seine Hand in ihre Richtung aus, riss ihr den Teddy aus den Armen und warf ihn in den nächsten Papierkorb, bevor er die Wagentür hinter sich zuzog.

Als irgendjemand plötzlich ein Tablett fallen ließ, wurde Ambra gedanklich mit einem Ruck wieder ins Restaurant zurückgeholt. Sie schaute sich um, und als ein großer, hagerer Mann das Restaurant betrat, begann ihr Herz heftig zu pochen, während ihr ein Schauer über den Rücken lief. Eine Welle des Unbehagens erfasste sie, die sie fast panisch werden ließ, bevor sie realisierte, dass es sich natürlich nicht um Esaias handelte, sondern um einen Mann, der ihm vage ähnelte. Doch ihr Körper hatte die Erinnerungen an ihn gespeichert.

Sie nippte an ihrem Kaffee und legte eine Hand auf ihr Handy. Ich bin erwachsen, wiederholte sie im Stillen. Diese Worte waren ihr ständiges Mantra. In jeder Sekunde wurden weltweit wehrlose Kinder misshandelt, und viel zu viele von ihnen führten ein Dasein, das noch weitaus schlimmer war als das, was sie selbst hatte durchstehen müssen. Doch sobald sie Kiruna verlassen dürfte, würde alles wieder in Ordnung sein.

Auf ihrem Bildschirm ploppte eine neue Meldung auf. Rund um die Uhr wurden die Nachrichten aktualisiert, und sie kam sich angesichts des unablässigen Nachrichtenstroms fast wie eine Sklavin vor. Sie überflog die neuesten News, teilte einen Link auf Twitter und lud ein Foto auf Instagram hoch. Sie arbeitete als moderne Webreporterin und war eine derjenigen, von denen man in Redaktionsmeetings und bei Umorganisationen als Person sprach, die immer »nahe an den Lesern« war. Während viele ihrer Journalistenkollegen nörgelten und sich manche von ihnen zu fein dafür waren, in den Sozialen Medien zu schreiben, gefiel es ihr außerordentlich gut, und ihre Plattform in den Sozialen Medien war wohl einer der Gründe dafür, dass sie noch immer ihren Job hatte. Also setzte sie alles daran, sich digital zu profilieren.

»Bist du vielleicht Ambra Vinter?«

Sie schaute zu dem Mann auf, der plötzlich neben ihrem Tisch stand und sie angesprochen hatte. Er war jung, schlank und äußerst gut aussehend. Trug praktische Winterkleidung und grobe Stiefel sowie eine große Nikon-Kamera an einem breiten Riemen über der einen Schulter und eine Tasche mit Fotoausrüstung über der anderen.

»Und du bist der Freelancer«, stellte sie fest.

»Tareq Tahir«, stellte er sich vor. Sie gaben sich die Hand, und er setzte sich ihr gegenüber. Ambra scannte ihn unauffällig, als er seine Kamera auf dem Tisch ablegte. Tareq war vielleicht zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt. Viele Fotografen waren extrem jung, die besten in der Branche starteten ihre Karriere schon frühzeitig. Tareq hatte dichte Wimpern, dunkelbraune Augen und einen männlichen, verführerischen Mund. Außerdem sinnliche starke Finger, mit denen er sich an seiner Kamera zu schaffen machte.

Als die Kellnerin an ihren Tisch eilte, um seine Bestellung aufzunehmen, bedachte Tareq sie mit einem strahlenden Lächeln. Ambra hingegen hatte sich ihr Mittagessen und ihren Kaffee selbst am Kassentresen holen müssen. Nicht eine der Bedienungen hatte auch nur das geringste Interesse daran gezeigt, ihre Bestellung aufzunehmen. Aber sie sah natürlich auch nicht aus wie der Star einer Boygroup.

»Und, wie läuft’s?«, fragte Tareq, nachdem die Frau mit seiner Bestellung davongeeilt war. Er strich sich eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn, die sofort wieder zurückfiel. »Kannst du sie nicht erreichen?«

Ambra schüttelte den Kopf. Nachdem sie gestern vor Antritt ihres Fluges mit Elsa Svensson telefoniert hatte, waren Probleme aufgetaucht. Die Zweiundneunzigjährige hatte einen mehr als redseligen Eindruck auf sie gemacht und ihr mit unerwartet klarer und aufgeweckter Stimme versichert, dass sie sich auf ihren Besuch freue. Doch als Ambra aus dem Flieger gestiegen war, hatte sie die Nachricht erhalten, dass Elsa das Treffen lieber verschieben wollte.

»Ich hab mehrfach versucht, sie anzurufen, aber sie geht einfach nicht ran.«

»Und was hast du jetzt vor?«, fragte Tareq.

Ambra kannte Elsas Adresse und hatte schon überlegt, einfach unangemeldet hinzufahren, doch eine derartige Aktion konnte auch den entgegengesetzten Effekt haben. Ältere Leute waren oft ziemlich eigen und mochten es nicht, wenn Journalisten einfach so vor ihrer Haustür auftauchten und darum baten, hereingelassen zu werden. Streng genommen wusste sie ja nicht einmal, ob Elsa überhaupt zu Hause war. Vielleicht hatte die Alte ja ihre Siebensachen gepackt und Kiruna verlassen. Es kam vor, dass Leute, die ein Interview zugesagt hatten, es sich in letzter Sekunde anders überlegten. Was natürlich ihr gutes Recht war, aber in diesem Fall auch verdammt frustrierend.

»Kennst du sie?«, fragte Ambra.

Tareq strich sich erneut dieselbe Strähne aus der Stirn und bedachte sie mit einem amüsierten Blick. »Du glaubst wohl, dass sich in Kiruna alle untereinander kennen. Aber so klein ist die Stadt nun auch wieder nicht.«

So hatte sie es nicht gemeint, die Frage hatte einfach einen verzweifelten Versuch dargestellt, das Problem des fehlenden Interviewobjekts irgendwie zu lösen. Sie wusste schließlich genau, wie es in Kiruna zuging. Natürlich kannten sich nicht alle Einwohner persönlich. Es war eher so, dass sie ziemlich gut darin waren, alle anderen ihr Ding machen zu lassen. Beispielsweise konnte es passieren, dass ein Pflegekind mit blauen Flecken, unbehandelten Mittelohrenentzündungen und Knochenbrüchen in die Schule kam, ohne dass es irgendjemandem aufzufallen schien. Wobei sie jetzt natürlich ungerecht war, denn so etwas kam nicht nur in Kiruna vor, sondern fast überall, denn sie lebten ganz einfach in einer Scheißwelt.

Ambra fuhr sich mit den Fingerspitzen über den Haaransatz. Die Mütze, die sie sich über die Haare gezogen hatte, kratzte, aber ihr war so verdammt kalt, dass sie es vorzog, sie aufzubehalten.

»Bist du von hier?«, fragte sie Tareq, obwohl sie die Antwort schon ahnte, denn er sprach keinen nennenswerten Dialekt.

»Nein, ich bin in Stockholm geboren, aber nach der Grundschule mit meiner Mutter hergezogen, weil sie einen Typen aus Norrland getroffen hat. Ich bin gerade auch nur zu Besuch, nach Neujahr muss ich wieder zurück nach Stockholm, wo ich eine Ausbildung zum Fotografen mache.«

»Aber du arbeitest schon für das Aftonblad?«

»Ich hatte Glück und hab ein paar Aufträge an Land ziehen können.«

Sie deutete seine Antwort so, dass er verdammt gut sein musste. Er sah aus, als hätte er seine Wurzeln im Mittleren Osten. Irak, tippte sie. Wenn seine Eltern Einwanderer waren, besaß er vermutlich kein Netzwerk, das ihm in der Branche weitergeholfen hätte, und mit diesem Hintergrund einen Job als Fotograf beim Aftonblad zu bekommen, war fast ein Ding der Unmöglichkeit, aber es war ihm offenbar gelungen.

»Du hast irgendwann mal eine Reportage für die Unterhaltung gemacht, oder?«, fragte sie, weil sie sich an Grace’ Worte erinnerte. »Wie hat’s dir da gefallen?«, fragte sie so neutral wie möglich. Ihrer Auffassung nach war der Gesellschaftsteil die reinste Kloake. Man musste über Events der High Society schreiben; eine journalistenunwürdige Tätigkeit, bei der man keine kritische Berichterstattung betreiben konnte und von allen mies behandelt wurde – sowohl von den VIPs als auch den eigenen Chefs. Es war grässlich, es sei denn, man hatte ein Faible dafür, Dokusoap-Stars zu jagen und Instagram-Accounts auszuspionieren.

Tareq strich mit den Fingern über die glänzende Oberfläche seiner Kamera. Er hatte maskuline Hände mit schwarzen Härchen darauf sowie kurz geschnittene, saubere Fingernägel. Und dann diese sanfte, höfliche Stimme. Er war ungemein sympathisch und attraktiv.

»Du warst auch mal dort, oder?«, fragte er zurück.

»Ja«, antwortete sie, ohne die Antwort näher auszuführen. Es war ihr schlimmstes Jahr als Reporterin gewesen. Das Einzige, was sie seither vom Leben erwartete, war, nie wieder in einem Gebüsch liegen und auf irgendeinen untreuen Promi warten zu müssen.

»So schlimm?« Er lachte, und seine schönen Augen blickten mitfühlend drein. »Ich fand es eigentlich ganz okay. Aber vielleicht nicht gerade das, was ich auf Dauer machen wollte«, fügte er hinzu.

Clever, gewandt und noch dazu diplomatisch. Tareq würde es weit bringen. Ambra verspürte den unangemessenen Impuls, ihre Mütze abzunehmen und ihre Haare zu richten.

Die Kellnerin kam mit Tareqs Bestellung zurück, und er schloss seine Finger um das beschlagene Glas mit Orangenlimonade.

»Fanta ist mein Laster«, sagte er und lächelte die Bedienung an, woraufhin sie ihn anschmachtete, als wollte sie auf der Stelle eine Familie mit ihm gründen.

Nachdem die Bedienung schweren Herzens ihren Tisch verlassen hatte, checkte Ambra gefühlt zum zehnten Mal das Display ihres Handys. In ihrem Inneren machte sich Rastlosigkeit breit. Rein wirtschaftlich betrachtet kostete sie hier oben nur Geld, solange sie keinen Text produzierte. Insgeheim überlegte sie bereits, worüber sie stattdessen schreiben könnte. Irgendwas mit Schnee vielleicht.

Tareq trank seine Fanta in einem Zug leer und stellte das Glas auf dem Tisch ab. Dann stand er auf und nahm seine Kamera und die Tasche mit den Objektiven an sich. »Ich wollte nur kurz reinschauen und Hallo sagen. Ist es okay für dich, wenn ich kurz wieder gehe? Ich hätte noch einiges zu tun, während wir warten. Schick mir eine SMS, sobald du was hörst.«

Ambra nickte und sah ihn mit langen, raschen Schritten verschwinden, woraufhin sie ihren Blick erneut übers Restaurant schweifen ließ. Das Scandic Ferrum lag mitten in der Stadt und schien eine Art sozialen Treffpunkt darzustellen.

An einem Tisch saßen mehrere Geschäftsleute und fröstelten in ihren viel zu dünnen Kostümen und Anzügen. An einem anderen fütterten Mütter in praktischer Winterkleidung ihre Kleinkinder mit Brei und Bananen. Am Tresen stand eine Gruppe Feuerwehrleute. Sie warf erneut einen Blick auf ihr Handy und klickte ihre letzte SMS an Grace an, während sie ungeduldig darauf wartete, dass eine Sprechblase mit Pünktchen darin auftauchen und ihr signalisieren würde, dass sie demnächst eine neue SMS bekäme. Sie wollte wissen, was sie tun sollte, wenn Elsa Svensson nicht auftauchte.

Doch nichts geschah.

Stattdessen loggte sie sich erneut auf Instagram ein und überlegte, ob sie Jill anrufen sollte, doch dann blinkte das Display ihres vibrierenden Handys auf. Endlich ließ Grace mit einer SMS von sich hören:

Schon Näheres gehört?

Ambra antwortete mit raschen, geübten Tippbewegungen:

Nein. Soll ich noch warten?

Sie hoffte fast darauf, dass Grace sie wieder nach Hause beordern würde.

Was allerdings nicht der Fall war:

Ja, warte. Ist Tareq schon aufgetaucht?

Ja.

Grace beendete die Kommunikation mit den Worten Halt mich auf dem Laufenden, und Ambra legte ihr Handy wieder zur Seite. Aus Frust trommelte sie mit den Fingern auf die Tischplatte. Hinzu kam, dass sie sich zittrig fühlte und ihr leicht übel war, weil sie viel zu viel Kaffee getrunken hatte. Sie warf erneut einen Blick in Richtung Tresen. Die Feuerwehrleute waren verschwunden. Jetzt stand ein Mann dort und bestellte sich gerade einen Kaffee. Er trug eine dicke, aufgeknöpfte Winterjacke, ein offen stehendes kariertes Hemd und darunter ein T-Shirt.

Während Ambra überlegte, was sie als Nächstes tun könnte, beobachtete sie den Mann. Er war ganz und gar nicht ihr Typ, doch ihr Blick wurde immer wieder zu ihm hingezogen, denn er hatte eine Präsenz, die sie allerdings an nichts festmachen konnte. Er stand groß gewachsen und schweigend da wie ein Bergmassiv. Mit breiten Schultern, langen Haaren und Bart. Puh, er sah aus wie ein Verbrecher, das reinste Klischee eines waschechten Norrländers, fehlte nur noch der Motorschlitten und das Gewehr. Ambra drehte sich weg, denn sie hatte noch nie etwas für machohafte Muskelprotze übriggehabt. Als der Mann mit seinem Becher Kaffee in ihre Richtung ging, warf sie einen weiteren flüchtigen Blick auf sein Äußeres. Auf dem Shirt unter seinem Hemd las sie: FBI. Sie linste auf die Zeilen darunter. Female Body Inspector stand dort in kleineren Lettern. Pfui Teufel, wie geschmacklos. Sie verzog angeekelt das Gesicht und konnte sich den Kommentar »Schickes Shirt« nicht verkneifen, als er gerade ihren Tisch passierte.

»Wie bitte?« Die Stimme des Mannes war dunkel und heiser. Er blieb stehen und starrte Ambra an, als wäre sie aus dem Nichts aufgetaucht. Anscheinend war er tief in Gedanken gewesen und hatte nicht einmal gemerkt, dass er sich unter Leuten befand.

In seinen Augen, die wohl die schwärzesten waren, die sie je gesehen hatte, konnte sie nicht das geringste Fünkchen Humor entdecken, und sofort begannen alle Alarmglocken in ihrem Kopf zu schrillen. Er sah Furcht einflößend aus.

»Haben Sie etwas gesagt?«, fragte er und blickte sie stirnrunzelnd an. Seine schwarzen Augen waren blutunterlaufen, und sein Bart wirkte ungepflegt. Und dann dieses T-Shirt mit dem chauvinistischen Spruch drauf. Es sollte ein Scherz sein, das war ihr klar, aber dafür hatte sie schon zu viele Artikel über Trafficking und Ehrenmorde geschrieben, über junge Frauen, die lediglich wie Objekte oder noch schlimmer behandelt wurden. Über ganz gewöhnlich anmutende Männer, die ihre Partnerinnen oder Ehefrauen aus Eifersucht ermordeten, nur weil sie der Meinung waren, sie und ihre Körper zu besitzen. Das Shirt war wirklich geschmacklos, auch wenn es nur als Scherz gemeint war.

Sie müsste sich eigentlich entschuldigen oder die Klappe halten und ihn einfach ignorieren. Doch stattdessen sagte sie: »Das ist echt nicht witzig, falls Sie das geglaubt haben.« Verdammtes Arschloch.

Der Mann erstarrte, und sie spannte sich reflexartig an. Bleib ruhig, Ambra. Er sieht gefährlich aus. Der Mann starrte sie weiterhin an, als hätte er nicht begriffen, was sie gesagt hatte. Angesichts seines eindringlichen Blicks lief ihr ein Schauer über den Rücken. Kurz sah es so aus, als wollte er etwas entgegnen, doch dann schüttelte er nur den Kopf und ging weiter.

Ambra sank auf ihrem Stuhl mit dem Rücken gegen die Lehne, und das Blut begann wieder in ihren Adern zu zirkulieren. Verdammt auch, was für eine heftige Begegnung. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen und ihm nachzuschauen. Irgendwas an seinem Blick und in seiner Haltung suggerierte ihr, dass er nicht der Typ war, der sich provozieren ließ. Ihre Nackenhärchen richteten sich auf, und sie ahnte, dass er sich irgendwo an einen Tisch hinter ihr gesetzt hatte. Verflucht, wie sie diese Stadt hasste.